| # taz.de -- Sozialproteste in Israel: „Und zack liegst du auf dem Boden“ | |
| > Etwa 10.000 Menschen demonstrieren in Tel Aviv gegen die hohen | |
| > Lebenshaltungskosten. Einer begoss sich mit Benzin und zündete sich an. | |
| Bild: Protest gegen Kapitalismus: Demonstranten in Tel Aviv. | |
| JERUSALEM taz | Es sollte ein feierlicher Einstieg ins zweite Jahr von | |
| Israels Sozialbewegung werden und endete in einer Katastrophe. Seit | |
| Samstagabend kämpft der 58-jährige Mosche Silman aus Haifa ums Überleben. | |
| Aus Verzweiflung über seine finanzielle Notlage goss er sich Benzin über | |
| die Kleidung und steckte sich selbst in Brand. Demonstranten in Tel Aviv, | |
| die Seite an Seite mit ihm den ersten Geburtstag von Israels Sozialbewegung | |
| begehen wollten, löschten das Feuer mit Wasser und Kleidungsstücken. | |
| Ende Juli letzten Jahres war die Filmstudentin Dafni Lief mit ihrem Zelt in | |
| den Tel Aviver Rotschildboulevard gezogen, um gegen eine dramatische | |
| Mieterhöhung zu protestieren. Innerhalb von Tagen entstand eine ganz Stadt | |
| mit Hunderten von Zelten. Mit dem Slogan „Das Volk fordert soziale | |
| Gerechtigkeit“ zogen schließlich fast eine halbe Million Menschen auf die | |
| Straße und protestierten gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Viel | |
| erreicht haben sie bis heute nicht. Übrig blieben nur die Zelte derer, die | |
| nicht wussten, wohin: der ganz Armen des Landes. | |
| „Der Staat hat mich beraubt und mittellos zurückgelassen“ steht auf den | |
| Flugblättern, die Mosche Silman vor seiner Selbstverbrennung unter den | |
| Demonstranten verteilte. Sein sozialer Abstieg begann vor zwölf Jahren. | |
| Damals war er noch Chef eines Zulieferungsunternehmens. Dann jedoch machte | |
| ihm das Finanzamt Probleme. Eine Steuerschuld von zunächst umgerechnet nur | |
| etwa 3.000 Euro wuchs wegen Zahlungsversäumnissen und Strafgebühren zu | |
| einer für ihn nicht mehr tragbaren Summe an. | |
| Die Behörden konfiszierten das Unternehmen, und Silman musste sich fortan | |
| als Taxifahrer seinen Lebensunterhalt verdienen, bis ihn ein Hirnschlag | |
| traf. Seither ist er amtlich bescheinigt 100-prozentig arbeitsunfähig und | |
| lebt von umgerechnet weniger als 500 Euro im Monat. Mehrere Anträge auf | |
| Wohnungsbeihilfe wurden abgelehnt, vor einem Jahr schloss er sich der | |
| Sozialbewegung an. In diesen Tagen stand er unmittelbar vor dem Rauswurf | |
| aus seiner Wohnung. „Den Armen wird genommen“, schrieb er auf seine | |
| Flugblätter, „um es den Reichen und den Beamten zu geben.“ | |
| „Silman ist klassisches Opfer eines Kapitalismus, dem jedes soziale | |
| Sicherheitsnetz fehlt“, sagt Shir Nosatzki, die zur Gruppe von Dafni Lief | |
| gehört. Hier zeige sich die Schwachstelle des Systems, meint Nosatzki. „Du | |
| musst nur ein paar Fehler machen, und zack liegst du auf dem Boden.“ | |
| ## „Große, persönliche Tragödie" | |
| Regierungschef Benjamin Netanjahu, den Silman auf seinem Flugblatt direkt | |
| beschimpft, sprach zu Beginn der sonntäglichen Regierungssitzung von einer | |
| „großen, persönlichen Tragödie“. Silmans Fall soll nun von den Behörden | |
| geprüft werden. Oppositionsführerin Scheli Jechimowitsch verurteilte die | |
| „grausame Verschärfung der Bedingungen für den Anspruch auf öffentlichen | |
| Wohnraum“. | |
| Am Sonntag zogen erneut ein paar Dutzend Demonstranten aus Solidarität mit | |
| Silman vor die Büros des Wohnungsministeriums in Haifa. „Ursache Armut“, | |
| stand auf einem der Plakate. | |
| Mit nur rund 10.000 Demonstranten am Samstagabend in Tel Aviv, wie die | |
| Veranstalter veranschlagen, blieb die Jubiläumsveranstaltung hinter den | |
| Erwartungen zurück. „Wir haben schon lange aufgehört, den Protest in Zahlen | |
| zu messen“, meint Nosatzki. „Auch als wir mit einer halben Million Menschen | |
| auf die Straße gingen, hat die Regierung nichts unternommen.“ Es sei klar, | |
| so meint die 28-Jährige, dass „wir noch einen langen Prozess vor uns haben, | |
| um die Macht des Kapitals zu durchbrechen“. | |
| 15 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Knaul | |
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