Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Proteste in Israel: Das Adrenalin der Bewegung
> Warum es zu den Protesten kam. Wie es weitergeht. Ein Besuch bei den
> Initiatorinnen des Rothschild-Camps in Tel Aviv vor dem großen Protest am
> Samstag.
Bild: Obwohl sie hart arbeiten, ist ihr Konto schnell im Minus. Wohnraum wird i…
Die "Zeltstadt" am mondänen Rothschild-Boulevard in Tel Aviv ist das
pulsierende Herz der Protestbewegung in Israel. Über eine Länge von zwei
Kilometern stehen hier rund 2.000 Zelte dicht aneinandergereiht. Um von
einem Ende zum anderen zu gelangen, braucht man zu Fuß mehr als 15 Minuten.
Hier gibt es alles, was es auch in einer Kleinstadt gibt. Am
Informationsstand lassen sich Auskünfte einholen, im Rettungswagen ist
medizinische Betreuung möglich. Wer Lust auf einen Film hat, kann zwischen
mehreren Open-Air-Kinos wählen. Jeden Abend geben Bands Konzerte. Die Zelte
haben sogar Schilder mit Hausnummern. "Es ist eine Stadt in der Stadt. Eine
alternative Gesellschaft inmitten von Tel Aviv", sagt Stav Sharif.
Gemeinsam mit der jungen Filmemacherin Dafne Leef bildet sie die Spitze der
Protestbewegung gegen den "Raubtierkapitalismus" in Israel.
Doch als Anführerin will Sharif nicht gelten. "Hier kann jeder tun, was er
will. Die Stärke unserer Bewegung ist das totale Chaos", sagt sie. Dabei
ist die Bewegung politisch gut organisiert. Entscheidungen werden in
sogenannten Generalversammlungen getroffen. Wer für etwas ist, hebt die
Hände hoch und schüttelt sie. "Dann tragen wir den Konsens aus dem Lager
auf die nächste Ebene in die Nationalversammlung", erklärt Aya Shoshan, die
eine von zwei Vertreterinnen des Rothschild-Camps ist.
Dass sie durch eine kleine Protestaktion eine Massenbewegung auslösen
würde, hat Stav Shafir vor mehr als drei Wochen nicht geahnt. "Das erste
Zelt habe ich selbst aufgebaut", sagt sie stolz. Landesweit sind es
mittlerweile 3.383.
Vor einem Jahr war Stav Shafir mit einem Freund auf Wohnungssuche. "Ein
Albtraum", sagt sie. Eine Ewigkeit hätten sie nichts gefunden. "Wir haben
uns frustriert zusammengesetzt und darüber geredet, dass die Menschen
dagegen auf die Straße gehen sollten." Nachdem sie dann schlussendlich doch
eine Bleibe gefunden hatten, fiel die Idee wieder unter den Tisch. Bis vor
Kurzem. Denn nachdem Dafne Leef nach einer ebenso erfolglosen Wohnungssuche
im Juli eine Facebook-Gruppe mit gleichem Ziel gründete, machten die drei
gemeinsame Sache. Am 14. Juli ziehen sie in ein Zelt am HaBima-Platz in Tel
Aviv. "Die Stadtregierung dachte, wir wären spätestens nach dem Wochenende
wieder weg", erinnert sich Stav. Ein Irrtum, denn die Aktion löste die
größte Protestbewegung in der Geschichte Israels aus.
## Verzögerungsstrategie
300.000 Menschen gingen am ersten Augustwochenende auf die Straße. Ihr
zentraler Slogan: "Das Volk will soziale Gerechtigkeit." Mittlerweile hat
auch die Regierung auf die Proteste reagiert. "Es ist unmöglich, diese
Stimmen zu ignorieren", ließ Premierminister Benjamin Netanjahu verlauten.
Ein Komitee aus Experten und Ministern soll jetzt Lösungen finden und mit
den Anführern der Proteste am "runden Tisch" verhandeln.
Doch an dieses Komitee glaubt in den Zeltstädten niemand. "Die Regierung
versucht nur, mit Pflaster unsere blutenden Wunden zu verarzten",
kritisiert Dana, eine der Studentenführerinnen aus Jerusalem. Auch die
Protestführung in Tel Aviv ist sich anscheinend einig. "Wir werden nicht
verhandeln", versichert Stav Shafir. "Diese Strategie soll alles nur
hinauszögern. Zuerst hat Netanjahu versucht, uns als linke Anarchisten
abzustempeln. Dann wurden wir als gespalten und zerstritten gescholten. Und
jetzt fragen wir uns, was dieses abstrakte Komitee soll. Die Menschen hier
akzeptieren diese Strategie nicht", sagt sie.
Stav weiß, was sie tut. Ihr Ton ist bestimmt, aber freundlich. Ihr lockiges
rotes Haar lässt sie stets stilvoll aussehen. Sie nimmt ihre Rolle bei den
Protesten sehr ernst. Um 5.30 Uhr steht sie normalerweise auf, um erste
Radiointerviews zu geben. Danach Besprechungen, Treffen und wieder
Interviews. "Vor vier komme ich nie ins Bett, schlafe oft nur eineinhalb
Stunden. Aber ich lebe vom Adrenalin dieser Bewegung", sagt sie, ohne dabei
eine Spur müde zu wirken. Ein offizielles Papier mit Forderungen gebe es
noch nicht. "Wir arbeiten daran." Immerhin müssen alle Zeltvertretungen im
Konsens zustimmen, und das kann dauern.
