# taz.de -- Ein Jahr im Schloss Bellevue: Der leise Herr Wulff | |
> Christian Wulff ist das Gespräch mit Bürgern wichtiger als der große | |
> Auftritt. Doch in der Sarrazin-Debatte bewies er, dass er eine Linie | |
> verfolgt. Eine Bilanz. | |
Bild: Mann der eher leisen Worte: Bundespräsident Christian Wulff. | |
BERLIN taz | Über den Rasen hinter dem ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR | |
in Berlin-Mitte rollt eine Erdkugel aus Gummi. Wissenschaftler aus Kamerun, | |
Italien oder den USA unterhalten sich bei Orangina, Kinder tollen auf einer | |
Hüpfburg herum. Dieser Dienstagmorgen ist ein idealer Präsidententermin. | |
Christian Wulff, der genau vor einem Jahr ins Amt gewählt wurde, hat | |
Zusammenhalt und Integration zur Leitidee seiner Präsidentschaft gemacht. | |
Eine bessere Metapher als das Jahrestreffen der Humboldt-Stiftung mit 600 | |
ForscherInnen aus aller Welt findet sich dafür kaum. | |
Die Anwesenden stünden für das Arbeiten an den Lösungen für große Fragen, | |
sagt Wulff vorn am Rednerpult. Er flicht Erfahrungen aus seiner | |
Lateinamerika-Reise ein, er dankt den Forschern für ihr Interesse an | |
Deutschland. Er redet ruhig, die Linke gestikuliert sparsam, der Anzug | |
sitzt perfekt. Wie Wulffs ganzer Auftritt. | |
## Schlechter kann ein Präsident nicht starten | |
Vor einem Jahr hatte der [1][völlig überraschende Rücktritt des tief | |
verletzten Horst Köhler] dem damaligen Ministerpräsidenten von | |
Niedersachsen den Weg ins Amt bereitet, die Umstände waren alles andere als | |
glücklich. Wulff selbst brachte sich wohl auch aus der Erkenntnis heraus | |
ins Spiel, angesichts der Merkel-Ära nicht mehr Kanzler werden zu können. | |
Im politischen Berlin galt er vor allem deshalb als aussichtsreicher | |
Kandidat, weil die Kanzlerin so einen Konkurrenten wegloben konnte. Das | |
Volk hätte laut Umfragen lieber den Charismatiker Joachim Gauck gehabt. | |
Wulff schaffte die Mehrheit erst im dritten Wahlgang. Schlechter kann ein | |
Präsident nicht starten. | |
Aus dieser No-Win-Situtation heraus hat sich Wulff in diesem einen Jahr ins | |
Amt getastet, er ist dabei ein paar Mal gestolpert. Wulff ist ein leiser | |
Präsident, einer, der viel nach innen wirkt, und der den wirklich großen, | |
historischen Auftritt noch nicht hatte. Doch der kann noch kommen. Und | |
Wulff hatte auch Erfolge. | |
Vor allem seine Rolle in der aufgeheizten Integrationsdebatte nach Thilo | |
Sarrazins Buch bleibt hängen. Während Köhler sein Image vom Anti-Poltiker | |
pflegte, hatte Wulff anfangs Mühe, den Mantel des Parteipolitikers | |
abzulegen - und den des Präsidenten umzulegen. Wulff appellierte kurz nach | |
Amtsantritt indirekt an den Bundesbank-Vorstand, Konsequenzen zu ziehen - | |
ohne einzupreisen, dass der Präsident selbst bei der Entlassung formal | |
mitspielt. Sein Staatssekretär musste die verfahrene Situation bereinigen. | |
## "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland" | |
Nach diesem Fehler aber tat Wulff genau das Richtige. Er setzte in seiner | |
[2][Rede am 3. Oktober], 20 Jahre nach der deutschen Einheit, ein | |
deutliches Signal. "Ein freiheitliches Land lebt von Vielfalt", sagte Wulff | |
in der Bremen Arena. Deutschland müsse Verschiedenheit nicht nur aushalten, | |
sondern wollen. Dann kam der viel zitierte Satz: "Der Islam gehört | |
inzwischen auch zu Deutschland." Ebenso wie das Christen- und Judentum. | |
