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# taz.de -- Landtagswahl in Bremen: Wählen lernen
> Erstmals dürfen bei der Bremer Landtagswahl alle ab 16 wählen. Das haben
> sich die Jugendlichen selbst erkämpft. Und feiern lokale Politiker wie
> Superstars.
Bild: Bremer Realschüler lernen Demokratie.
BREMEN taz | Hans-Wolfram Stein hat vorne in der Mitte Platz genommen,
funkelnde Augen, blitzende Glatze und ein breites Lächeln, das abstrahlt in
die Aula. In die strömen noch immer Mädchen und Jungs, immer mehr: Die
Flügeltür zur Mensa kann nicht zuschwingen. Ein leicht fischiger
Kantinengeruch überlagert das klassische Bohnerwachs-Staub-Aroma, mehr
Stühle tun not.
Es ist 11.30 Uhr, und es beginnt in der Gesamtschule Ost (GSO), in Bremens
größter Schule, die vielleicht bestbesuchte Podiumsdiskussion zur
Bürgerschaftswahl am Sonntag. Vor lauter Jugendlichen von 16, 17 Jahren.
Alles Wähler.
Denn bei der Bremer Landtagswahl haben erstmals alle ab 16 Jahren
Stimmrecht. Diskutiert wird das auch in Rheinland-Pfalz und Berlin, in
Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Aber Gesetz ist es eben nur hier, seit
Herbst 2009. Laut Landeswahlleiter vergrößert sich dadurch die Zahl der
Stimmberechtigten um rund 10.000.
Der Antrag stammte von der rot-grünen Koalition, die Linke war auch dafür,
ebenso wie die fünf FDPler; war also eine klare Sache am Ende. Aber am Ende
einer langen Geschichte. Und in der spielt dieser Hans-Wolfram Stein eine
wichtige Rolle, der da vorne gut gelaunt in der Mitte sitzt zwischen den
fünf, na ja: ProfipolitikerInnen, wenn man davon in Bremen mit seinem
Halbtagsparlament sprechen mag.
Neben ihm die Schülerin heißt Sisse Tunc. Sie moderiert. Manchmal springt
Stein ihr bei. Nicht dass sie das nötig hätte. "Mittlerweile", sagt sie,
"habe ich da schon Erfahrung." Bloß ist dieser Herr Stein halt einer, den
mitunter die Lust überkommt, sich einzumischen. Und dann tut ers halt auch.
## Schwache Gegenargumente
Stein ist seit Ende der 1990er Jahre Regionalkoordinator des
Bundeswettbewerbs "Demokratisch Handeln". Das ist er auch jetzt noch, mit
61, als Ruheständler; und der Lust am Einmischen nachzugeben, das ist
politische Bildung, wie Stein sie praktiziert. Und sie hat Wirkung. Mit
einem Kurs hat er, vor zwei Jahren, die Cafés der Flaniermeile an der Weser
auf Barrierefreiheit getestet: Alle fielen durch. Die Untersuchung hat dann
die neue Landesbauordnung beeinflusst.
Oder 2006, da hat er mit SchülerInnen die Auswirkungen von Reichtum und
Armut auf die Stadtteile untersucht: Die Zahlen fanden Eingang in Bremens
Bundesratsinitiative für höhere Hartz-IV-Regelsätze. Und so wars eben auch
Steins Politikkurs, der damals, im Juli 99, vom sozial benachteiligten
östlichen Stadtrand auf den Markt zog, vor die Bürgerschaft, zur
Landtagssitzung.
Und dort vertraten die SchülerInnen dann den ins Parlament eilenden
Abgeordneten den Weg, höflich, aber bestimmt. Drückten ihnen Zettel in die
Hand. Quatschten sie an, ernteten abweisende Gesten, freudigen Zuspruch und
Beteuerungen: "Wir wollten das ja", druckste Jens Böhrnsen, seinerzeit
gerade zum Chef der SPD-Fraktion gekürt - bloß "unser Partner", sagte er,
"der hatte damit Schwierigkeiten." Da war der Vertrag über vier weitere
Jahre große Koalition gerade einen Monat alt.
Es war kein unvorbereiteter Auftritt gewesen. Die SchülerInnen waren zuvor
schon eingestiegen in die Analyse der niedersächsischen Kommunalwahlen, wo
es das Stimmrecht ab 16 bereits gab. "Wir hatten uns die Gegenargumente
angeschaut", sagt Sabrina Schaar, die damals dabei war. "Die hatten uns
nicht überzeugt." Das Echo war riesig, Zeitungen, Fernsehen, Radio. Die
Fraktionen luden die SchülerInnen ein, schließlich befragte sie der
Verfassungsausschuss, Seit an Seit mit dem berühmten Jugendsoziologen Klaus
Hurrelmann, der schon damals sagte: Die können das.
Und dann schwelte die Debatte fort, ewig fast. "Ich hätte nie gedacht, dass
die das irgendwann beschließen", sagt Schaar. Inzwischen ist sie 29 und
studiert. "Ich finde das auch immer noch richtig", sagt sie, und dass die
Mühlen langsam mahlen. "Aber sie mahlen."
## Ungeahnte Leidenschaften
Die Gegenargumente waren schon in den 90ern alt. Sie halten sich hartnäckig
- selbst die blödesten: Gern wird gesagt, dass es ja auch den Führerschein
erst ab 18 Jahren gebe - als könnte man besoffen gegen den Baum wählen.
