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# taz.de -- Vor der Landtagswahl in Bremen: Träge währt am längsten
> Seit das Bremer Rathaus steht, regiert darin ein Bürgermeister der SPD.
> Werder Bremens Trainer Thomas Schaaf kam kurz darauf in den Stadtstaat am
> Nordpol.
Bild: Bremer sind mit wenig zufrieden: Werder-Fans feiern vor dem Rathaus.
BREMEN taz | Als ich vor vielen Jahrzehnten nach Deutschland kam, freute
ich mich, dass ich zufällig Bremen erwischt hatte. Hier kannte ich
wenigstens jemanden, und zwar einen Esel, einen Hund, eine Katze und einen
Hahn. Das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten lernt man in der Türkei
bereits in der zweiten Klasse.
Aber ich war sehr enttäuscht, als ich die mickrige Bronzefigur im Bremer
Zentrum direkt neben dem sehr hübschen Rathaus sah. Genau wie all meine
Bekannte und Freunde, die nach Bremen kamen, um mich zu besuchen. Damit
sich wenigstens ihre Enttäuschung in Grenzen hält, warne ich meine Gäste
vorher und bereite sie seelisch auf den größten Reinfall ihres Lebens vor.
Einige von denen werden durch meine Ausführungen noch neugieriger und
wollen die winzige Statue erst recht sehen und witzeln dabei: "Vielleicht
sind die Viecher ja in der Zwischenzeit schon ein bisschen gewachsen. Es
hat doch hier sehr viel geregnet in den letzten Tagen …"
Aber die ollen Bremer Stadtmusikanten ändern sich nie! Genau wie unser
Bürgermeister, der direkt nebenan in dem uralten Rathaus sitzt, das im Juli
2004 von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Wir haben nämlich
seit gefühlt 1.000 Jahren einen SPD-Bürgermeister in Bremen. Als ich vor
vielen Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen wollte, um wählen
zu können, sagten mir alle: "Das kannst du dir sparen! Ob du in Bremen
wählst oder nicht, ist ungefähr genauso wichtig wie wenn in deinem Dorf in
Anatolien ein Hund bellt! Es wird nichts daran ändern, dass wir auch
weiterhin einen SPD-Bürgermeister haben!"
Das hört sich auf den ersten Blick natürlich nicht sehr demokratisch an,
und es erinnert irgendwie an kommunistische Länder, wo die Staatspartei
auch immer mit 99,9 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. In Bremen hat
die SPD zwar noch nie 99,9 Prozent bekommen - die Ergebnisse werden wir
hier eben nicht so offensichtlich getürkt. Jedenfalls hat sie noch nie
jemand dabei erwischt!
## Die Bürger wählen
Die Menschen hier gehen einfach hin und wählen Wahl für Wahl einen
SPD-Bürgermeister in unser Weltkulturerbe. Wer weiß, vielleicht ist ein
ständig im Haus anwesender, grauhaariger SPD-Bürgermeister eine der
Bedingungen für diesen schicken Weltkulturerbetitel und darf deshalb auf
keinen Fall ausgetauscht werden, um diese sehr werbewirksame Bezeichnung
nicht aufs Spiel zu setzen.
Apropos Spiel: In Wirklichkeit scheint das Ganze mehr ein Indiz für diese
typische hanseatische Trägheit zu sein, die Dinge einfach so laufen zu
lassen, wie sie sind. Denn der Trainer von Bremers Fußballmannschaft wird
auch nie ausgetauscht.
Wenn mich jemand in der Türkei fragt, wo ich denn in Deutschland lebe,
antworte ich nicht ganz ohne Stolz: "Bremen!" - "Wooww! Du kommst aus
Werder-Bremen?", werde ich daraufhin sofort gefragt. Die Menschen dort -
oder auch woanders auf der Welt - haben in den letzten Jahrzehnten den
Namen Bremen nur in Verbindung mit Werder gehört und sind deshalb
mittlerweile der Ansicht, diese Stadt am Nordpol heißt Werder-Bremen, und
Thomas Schaaf ist ihr ewiger Bürgermeister.
So abwegig ist dies eigentlich nicht, Thomas Schaaf würde
selbstverständlich gewählt werden, falls er kandidieren sollte. Selbst der
Konditionstrainer oder der Zeugwart würden sofort als Bürgermeister
gewählt, wenn die SPD sie als Kandidaten aufstellen würde. Aber das will
hier natürlich kein Mensch. Ein guter Werder-Konditionstrainer ist den
Bremern selbstverständlich viel wichtiger als ein guter Bürgermeister. Denn
der Laden, ich meine, das Unesco-Rathaus, läuft vermutlich auch von allein,
aber den Spielern muss doch jemand Woche für Woche Beine machen, sonst
würde der Verein jämmerlich absteigen.