Das von der Regierung eingesetzte "Rothschild-Komitee" wird es in jedem
Fall schwer haben, alle Ansprüche zu befriedigen. Junge Paare und Studenten
wollen bezahlbare Wohnungen. Sozialarbeiter und Ärzte bestehen auf höhere
Löhne, Alleinerziehende Eltern auf bessere Kinderbetreuung. Und sie alle
finden, dass Lebensmittel viel zu teuer sind und das Geld im Land ungerecht
verteilt wird. "Es geht um einen Wohlfahrtsstaat", fasst Stav zusammen. Mit
"öffentlichen Wohnungen, besserer Bildung und einem funktionierenden
Gesundheitssystem."
Es ist eine Besonderheit dieser Proteste, dass nicht die Armen und
Arbeitslosen, sondern Menschen der Mittelschicht revoltieren. Doch genau
darin liegt der Kern des Unmuts. Denn obwohl sie hart arbeiten und viel in
Bildung investiert haben, ist ihr Konto am Ende des Monats im Minus.
Besonders die große Schere zwischen Einkommen und Lebenshaltungskosten
trifft viele Israelis hart. Auch wenn die israelische Wirtschaft gute
Zahlen schreibt und Sektoren wie der IT-Bereich boomen, sind die Früchte
dieses Wachstums extrem ungleich verteilt, erklärt Ayal Kimhi, der als
Vizedirektor des "Taub Center for Social Policy Studies" schon seit Jahren
vor den Folgen des maroden Sozialstaates warnt. Seines Erachtens liegen die
wahren Ursachen der Probleme Jahrzehnte zurück.
## Gekürzte Sozialausgaben
"Nachdem die Likud-Partei 1977 die Wahlen gewann, wurde die Marktwirtschaft
immer mehr liberalisiert. Aber das ist schiefgegangen. Um das Budget in den
Achtzigern zu füllen, wurde dann fast der komplette öffentliche Dienst
abgebaut", erklärt er. Nach der zweiten palästinensischen Intifada habe
Netanjahu als Finanzminister weitere Sozialleistungen gekürzt. "Und jetzt
sind wir hier", sagt Kimhi und zeigt mit dem Finger auf eine Grafik im
brandneuen 400-Seiten-Bericht zur "Lage der Nation". Darauf ist erkennbar,
dass die zivilen öffentlichen Ausgaben in Israel seit 2005 um 6 Prozent
zurückgegangen sind. Außerdem wurden viele vormals öffentliche
Dienstleistungen wie Altenbetreuung und Sozialarbeit privatisiert und in
Nichtregierungsorganisationen ausgelagert. "Die Qualität und die Löhne sind
deswegen stark gesunken."
Das Büro von Ayal Kimhi liegt zwischen Rechaviya und Talbiya, zwei der
begehrtesten Viertel Jerusalems. Wie bei Stav Sharif und Dafne Leef in Tel
Aviv ist die Wohnungssuche für viele ein Albtraum. "Es wurden einfach nicht
genug Wohnungen gebaut. Deswegen übersteigt die Nachfrage das Angebot und
die Preise schießen in die Höhe", erklärt er. Außerdem sei die Vergabe von
Baugenehmigungen durch die staatlichen Regionalkomitees "ineffektiv und
dauert oft Jahre".
Auch wenn der Mainstream der Protestbewegung die Ursachen in der sozialen
Ungerechtigkeit zu suchen scheint, sehen viele auch in der
Besatzungspolitik Israels einen Grund für das fehlende Geld. Die
israelische Nichtregierungsorganisation Peace Now schätzt, dass "mindestens
2 Milliarden Schekel" in die Besatzung des Westjordanlandes und die
jüdischen Siedlungen fließen. Das entspricht etwa 400 Millionen Euro.
Auch die Siedler sind auf den Protestzug aufgesprungen. Der Vorsitzende des
Siedlerrates, Naftali Bennett, nannte die Proteste "absolut
gerechtfertigt". Siedler würden den Schmerz der Bevölkerung teilen, hieß
es. Kein Problem, meint Stav Shafir. "Bei uns sind auch Siedler willkommen.
Aber staatliche Subventionen für Siedlungen entsprechen nicht dem Konsens
der Bewegung", fügt sie hinzu. "In der Vergangenheit haben wir in Israel
immer gegeneinander demonstriert. Links gegen Rechts, Religiöse gegen
Nichtreligiöse. Aber jetzt kämpfen wir alle gemeinsam", erklärt Stav. Die
Einheit aller Israelis sei wichtiger als das trennende politische Element.
## Erweiterter Aktionsradius
Auch wenn sie nicht genau weiß, wie lange ihr Körper das alles noch
mitmacht, ist eines für sie sicher: "Wir machen weiter, bis wir eine Lösung
finden." Für dieses Wochenende sind Demonstrationen an der Peripherie
Israels geplant. "Damit die Leute ihre Seifenblasen in Tel Aviv und
Jerusalem verlassen", sagt sie. So soll der Zusammenhalt zwischen dem
Protestzentrum und anderen Gegenden gestärkt werden.
Als Endziel hat sich die junge Anführerin viel vorgenommen. "Wir wollen das
Wirtschaftssystem in Israel von Grund auf ändern. Aus einer gespaltenen
Gesellschaft schaffen wir eine geeinte." Eine Eskalation der Proteste wird
dabei nicht ausgeschlossen, sagt Aya Shoshan, die Vertreterin des
Rothschild-Camps in Tel Aviv. "Wir hoffen, es eskaliert. Wir können Straßen
und die Eingänge zu Regierungsgebäuden blockieren oder Banken boykottieren.
Es gibt eine Fülle an Ideen." Für Montag wurde eine Notfallsitzung des
israelischen Parlaments einberufen, wohl auch um Szenarien wie diese
abzuwenden.
12 Aug 2011
## AUTOREN
Andreas Hackl
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.