Oder: dass Heranwachsende doch schließlich auch nur nach
Jugendgerichtsgesetz strafrechtlich belangt werden - als dürfte eine
geheime Stimmabgabe Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen sein. Oder:
dass den Jugendlichen die politische Bildung fehlt. Da kann Sisse Tunc nur
lachen: "Zu Hause", erzählt sie, "habe ich das neue Wahlrecht meinen Eltern
erklärt." Dass man fünf Stimmen hat, dass man sie beliebig kombinieren kann
oder alle einem Kandidaten geben. "Die wussten davon nichts." Sie hat das
in der Schule gelernt.
Frenetisch ist der Beifall in der Aula der Gesamtschule Ost, als die fünf
Halbprofipolitiker vorgestellt werden. Die dürfen sich wie frisch gevotete
Superstars fühlen. Und solche Momente gabs nicht oft im faden Bremer
Wahlkampf. Es fehlt halt der Gestaltungsspielraum: Dass Bremen
Haushaltsnotlageland ist, steht sogar im Grundgesetz. CDU und FDP
versprechen härteres oder qualitätsvolleres Sparen, SPD und Grüne
schmerzfreies. Hier aber branden ungeahnte Leidenschaften auf, es gibt
Pfiffe und Gegröle, einer Lehrerin wird das zu laut.
Sie blickt streng nach hinten: Es gibt ja für die SchülerInnen hier einen
besonderen Grund, sich für diese Wahl zu begeistern. Sie haben eine Wette
laufen, mit Werder-Verteidiger Sebastian Prödl: Nämlich dass die Gruppe der
16- bis 18-Jährigen eine bessere Beteiligung schafft als die Alterskohorte
der Werder-Profis. Die sind zwischen 21 und 35 Jahre alt.
Klar hat das Stein mit angestoßen und promotet. Jetzt nehmen schon 25
Bremer Schulen daran teil. Prödl wird verlieren und muss dafür eine Stunde
unterrichten. Vermutlich jubeln aber ein paar dort hinten wirklich mehr um
des Lärms willen.
Die Lehrerin sichtet noch einmal die Reihen. Sie legt den Zeigefinger auf
die Lippen, zieht die Brauen zusammen. Ein bisschen wirkts. Bei der
Jungliberalen ist der Beifall schon deutlich leiser. "Die FDP ist doch eh
hinüber!", zischt es aus der Mitte. Gelächter. Das ist bei prognostizierten
3 bis 4 Prozent keine so verkehrte Einschätzung. Bei den Fragen zu
Atomkraftausstieg, zur Lehrstellensituation und zum Wahlrecht herrscht
Ruhe. Und für die Statements gibts Applaus und Pfiffe.
## Für Selbstbestimmung
Gut zehn Kilometer weiter westlich, in Bremens szenigem Steintorviertel,
wird die Sache mit dem Stimmrecht deutlich nüchterner bewertet. Hier
residiert die GesamtschülerInnenvertretung (GSV) in einer ruhigen
Seitenstraße. In der alten Stadtvilla treffen sich alle Bremer
SchülervertreterInnen ab der fünften Klasse regelmäßig. Die Tür ist
eingerahmt von Aufklebern "für Schulstreik" oder "gegen Rassismus". Jordi
Ziour öffnet in schlabbriger Hose und Trainingsjacke. Er ist 17, gehört zum
GSV-Vorstand. Im Flur stehen Farbeimer und Sprühdosen, daneben selbst
gemalte Transparente und Bettlaken auf Vorrat. Es riecht leicht nach Farbe.
Auf dem Boden hinter einer Kiste steht ein gerahmtes Poster: "Mehr
Demokratie im Schulgesetz."
Das ZDF hatte kürzlich eine Einladung an die GSV geschickt, zu einer
Wahlsendung. "Da hatten wir unsere Positionen noch nicht abgestimmt", sagt
Ziour. Zur Bürgerschaftswahl gabs nur von der Linken einen Brief. Und
vergangenen Monat, beim jährlichen Infotag der GSV, hatte die Behörde zur
Bedingung gemacht, dass es einen Wahl-Workshop gibt. Den hat der Herr Stein
durchgeführt. Aber der zu Antirassismus kam deutlich besser an.
Eine Diskussion zum Thema hatte die GSV wohl auch selber machen wollen,
ursprünglich. Aber dann war zu viel zu tun: Die Mobilisierung gegen den
NPD-Aufmarsch, wochenlang nach acht Stunden Unterricht noch drei Stunden
Orga-Treffen. Da fehlt dann die Zeit fürs Landtagsthema. Und ehrlich
gesagt: Man ist auch etwas skeptisch gegenüber der repräsentativen
Demokratie. "Wir sind für Selbstbestimmung, basisdemokratisch."
Man macht schließlich so seine Erfahrungen: In der Bildungsdeputation,
einem gemischten Gremium von Parlament und Verwaltung, hat die GSV
Rederecht. Schon länger nimmt sie es nicht mehr wahr. "Wir werden da nur
belächelt." Jordi Ziour legt die Füße auf einen Tisch. "Egal wen ich wähle,
eine emanzipierte Gesellschaft werde ich nicht erreichen", sagt er. Wählen
geht er trotzdem am Sonntag. "Das ist besser, als es nicht zu tun", sagt
er. "Auch wegen der Nazis."
19 May 2011
## AUTOREN
J.-P. Baeck
B. Schirrmeister
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