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# taz.de -- Debatte Spanien: Aufbruch der Vielen
> Europas repräsentative Demokratien kriseln. Spanien zeigt, dass davon
> nicht nur die Rechtspopulisten profitieren müssen. Die Macht der
> Finanzmärkte kann gebrochen werden.
Bild: Demonstranten in Barcelona fordern am Samstag den Rücktritt des katalani…
Die Massenproteste von Madrid und Barcelona haben viele überrascht. Die
spanische Gesellschaft hatte mit der Transición, dem Ende der 1970er-Jahre
zwischen Franquisten, Königshaus und Linksparteien ausgehandelten
Kompromiss zur Modernisierung des Landes, eine rasante Entpolitisierung
erlebt. Und ausgerechnet diese Gesellschaft bringt heute neue Formen
politischer Bewegung hervor?
Neu daran ist, dass der Widerstand gegen die Umverteilung von unten nach
oben mit einer radikaldemokratischen Praxis im öffentlichen Raum verbunden
wird. Man demonstriert gegen die Sparprogramme der spanischen Regierung,
mit denen Spekulationsvermögen und - nicht zuletzt deutsche - Banken
gerettet werden sollen. Man demonstriert aber auch gegen die real
existierende Demokratie. "Wir lassen nicht länger zu, dass andere für uns
sprechen. Wir wollen selber sprechen", lautet eine der zentralen Losungen
der Revolte.
Die Demonstrierenden selbst haben ihren Protest in eine Reihe mit den
arabischen Bewegungen gestellt und die Puerta del Sol als europäischen
Tahrirplatz bezeichnet. Keine schlechte These: Soziale und politische
Teilhabe sind auch in Europa uneingelöste Versprechen. Doch wohl noch
interessanter als der Bezug zur arabischen Revolte sind die Parallelen zu
den Bewegungen, die den lateinamerikanischen Kontinent in den vergangenen
20 Jahren verändert haben.
## Es begann in Lateinamerika
Auch in Argentinien, Venezuela oder Kolumbien entzündete sich der
gesellschaftliche Widerstand an einer Austeritätspolitik, mit der die
Kosten der ökonomischen Krise nach unten abgewälzt wurden. Auch dort
richtete sich die Wut gegen die Repräsentation der politischen und medialen
Apparate: "Sie sollen alle abhauen", lautete das Motto in Argentinien 2001.
Und in Venezuela stürmten die Bewohner der Armenviertel 1989 ganz einfach
die Einkaufsmeilen, um sich jenen Wohlstand zu holen, den man ihnen immer
versprochen hatte.
Und schließlich war, wie heute in Spanien, die politische Linke vor den
lateinamerikanischen Revolten völlig marginalisiert gewesen. Das scheint
kein Zufall zu sein: Gerade weil niemand beanspruchen konnte, die
Ausgeschlossenen zu repräsentieren - weder Politik noch Gewerkschaften,
Medien oder Intellektuelle -, fand die Gesellschaft, zumindest phasenweise,
zum Kern der Demokratie zurück: zur Artikulation der Vielen.
Die Krise der Repräsentation hat nun offensichtlich also auch Westeuropa
erreicht. Aber woran liegt das?
Der britische Politologe Colin Crouch erklärte den Legitimationsverfall der
politischen Systeme in seinem vielbeachteten Essay "Postdemokratie" (2005)
mit dem Erstarken der ökonomischen Lobbys, die den demokratischen Prozess
gezielt unterlaufen. Das ist nicht falsch und bleibt doch an der
Oberfläche. Folgt man Crouch, dann war nämlich in den Zeiten des
Wohlfahrtsstaats noch alles weitgehend in Ordnung.
## Zwei-Klassen-Demokratie
Das Problem aber ist grundsätzlicherer Natur. Da ist einerseits die
Tatsache, dass die liberale Demokratie von einem Widerspruch durchzogen
wird: Politische Gleichheit und Freiheit, wie sie die Demokratie
postuliert, sind mit der real existierenden Ungleichheit im Kapitalismus
nicht wirklich vereinbar. Am konkreten Beispiel wird das deutlich: Für
Kapitaleigentümer hat die Presse- und Meinungsfreiheit eine reale
Bedeutung; für den Hartz-IV-Empfänger hingegen handelt es sich um ein
formales Recht. Denn auf politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse
kann er faktisch keinen Einfluss nehmen.
Die bürgerlich-liberale Demokratie bleibt in dieser Hinsicht gepanzert.
Parteien und parlamentarische Apparate sorgen dafür, dass der Widerspruch
zwischen sozialer Herrschaft und politischer Gleichheit nicht eskaliert.
Die Anliegen der Mehrheit werden zwar nicht vollständig ignoriert, aber sie
werden herrschaftlich gefiltert. Als Wähler der Reformparteien erleben wir
das regelmäßig: Die von uns gewählten Regierungen machen jene Politik, die
wir doch eigentlich abgewählt haben. Rot-Grün führte Deutschland in den
Krieg und setzte Hartz IV durch, in Berlin hat der rot-rote Senat die
Privatisierung des öffentlichem Eigentums forciert.
Darüber hinaus haben wir es aber auch mit einem allgemeinen Widerspruch zu
tun. Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos, der in den
letzten Jahren zur führenden Stimme kritischer Theorie in Lateinamerika
aufstieg, beschreibt unsere Gesellschaften als "Demokratien geringer
Intensität", in denen "Inseln demokratischer Beziehungen in einem Archipel
der (ökonomischen, sozialen, rassischen, sexuellen, religiösen) Tyranneien"
angesiedelt sind.
## Revolte gegen die Finanzmärkte
Die demokratische Revolution steht somit auch nach über 200 Jahren noch am
Anfang. Aus all diesen Gründen fallen politischer Diskurs und Realität
immer weiter auseinander.
Bislang hatte man den Eindruck, dass Europa auf diese Krise von
Repräsentation und Politik nur mit unsolidarischen, rassistischen Reflexen
zu reagieren weiß. Nur der Rechtspopulismus, der die Angst vor dem sozialen
Abstieg gegen die gesellschaftlich Marginalisierten - gegen Arbeitslose,
Sozialhilfeempfänger, Migranten - richtet, hat bisher von der Krise
profitiert. Die "spanische Revolution" zeigt nun einen anderen Ausweg auf.
Es ist möglich, solidarisch zu handeln und mit eigener Stimme zu sprechen.
In Lateinamerika haben die Revolten der letzten zwanzig Jahre, ebenso wie
jetzt in Nordafrika, zu einem Bruch des politischen Systems geführt. Ein so
eindeutiger Ausgang zeichnet sich in Europa nicht ab. Tatsächlich ist
völlig unklar, ob und wie es mit der "Bewegung 15-M" weitergeht.
Trotzdem hat diese Bewegung, in Spanien wie anderswo in Europa, eine klare
Perspektive. Wenn der Widerstand, der sich in Spanien und Griechenland zu
artikulieren begonnen hat, sich ausbreitet, kann die Umverteilungspolitik
der EU, die die Finanzkrise von den Bedürftigen bezahlen lässt, zu Fall
gebracht werden. Die Revolte hat das Potenzial, die Macht der Finanzmärkte
brechen. Das ist mehr, als sich jede Reformregierung heute realistisch
vornehmen kann.
5 Jun 2011
## AUTOREN
Raul Zelik
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