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# taz.de -- Protestbewegung in Israel: Zelten für die Gerechtigkeit
> Es begann mit dem Kampf gegen zu hohe Mieten. Inzwischen ist daraus eine
> Bewegung mit breiter Themenpalette und Protestcamps in fast allen Städten
> geworden.
Bild: Protest gegen hohe Mieten: Zelten am Boulevard in Tel Aviv.
TEL AVIV taz | "Was haben denn die Homosexuellen mit den Wohnungspreisen zu
tun?", fragt eine ältere Dame leicht ungehalten und zeigt auf eine
Regenbogenfahne, die quer über den Zelten von Israels neuer Protestbewegung
hängt. Die hohen Mieten in der Stadt waren Grund für eine Gruppe junger
Israelis, über Facebook zum Kampf gegen die Regierung und das Kapital
aufzurufen. Was am vergangenen Donnerstag mit 15 Zelten begann, wuchs
innerhalb von einer Woche zu einer Zeltstadt mit hunderten Protestcampern
am Rothschild-Boulevard in Tel Aviv.
"Hier ist ein Platz, auf dem die Leute ihre Probleme zur Sprache bringen
können", sagt Maayan Iungman, die vom ersten Tag dabei ist. Die 28-jährige
Schauspielerin hat kein Problem, wenn die Schwulen und Lesben oder die
Schass mit auf den fahrenden Protestzug springen.
Iungman lebt in einem als 1,5-Zimmer-Wohnung vermieteten Raum mit
eingebauter Galerie, wo gerade genug Platz für das Bett und ein Tischchen
ist. Jeden Monat zahlt sie 1.850 Schekel (370 Euro) für 17 Quadratmeter.
Ihre Waschmaschine steht im Hof. Die Kücheneinrichtung ist samt 50 mal 50
Zentimeter Minikühlschrank kompakt im Flur verstaut. "Zum Essen klappe ich
einen Tisch aus." Dass sie jetzt im Zelt schläft, liegt nicht nur an der
Wohnungsnot. "Es geht um grundsätzliche Veränderungen", sagt sie. "Mit den
Mieten allein ist es längst nicht getan."
In Beerschewa, Jerusalem, Aschkelon, Hadera und Afula - überall im Land
liegen plötzlich Matratzen in den Parks, stehen Sofas unter improvisierten
Stoffdächern, Plastikwannen zum Geschirrwaschen, Altkleiderausgabestellen
und Gaskocher. "Unser Protest geht auf wie ein Hefekuchen", lächelt
Iungman, die Vergleiche mit den Demonstranten in den Nachbarländern
ablehnt. "Das hier ist nicht Tahrir", sagt sie. "Wir leben schließlich
schon in einer Demokratie."
## Rückkehr zu den Werten von einst
Zu Schlagern, die die baldige Ankunft des Messias versprechen, tanzen junge
Leute mit Rastahaaren und Pumphosen Hand in Hand mit den
orientalisch-orthodoxen Anhängern der Schass. "Soziale Gerechtigkeit" steht
auf ihren Plakaten. Ein Slogan, den alle unterschreiben wollen. An einem
Informationsstand der Bewegung "Spatz Israel" werben Kibutzniks zur
Rückkehr zu den Werten von einst: Sozialismus und Zionismus. "Freiheit und
Liebe", ruft ein Mann, der eben aus seinem Zelt schlüpft. Er reckt seinen
bloßem Oberkörper und bindet sich nach Piratenart ein Tuch um den Kopf.
Unter den Protestcampern ist die Rede von einer Revolution. "Wir sind so
lange im Koma gewesen", meint Iungman. "Wir waren durch all die Kriege wie
vernebelt." Schon vor ein paar Wochen hatte sich Volkes Unmut über die
steigenden Preise Luft gemacht, als die Liebhaber des Hüttenkäses über
Facebook zum Verbraucherstreik aufriefen. In weniger als zwei Wochen
zwangen sie die drei großen Milchproduktunternehmen in die Knie, und der
Preis für den 250-Gramm-Becher des körnigen Frischkäses fiel von 8 auf 5
Schekel (1 Euro).
Israels Mieter sind weder rechtlich geschützt noch organisiert.
Mietverträge werden gewöhnlich nur für ein Jahr unterschrieben. Danach
kann, wenn beide Seiten den Wunsch haben, ein neuer Vertrag vereinbart
werden, wobei es dem Vermieter überlassen bleibt, den Preis beliebig zu
erhöhen. Das Wort Mietpreisbindung steht nicht im hebräischen Lexikon -
paradiesische Bedingungen für Haus- und Wohnungsbesitzer.
Die Mieter fortan rechtlich zu schützen wird als Lösung indes weder unter
den Campern noch bei den Politikern diskutiert. Regierungschef Benjamin
Netanjahu erwägt stattdessen bevorzugte Bedingungen und Förderung, wie die
kostengünstige Veräußerung staatlichen Landes, für den Bau von
Mietwohnungen, um anschließend durch das größere Angebot die Preise zu
drücken.
Die Protestbewegung auf der anderen Seite steht vor der Aufgabe, ein
gemeinsames Ziel zu formulieren. "Alle zusammen am Platz" steht in großen
Lettern auf einem der Plakate. Wie lange lässt sich eine Bewegung mit der
vagen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit am Leben halten? Iungman will
bleiben, "solange es nötig ist", es sei denn, es kommt zu gewalttätigem
Protest. "Ich schlafe jede Nacht nur drei Stunden", gibt sie zu und hofft,
sich mit der Zeit ans Zelten zu gewöhnen. Das größte Problem sei die Hitze
am Morgen. "Ein paar große Ventilatoren würden mich zu einem glücklichen
Menschen machen."
22 Jul 2011
## AUTOREN
Susanne Knaul
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