Hinzu kommt, dass unser Landesvater, der in Wirklichkeit ja nur ein
Bürgermeister ist, viel weniger verdient als all die anderen Landesväter
aus dem reichen Süden der Republik und erst recht weniger als ein
Fußballtrainer. Aber wenn die Bürgermeister richtig alt geworden sind, dann
kaufen wir im Nachhinein sehr fleißig deren Bücher und machen sie zu
Bestsellerautoren, damit sie ihre magere Rente noch ein bisschen aufbessern
können. Obwohl sie keine spannenden Romane, sondern nur Sachbücher über
alte Menschen schreiben (wie Henning Scherf, der Vorgänger des amtierenden
Bürgermeisters Jens Böhrnsen).
Angesichts des Mangels an Spannung und Abwechslung im norddeutschen
Plattland Bremen - weder bei den Wahlen noch beim Fußball oder in den
Büchern von Exbürgermeistern - haben die fürsorglichen Behörden ein recht
skurriles Unterhaltungsspiel entwickelt, das bei der hiesigen Bevölkerung
auf großes Interesse gestoßen ist.
## Die Passanten schlittern
Das höchst therapeutische Spielgerät in der Fußgängerzone wurde von den
Verantwortlichen extra für die dunklen Wintertage entwickelt, damit die
Selbstmordraten nicht wie in den anderen nördlichen sonnenarmen Ländern wie
Finnland oder Norwegen wegen kollektiver Depriphasen in die Höhe schießen.
Diese aus extrem glattem Edelstahl angefertigte, 1.200 Meter lange Anlage,
die sich die Behörden ein Vermögen kosten ließen, dient nebenbei auch als
Kanalabdeckung, damit darunter das Regenwasser abfließen kann. Und es wurde
ganz bewusst kein gewöhnlicher Entwässerungskanal mit Gullydeckeln
installiert, sondern einer mit einer 1.200 Meter langen Abdeckung aus
hochrutschigen Edelstahlblechen. Hauptsächlich wurde das Ganze natürlich
nicht wegen des Regenwassers, sondern zum Amüsement der Bremer Bevölkerung
angefertigt, wenn ahnungslose Touristen bei kaltem Wetter auf der
spiegelglatten Oberfläche abrutschen und in hohem Bogen auf den Hintern
klatschen.
Obwohl die Verkehrsbehörde für die Weiterentwicklung dieses
Winterspektakels erneut 450.000 Euro ausgeben und jährlich weitere 300.000
Euro investieren will, verstehen die langweiligen Lokalpolitiker von den
Grünen wie immer null Spaß und spielen den absoluten Spielverderber: "Wir
können die ahnungslosen Menschen doch nicht einfach weiter ausrutschen
lassen", protestieren sie.
## Die Grünen meckern
Aber so sind die Grünen eben - alles Interessante und Spannende ist denen
ein Dorn im Auge, wollen sie sofort verbieten lassen: erst die hübschen
Atomkraftwerke und jetzt unsere lustigen Olympischen-Rutsch-Spiele, die
mangels verschneiter Alpen mitten in der Bremer Innenstadt stattfinden
müssen.
Ich selbst sitze seit Jahren von morgens bis abends auf einer der Holzbänke
in der Fußgängerzone und versuche total gespannt, keine einzige Sekunde
dieses Spiels zu verpassen. Im vergangenen Winter wurde es von cleveren
Frauen mehr und mehr als Prüfmethode für ihren aktuellen Beziehungszustand
genutzt.
Die Damen kamen allesamt mit dünnen High Heels an den Füßen und dick
verpackten Kerlen an den Händen angestöckelt und taten so, als würden sie
auf den spiegelglatten Rutschplatten zum Straucheln kommen und drohten auf
die Nase zu fallen. Wenn der Angebetete selbst Kopf und Kragen riskierte,
um die Prinzessin zu retten, dann war der doch kein Frosch. Aber wenn der
Möchtegernprinz in völliger Panik zur Seite sprang, damit die Frau nicht
seinen feinen Zwirn mit dreckigem Schneematsch vollsaut, während sie
unsanft auf dem glatten Metallstreifen landete, dann wurde er zum Teufel
geschickt, und die Frau humpelte zum Notarzt.
Ich selbst bin auch zweimal böse abgerutscht, als ich die Liebe meiner
Kumpels getestet habe. Ergebnis: Unser Staplerfahrer Hans hat mich sehr
lieb, was ich von den beiden Verrätern Hasan und Ahmet nicht unbedingt
behaupten kann. Aber mittlerweile scheint die Bremer Bevölkerung ein wenig
das Interesse an diesem Rutschspiel verloren zu haben. Die Masse lechzt
nach etwas Neuem!
Die Partei, die etwas ähnlich Kreatives wie die Schlitterschienen für das
kommende Jahr versprechen würde, die hätte zum ersten Mal in der Bremer
Geschichte die Chance, der SPD einigermaßen Konkurrenz zu machen. Aber sie
schwafeln alle was von Arbeitsplätzen, Schuldensperre oder Atomausstieg …
Die scheinen aus der Geschichte nichts gelernt zu haben - das Volk will
Brot und Spiele!
20 May 2011
## AUTOREN
Osman Engin
## TAGS
Kolumne Alles getürkt
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