Obwohl der Präsident im Prinzip Binsenweisheiten aussprach, war es endlich | |
eine klare Zurückweisung miefiger, von Sarrazin befeuerter Vorurteile. | |
Solch ein Wort hatte in der verdrucksten Debatte der Parteien gefehlt. Das | |
Bundespräsidialamt bekam 4.000 Briefe und E-Mails, deutsche Muslime | |
bedankten sich persönlich. Im türkischen Parlament wiederholte Wulff wenig | |
später diese Botschaft, und er fügte hinzu, christliche Minderheiten | |
müssten in der Türkei natürlich auch ihre Religion "in Würde und Freiheit" | |
ausüben können. Dieses Eintreten für Toleranz muss man Wulff zugute halten. | |
Seitdem allerdings plätschert seine Präsidentschaft dahin. Wulff sagt bei | |
vielen Anlässen wohl gesetzte Sätze, denen niemand wiedersprechen kann, ob | |
in Ausschwitz im Januar, oder auf dem Bankentag im März. Außerdem | |
entstaubte er mit dem sicheren Gespür des Politikprofis die präsidiale | |
Inszenierung, indem er seine 17-jährige Tochter mit nach Israel nahm oder | |
seine Weihnachtsansprache vor Kindern und Ehrenämtlern hielt. Doch nach dem | |
Islam-Satz blieb kein zweiter mehr haften, obwohl es in Zeiten, in denen | |
das Auseinanderbrechen Europas debattiert wird, viel zu sagen gäbe zum | |
Zusammenhalt. | |
Wulff aber jetzt schon den Stempel "der unsichtbare Präsident" zu | |
verpassen, wäre zu einfach. Roman Herzog hat seine Ruck-Rede im dritten | |
Amtsjahr gehalten, Johannes Rau wandelte sich ebenso spät vom bedächtigen | |
zum politischen Präsidenten, der beherzter sprach. Wulff braucht noch Zeit. | |
## 300 Termine, 30 Reisen | |
Ein fleißiger Präsident ist er jedenfalls. Er absolvierte in dem Jahr 300 | |
öffentliche Termine, reiste 30 Mal ins Ausland, steckte viel Arbeit ins | |
Gespräch mit Bürgern, etwa wenn er trauernde Soldatenangehörige nach Schloß | |
Bellevue einlud. | |
Auch das ist ein Charakteristikum seiner Präsidentschaft. Wulff wirkt viel | |
nach innen. So war es auch beim [3][Besuch des polnischen Präsidenten | |
Bronislaw Komorowski] vor zwei Wochen. Als Wulff die berühmte Berliner Rede | |
- eine Erfindung von Herzog - an Komorowski abtrat, wurde das in der Presse | |
prompt als Beleg für eigene Einfallslosigkeit gedeutet. Die Geste kam | |
jedoch in Polen gut an. Mit ihr hat Wulff vielleicht mehr fürs | |
deutsch-polnische Verhältnis bewirkt als mit einer eigenen Ansprache. | |
Wulff ist das persönliche Gespräch mit Bürgern wichtig. Und er hat Talent | |
dafür, schließlich konnte er in den Fußgängerzonen von Hannover oder | |
Braunschweig lange üben. | |
Als die Reden bei der Humboldt-Stiftung beendet sind, geht Wulff schnell | |
auf die jungen Forscher zu, die sich hinter einer Kordel drängen. Ein | |
Japaner quetscht sich neben ihn, für ein Foto. Und Wulff redet minutenlang | |
mit ihm, nickt ab und zu, hört zu. Das wiederholt sich mit so vielen | |
begeisterten Jung-Wissenschaftlern, das die Sicherheitsleute ganz nervös | |
werden. Christian Wulff hat noch Zeit. | |
30 Jun 2011 | |
## LINKS | |
[1] /1/politik/deutschland/artikel/1/bundespraesident-koehler-tritt-zurueck/ | |
[2] /1/politik/deutschland/artikel/1/wulff-sieht-islam-als-teil-deutschlands/ | |
[3] /1/politik/europa/artikel/1/fundament-des-neuen-europas/ | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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Staatsvertrag | |
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