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# taz.de -- Streit um Schweizer Atommüll-Lager: "En Super-GAU - wömir das au?"
> Kein verordnetes Atomklo, sondern lebendige Demokratie: In Schaffhausen
> ringen Bürger nach eidgenössischer Tradition um das Für und Wider eines
> Endlagers.
Bild: "Mehr Radaktivität statt Radioaktivität": Atomkraftgegner vor dem Tagun…
SCHAFFHAUSEN taz | Daniel Raschle zieht sich die Gummimaske vom Kopf und
wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er steht auf einer Wiese vor
dem Tagungszentrum des schweizerischen Schaffhausen, einem einstöckigen
Gebäude inmitten eines Parks. Eben hat Raschle mit anderen Aktivisten hier
eine kleine Performance gezeigt. Sie sollte demonstrieren, wie schlimm die
Welt nach einem GAU wäre - die Faschingsmaske zeigt ein fratzenhaftes
Gesicht. An einem Baum lehnen Transparente mit Aufschriften wie "En
Super-GAU - wömir das au?" und "Mehr Radaktivität statt Radioaktivität!"
Nun werden Lautsprecher abgebaut, gelbe Fässer zur Seite gerollt. Raschle
schlüpft in ein frisches T-Shirt, rückt sich die Brille zurecht und geht
hinüber ins Tagungszentrum. Der 38-Jährige wohnt in Schaffhausen, ist Vater
von drei Kindern und Besitzer von genug Solarzellen, um sich und seine
Familie mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Außerdem ist er Mitglied beim
WWF, Greenpeace, bei der Ökoliberalen Bewegung Schaffhausen und bei klar
Schaffhausen, einem lokalen Verein gegen Atomkraft. Er findet Protest
wichtig. Aber sollte irgendwann tatsächlich hochradioaktiver Atommüll vor
seiner Haustüre vergraben werden, dann soll ihm niemand vorwerfen können,
er habe nur demonstriert und nicht mitgeredet. Heute hat er die
Gelegenheit.
Im Tagungszentrum von Schaffhausen findet das "Aufbauforum Südranden"
statt. Die Region Südranden nahe der deutschen Grenze ist einer von sechs
Standorten, die für ein atomares Schweizer Tiefenlager infrage kommen. Der
Tagungssaal hat den Charme einer besseren Turnhalle: Neonlicht, Holzboden,
hohe Decke, an der Stirnseite eine kleine Bühne. Die Stühle im Saal sind in
Kreisform aufgestellt, fast alle Plätze sind besetzt.
Raschle setzt sich zwischen zwei ältere Herren. In den Ecken stehen
Flipcharts, auf den Tischen Wasserflaschen. Vorträge und Diskussionsrunden
sind angekündigt, am Ende kann man sich für einen Platz in der
Regionalkonferenz bewerben.
Das ist der Grund, warum Raschle und viele andere hier sind. 100 Mitglieder
wird die Konferenz zählen. Vertreter von Gemeinden, Kirchen, Vereinen,
Parteien und Einzelpersonen wie Raschle. Alle, die sich von einem möglichen
Atommüllendlager in der Region betroffen fühlen. Die Konferenz steht im
Austausch mit der Kantonsregierung, dem Energieministerium, dem
Nuklearsicherheitsinspektorat, der Nationalen Genossenschaft für die
Lagerung radioaktiver Abfälle. Sie soll beraten, entscheiden darf sie
nicht.
Es ist der Schweizer Versuch, möglichst viele Personen in den
Entscheidungsprozess einzubeziehen. Ein Versuch, es besser zu machen als in
Deutschland. Dort war die Entscheidung für Gorleben in einem Hinterzimmer
gefallen (siehe Kasten).
Im Gemeindesaal von Schaffhausen sollen sich die Teilnehmer überlegen,
warum sie eigentlich hier sind. Die meisten Anwesenden sind zwischen 30 und
60 Jahre alt, Männer und Frauen sind gleichermaßen vertreten. Es ist eine
sehr bürgerliche Veranstaltung, die Männer tragen karierte Hemden und die
Frauen sommerliche Kleider. Jeder spricht nur, wenn er dazu aufgefordert
worden ist. Weil einige Deutsche keine Mundart verstehen, wird Hochdeutsch
gesprochen. Nur wenn es emotional wird, verfallen einige der Anwesenden ins
Schweizerdeutsch.
Die Moderatoren wählen fünf Personen aus, die an Holzstielen befestigte
Pappschilder hochhalten sollen. Auf jedem Schild steht ein Motiv. Die
meisten Personen versammeln sich unter dem Schild: "Weil ich den Prozess
aktiv mitgestalten will". Die zweitgrößte Gruppe möchte genauer wissen,
worum es überhaupt geht. Einige finden einfach, dass es so nicht
weitergeht.
## "Das macht Angst"
Zu ihnen gehört Raschle. Er will eigentlich über Atomstrom diskutieren und
darüber, wie die Schweiz so schnell wie möglich endgültig aussteigen kann.
Aber die Frage nach der Energieversorgung hängt mit dem Endlager zusammen.
"Ich will, dass der Müll sichtbar bleibt, bis wir ein wirklich sicheres
Lager gefunden haben. Sonst verschwindet er in irgendeinem Loch, und wir
produzieren weiter, als wäre nichts." Zwei kleine Gruppen sammeln sich
jeweils unter den Schildern "Ich will hören, was andere meinen". Und: "Ich
will meine Meinung einbringen".
