# taz.de -- Philosoph Yonah über israelische Proteste: "Der Zorn der Leute mac… | |
> Im Sommer campierten in Israel Aktivisten gegen die hohen Mieten. Der | |
> Philosoph Yossi Yonah wurde zum Sprecher der Bewegung. Was hat der | |
> Aufstand bewirkt? | |
Bild: Tausende von Israelis campierten auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv. | |
Wer in Israel eine Wohnung mietet, ist oft nach einem Jahr wieder draußen. | |
Nur für diesen Zeitraum nämlich werden Verträge ausgestellt, eine | |
Mietpreisbindung gibt es nicht, die Bewohner sind der Willkür ihres Mieters | |
ausgeliefert. | |
Im Juli vergangenen Jahres formierte sich deshalb Protest, wohl der größte | |
in der Geschichte des Landes – angeführt von einer Filmstudentin. Sie | |
schlug ein Zelt auf einem Platz in der Innenstadt von Tel Aviv auf und | |
postete einen wütenden Aufruf bei Facebook. Zu den folgenden | |
Demonstrationen kamen in der Hoch-Zeit mehrere hunderttausend Menschen. Der | |
Philosophieprofessor Yossi Yonah beriet die Aktivisten von Beginn an. | |
sonntaz: Herr Yonah, wie konnte diese Protestbewegung in Israel so groß | |
werden? | |
Yossi Yonah: Es ist eine Grassroot-Bewegung, ein Protest von unten. Wäre er | |
von oben gekommen, dann hätte es zuallererst eine klar definierte Agenda | |
gegeben. Damit ziehst du dann los und versuchst, die Leute zu mobilisieren. | |
Das ist der eine Weg für eine Revolution, und die Anführer wären vermutlich | |
wir gewesen, die Experten. Wir haben das versucht in der Vergangenheit, und | |
ich muss zugeben: Wir sind konsequent daran gescheitert, die Massen auf die | |
Straße zu bringen. Und dann kamen diese jungen Leute und schafften es. Sie | |
haben ihre Not herausgeschrien, ohne Lösungen parat zu halten. Sie wollten | |
soziale Gerechtigkeit. Dann sind wir gekommen, um der Sache eine Form zu | |
geben. | |
Wie sind Sie vorgegangen? | |
Wir haben mit der Zeltgruppe um die Initiatorin Dafni Lief angefangen und | |
haben die Studenten angesprochen. Wir haben versucht, alle auf eine Linie | |
zu bringen, gemeinsame Erklärungen zu formulieren. Damit waren wir nicht | |
sehr erfolgreich. Die Leute hatten unterschiedliche Vorstellungen – und | |
teilweise stand ihnen ihr Ego im Weg. | |
Was für Menschen machten den Protest aus? | |
Es ist ein Protest der Mittelklasse. 20- bis 30-Jährige, die ihren | |
Armeedienst geleistet haben, arbeiten, Steuern zahlen und es doch nicht | |
schaffen, über die Runden zu kommen. | |
Die Regierung wollte zunächst den Verteidigungshaushalt kürzen, um die | |
geplanten Sozialreformen finanzieren zu können. Nun hat sie den | |
Verteidigungsetat aufgestockt. Vertrauen Sie noch der Regierung? | |
Wir haben sofort gewusst, dass wir in dem Moment, wo die Reformen vom | |
Verteidigungsministerium abhängen, die Sache vergessen können. Wir können | |
uns nicht zu Geiseln des Verteidigungsbudgets machen. Da braucht es nur | |
eine kleine Rakete, und schon ist die Sache aus, und das ganze Gerede über | |
Kürzungen ist vorbei. Wer Reformen vom Verteidigungsbudget abhängig macht, | |
der meint es nicht ernst. | |
Warum hat sich die Bewegung nicht auch zur Besetzung der | |
Palästinensergebiete positioniert? | |
Das Problem ist zu groß. Leider. Die Bewegung wäre dann nicht in der Lage, | |
irgendeine Veränderung in Sachen Besetzung herbeizuführen oder im sozialen | |
Bereich. Ich selbst habe von Anfang an dazu geraten, die Sache auf die | |
soziale Agenda zu begrenzen. | |
Warum haben Sie nicht wenigstens eine Verbindung hergestellt: zwischen all | |
den Geldern, die in die Siedlungen gehen – und damit nicht in den sozialen | |
Wohnungsbau in Israel fließen? | |
Das ist nicht das Thema. Es ist so viel Geld hier in Israel. Es ist | |
unglaublich, wie viel Reichtum hier ist, das grenzt an Korruption. Wir | |
fordern nicht mehr als eine Angleichung der staatlichen Ausgaben an den | |
OECD-Durchschnitt, der bei rund 50 Prozent liegt. In Israel liegen die | |
Staatsausgaben bei nur 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wir wollen die | |
Staatsausgaben erhöhen für Gesundheit, Erziehung, Wohnungsbau. Das muss | |
nicht von heute auf morgen passieren. Schon der Richtungswechsel würde uns | |
reichen. Aber die Regierung sagt Nein und verfolgt weiter den neoliberalen | |
Ansatz. Sie treibt die Privatisierung voran und untergräbt die | |
Gewerkschaften. | |
Was haben die Proteste überhaupt erreicht? | |
Ich messe Erfolg nicht kurzfristig. Wir hofften, dass wir sofort | |
Veränderungen erreichen würden, haben dann aber sehr schnell feststellen | |
müssen, dass das nicht passiert. Es ist klar geworden, dass wir | |
systematischer und hartnäckiger daran arbeiten müssen, ein politisches | |
Bewusstsein zu schaffen, das wir unserem Ziel dann zunutze machen können, | |
wenn es später eine zweite und dritte Welle des Massenprotests geben wird. | |
Warum glauben Sie, dass diese Wellen kommen werden? | |
Ich bin seit 25 Jahren Aktivist. Erfolg? Kaum. Im Gegenteil: Je mehr Zeit | |
vergeht, desto schwieriger wird es. Ich halte mich zwar nicht für so | |
größenwahnsinnig, zu glauben, dass ich so große Macht habe, Dinge zu | |
verbessern oder zu verschlechtern. Aber wir müssen es dennoch weiterhin | |
versuchen. Das ist fast ein kategorischer Imperativ. Jeden Tag hoffst du, | |
dass du etwas erreichst. Wenn ich morgens aufwache, bin ich optimistisch, | |
ich gehe raus und rede mit den Leuten. Ich war fast in allen Zeltstädten in | |
Israel, und bis heute halte ich im Durchschnitt vier Vorträge jede Woche. | |
Aber wenn ich nach Hause komme und nachdenke über unsere Chancen, dann bin | |
ich erschöpft und verzweifelt. Sie fragen mich, welche Chancen wir haben? | |
Vielleicht haben wir gar keine. Aber dennoch: Ich bleibe ein Optimist. | |
Warum? | |
Wegen der Leute. Zu Anfang haben sie sich von der Regierung in die Irre | |
führen lassen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat gesagt: Wir hören | |
euch, wir suchen nach Lösungen und beauftragen ein Komitee, dessen | |
Empfehlungen wir umsetzen. Und die Leute dachten: Was für ein wundervoller | |
Ministerpräsident. Aber jetzt merken sie langsam, dass sie betrogen worden | |
sind, dass die Empfehlungen der Kommission sehr begrenzt sind und selbst in | |
ihrer Begrenztheit kaum zur Umsetzung kommen. Sie werden zornig. Der Zorn | |
der Leute macht mir Mut. | |
23 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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