# taz.de -- Eine Generation positioniert sich: Die jungen Aussteiger | |
> Fukushima hat die Schulen erreicht. Die Lehrer erinnern sich an | |
> Tschernobyl, die Schüler stimmen über den Ausstieg ab - und viele gehen | |
> erstmals demonstrieren. | |
Bild: Die Atomkatastrophe in Fukushima löste eine Schockwelle aus. | |
BERLIN taz | "Wisst ihr, wie viel Windräder man anstelle aller | |
Atomkraftwerke in Deutschland bräuchte?" Lehrer Stephan Warnatsch blickt in | |
die Klasse. Mai meldet sich zögernd: "Ich habe gelesen, dass sechzig | |
Windräder ein Kraftwerk ersetzen." Dave murmelt "mehr", hebt den Arm und | |
sagt: "Wenn die AKWs schon mal gebaut sind, dann sollten sie auch noch eine | |
Zeit lang Strom produzieren." Raunen. Mehrere melden sich. "Nee, das ist | |
nicht sicher! Und den Müll schießen wir ins All?" | |
Ahmed schlägt einen Volksentscheid vor, "dann kann man sehen, wie die | |
Mehrheit denkt". Atomenergie ist das Thema der Unterrichtsstunde. 30 | |
Oberstufenschüler der Friedensburg-Gesamtschule in Berlin-Charlottenburg | |
zerbrechen sich in Politischer Weltkunde den Kopf. Das Unglück in Fukushima | |
hat sie schockiert. | |
Kommt ihre Generation jetzt politisch in die Gänge? Fukushima könnte für | |
viele Jugendliche eine Initialzündung sein, sagt Mathias Albert, der das | |
Kapitel "Jugend und Politik" der 2010 veröffentlichten Shell-Studie | |
betreute. | |
Die Forscher registrierten gerade bei sehr jungen Menschen eine wachsendes | |
Interesse an gesellschaftlichen Fragen. "Es spricht viel dafür, dass wir am | |
Beginn eines neuen politischen Zyklus stehen", sagt Albert. | |
## Demo zum Kanzleramt | |
Am Montag nachdem die Reaktoren außer Kontrolle geraten waren, marschierten | |
rund 500 Schüler der Friedensburg-Schule spontan los, bis in Sichtweite des | |
Kanzleramts - für viele die erste Demo ihres Lebens. "Meine Eltern wollten | |
mir verbieten mitzugehen, sie hatten Panik, es könnte enden wie bei | |
Stuttgart 21", erzählt die 14-jährige Ina. "Aber ich würde das wirklich | |
gern noch mal machen." | |
Die Stimmung ist mit Fukushima gekippt: Dem ARD-Deutschlandtrend vom April | |
zufolge wollen zwei von drei Deutschen lieber eine höhere Stromrechnung als | |
längere AKW-Laufzeiten. Ein politische Debatte hat eingesetzt, ähnlich wie | |
nach Tschernobyl 1986. Damals erhielt die Anti-AKW-Bewegung einen enormen | |
Schub. Solche Bewegungen, sagt Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum | |
Berlin, der soziale Bewegungen erforscht, könnten wieder Zulauf erhalten - | |
gerade von Jugendlichen. | |
Diese sind laut ARD-Deutschlandtrend noch radikaler als Erwachsene für | |
einen raschen Ausstieg: Jeder Dritte, der jünger als 24 ist, will, dass | |
alle AKWs vor 2020 abgeschaltet werden, nur 13 Prozent würden den Konzernen | |
Zeit bis 2040 geben. | |
Stephan Warnatsch traktiert seine Schüler weiter mit Fragen. Welche | |
Alternativen gibt es zur Atomenergie? Wer zahlt dafür? Die Jungen und | |
Mädchen parieren geschickt. 1986 war Warnatsch so alt wie seine Schüler | |
heute, er sagt: "Tschernobyl - das war meine erste Assoziation nach dem | |
Unglück in Fukushima." Damals haben sie gegen Atomkraft demonstriert, "das | |
und vieles andere hat uns bewegt". | |
In den neunziger Jahren ging der Bewegung ein wenig die Puste aus. Den | |
Shell-Jugendstudien zufolge war der Anteil politisch interessierter | |
Jugendlicher seit 1984 um 20 Prozentpunkte gesunken - auf den Tiefststand | |
von 34 Prozent im Jahre 2002. | |
Seitdem geht er wieder leicht nach oben. Doch obwohl gerade junge Leute für | |
umweltpolitische Themen offen seien, ließen sie sich nicht gern | |
vereinnahmen, sagt Thomas Gensicke vom Sozialforschungsinstitut infratest. | |
Nur 17 Prozent der Jugendlichen, die sein Institut befragte, wollten sich | |
fest in Parteien engagieren. | |
## Zuwachs für Grüne Jugend | |
Als Schwarz-Gelb im Herbst die AKW-Laufzeiten verlängerte, haben die Grünen | |
danach fast 5.000 Mitglieder hinzugewonnen - das Neumitglied ist im Schnitt | |
jedoch Anfang 40. Auch die parteinahe Grüne Jugend erfuhr seit 2009 einen | |
kräftigen Zuwachs um 40 Prozent - Neuanmeldungen träfen derzeit aber auch | |
nicht körbeweise ein, berichtet Bundessprecherin Gesine Agena. | |
Organisationen wie Greenpeace sehen bessere Chancen. Unnolf Harder ist für | |
die Koordination der Jugendgruppen zuständig und erhält seit September | |
verstärkt Anfragen von Leuten, die eine Gruppe gründen wollen. Über 40 | |
Gruppen sind derzeit aktiv. | |
Aktionsformen wie Flashmobs oder Die-ins (kollektives Dahinsiechen infolge | |
tödlicher Strahlung) haben Zulauf. Das lasse auf ein erhöhtes | |
Mobilisierungspotenzial schließen, berichtet Harder. "Da wird sich sicher | |
noch mehr tun." | |
Im größten deutschen Umweltverband, BUND, sind 43.000 Mitglieder jünger als | |
27 Jahre. "Über den Verteiler sind noch viel mehr Leute mobilisierbar", | |
sagt der Geschäftsführer der BUND-Jugend Gert Sanders. Ob daraus auch ein | |
politisches Bekenntnis wird, wagt er nicht vorherzusagen. | |
Die Schüler der Friedensburg-Gesamtschule sind sich jedenfalls einig. Als | |
abgestimmt wird, ob in zwanzig Jahren alle AKWs abgeschaltet sein sollen, | |
heben sich alle 30 Hände - und das, obwohl der Energieriese Eon warnt, dass | |
sich 4.000 Windräder drehen müssten, um ein AKW zu ersetzen. | |
15 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
Schwerpunkt Stuttgart 21 | |
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