Zu denjenigen, die ihre Meinung einbringen wollen, gehört eine Frau mit
blondem Pagenkopf in einem hellen Leinenkleid. Wenn sie spricht, lächelt
sie, aber man sieht ihr die Sorgen trotzdem an. Ira Sattler ist
Bürgermeisterin der süddeutschen Gemeinde Jestetten. Die Gemeinde ist auf
drei Seiten von der Schweiz umgeben. Vom Rathaus in Jestetten sind es zwei
Kilometer Luftlinie bis zu dem Wald, unter dem die Schweizer möglicherweise
ihren Atommüll vergraben werden. "Hier sollen lebensgefährliche Substanzen
eingelagert werden, das macht Angst", sagt Sattler. Viele Bedenken spielten
sich auf der emotionalen Ebene ab.
Das ist kaum verwunderlich. Bisher gibt es weltweit kein einziges
Tiefenlager für hochradioaktiven Müll, Erfahrungen fehlen. Auch wenn
Schaffhausen verschont bliebe: Drei der sechs potenziellen Standorte liegen
in unmittelbarer Nähe zur deutschen Grenze. Die Wahrscheinlichkeit, das
Jestetten betroffen ist, liegt also bei 50 Prozent.
Sattler engagiert sich deshalb in drei Schweizer Regionen. Wenn sie darüber
nachdenkt, wie viel Zeit sie das kostet, seufzt sie. Derzeit mindestens
einen halben Tag pro Woche, im Herbst, wenn die Regionalkonferenzen zu
tagen beginnen, wird es mehr werden. Abgeschlossen wird der
Entscheidungsprozess voraussichtlich erst 2015. Aber Sattler möchte nicht
tatenlos zusehen, wie ihre Gemeinde zu einem zweiten Gorleben wird.
In Schaffhausen gibt es nicht nur Gegner eines Tiefenlagers. Im Saal
stellen sich neun Personen unter das Schild: Ich würde ein Tiefenlager in
unserer Region akzeptieren. "Es wird immer nur über die Standortnachteile
gesprochen, dabei gibt es auch Vorteile", sagt ein Vertreter der Gruppe. Er
hat seine graumelierten Haare zurückgekämmt und trägt eine Bügelfaltenhose.
Auf seinem Namensschild ist zu lesen, dass er Mitglied des Forums
Verantwortung für die Entsorgung radioaktiver Abfälle ist, einem Verein,
der Atomenergie befürwortet. Sein Vorbild ist die finnische Gemeinde
Eurajoki. Dort entsteht derzeit das erste atomare Endlager der Welt.
Eurajoki erhält ein Viertel seiner Steuereinnahmen von den Betreibern der
Kraftwerke und Endlager.
Unwilliges Murren ertönt im Tagungssaal von Schaffhausen, als der
Endlager-Befürworter argumentiert. Augen werden verdreht. Der Redner nimmt
es gelassen. Die zweitgrößte Gruppe hat sich unter dem Schild versammelt:
Grundsätzlich gegen ein Tiefenlager. Die größte aber gruppiert sich um das
Schild: Tiefenlager ja, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen.
Über diese Voraussetzungen soll hier diskutiert werden. Als im November
2008 die sechs möglichen Standorte bekannt gegeben wurden, zögerte die
süddeutsche Bürgermeisterin Sattler, sich an dem Prozess zu beteiligen.
Mittlerweile erlebt sie den Prozess als positiv. Sie hat sich zwei Ziele
gesetzt: Die Bürgermeisterin möchte mehr Informationen bekommen und noch
offene Entscheidungen beeinflussen - zum Beispiel die Standorte für
oberirdische Bauten wie eine Anlieferstation und ein Verpackungslager.
Der Aktivist Raschle sieht den Partizipationsprozess kritischer: "S ganze
isch en Farce." Farce. Ein Wort, das man im Gemeindesaal Schaffhausen öfter
hört. Die Bürger hätten früher miteinbezogen werden müssen, sagt er. Die
Regionalkonferenz dürfe nichts entscheiden, sondern nur beraten.
Partizipation sei etwas anderes. Auch wenn die sechs Regionalkonferenzen
keine Entscheidungskompetenz haben, einen Einfluss haben sie sicher. Auf
die öffentliche Meinung und auf die Haltung der Betroffenen.
Denn viele bringen Expertenwissen mit ein. "Haben sie überprüft, wie sich
das Tongestein Opalinuston mit Beton verhält?", fragt ein Ingenieur in
Schaffhausen die Vertreterin des Nuklearsicherheitsinspektoriats. Dazu
würden noch Experimente laufen, gibt sie zu. Weitere Fragen werden
gestellt: Darf die Schweiz ihren Müll überhaupt so nahe an Deutschland
entsorgen? Wie unabhängig sind die Experteninformationen? Wie sehen die
Transportwege aus? Einige Fragen bleiben offen.
## "Schwiizer sind anderst"
Zum Schluss gibt es Wein und Häppchen. Raschle schreibt seinen Namen auf
die Bewerberliste. Er hofft auf einen Platz in der Regionalkonferenz. Dann
will er sich dafür einsetzen, dass der Suchprozess verlängert wird. Dass
weitere mögliche Standorte überprüft werden. Dass die technischen Lösungen
verbessert werden. Und dass der Atommüll so lange sichtbar an der
Oberfläche bleibt, bis die Schweiz endgültig aus der Atomenergie
ausgestiegen ist.
Und wenn sein Engagement nicht hilft? Wenn das Endlager für
hochradioaktiven Atommüll vor seiner Haustür gebaut wird? Wird er sich wie
deutsche Demonstranten vor Castortransporten an die Gleise ketten? Raschle
lacht. "Wohl chum, mir Schwiizer sind da ganz anderst." Er packt seine
Sachen, macht sich auf den Heimweg. Wenn alles klappt, kommt er am 5.
November wieder. Zur Gründung der Regionalkonferenz Südranden.
18 Jul 2011
## AUTOREN
Paula Scheidt
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
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