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# taz.de -- Serie Atomkraft in Asien (I): Japans neue Atomkritiker
> Nach dem Unglück wurde Premier Naoto Kan Unentschiedenheit vorgeworfen.
> Nun outet er sich als AKW-Gegner. Wie er denken viele. Gibt es Chancen
> für eine Energiewende?
Bild: Japan wendet sich nach Fukushima von der Atomkraft ab. Premier Kan will a…
TOKIO taz | Kaum hat sich die Tür seines voluminösen Büros geöffnet,
springt Tatsujiro Suzuki wie auf Kommando von seinem Schreibtisch auf.
Niemand soll auf den Vizepräsidenten der japanischen Atomenergiekommission
warten.
Bloß keine bürokratische Arroganz zeigen! Das ist der neue Tokioter
Regierungsstil, erst recht nach Fukushima. Mit schnellen Schritten eilt
Suzuki auf den Besucher zu und bittet an seinen Konferenztisch. Er ist der
international bekannteste Atomwissenschaftler seines Landes, hat lange in
Harvard gearbeitet, ein Mann mit einem ewig jungen Forscherblick. Heute
untersteht er direkt dem japanischen Premierminister. Aus Suzukis
Bürofenster schaut man unmittelbar auf das Tokioter Finanzministerium herab
– auch das hebt die Bedeutung des Atomenergiekommissars hervor. Seine
Aufgabe: die Planung und Überwachung der japanischen Atomenergiepolitik.
Damit hat er seit dem 11. März alle Hände voll zu tun. "So ernst wie dieser
Unfall ist, hat es Sinn, wieder bei null anzufangen und sich die Atomkraft
ganz neu anzuschauen", sagt Suzuki. Komisch. Keine Klagen. Er klingt so gar
nicht depressiv. Dabei galt Suzuki bisher als AKW-Befürworter. Doch nun
arbeitet er für einen Regierungschef, der der Atomkraft rundum abschwören
will. "Wir arbeiten auf eine Gesellschaft hin, die nicht mehr von der
Atomkraft abhängt und in Zukunft ohne sie auskommt", warb Premierminister
Naoto Kan am 13. Juli in der bislang weitgehendsten Stellungnahme eines
japanischen Regierungschefs für die Abkehr von der Atomkraft. Anschließend
murrten viele Kabinettsmitglieder. Nicht so Atomplaner Suzuki. "Der
Premierminister hat mich vor seiner Rede nicht konsultiert, und es gibt
meinem Gefühl nach auch keinen Konsens innerhalb der Regierung", sagt
Suzuki. "Aber ganz persönlich denke ich: Kan hat recht! Wir müssen in
Sachen Atomkraft einfach alles infrage stellen."
## Naoto Kan war 1980 gegen Atomkraft
Das sind neue, tatenlustige Klänge aus Nagatacho, dem Tokioter
Regierungsviertel. Viereinhalb Monate lebt Japan nun schon mit der
Atomkatastrophe. Viereinhalb Monate, in denen man über 22.000 Opfer von
Erdbeben und Tsunami zählte. In denen die radioaktive Pest täglich neue
Schlagzeilen machte. In dieser Zeit verdiente sich die Regierung keine
Lorbeeren. Das lag nicht zuletzt an der Person des Regierungschefs. Kan ist
ein alter Kämpfer der Tokioter Alternativszene, eine Art japanischer
Joschka Fischer, der sich über die Jahre seine eigene Partei zimmerte, die
regierende Demokratische Partei Japans (DPJ), die ihn aber nicht liebt.
Statt sich nun nach dem 11. März als Retter der Nation vor den
Staatsapparat zu stellen, bekämpfte der alte Basisaktivist Kan lieber seine
Staatsdiener. Einer wie er traute gerade nach dem Atom-GAU in Fukushima
seinen Beamten und Atommanagern nicht. Sie waren für ihn alle
Atomlobbyisten, womit er nicht ganz falsch lag. Doch entstand immer wieder
der Eindruck, die Regierung agiere zögerlich und widersprüchlich. Folglich
sank das Ansehen des Premiers in der Bevölkerung. Das zwang Kan aus der
Reserve. Von Mal zu Mal ging er stärker auf Antiatomkurs. Um nicht als
Wendehals zu gelten, veröffentlichte er [1][auf seinem Blog] eines seiner
Positionspapiere von 1980, in dem er die Atomkraft scharf kritisiert und
sich für Wind- und Solarenergie als Alternative ausspricht. So gewann der
Premier Glaubwürdigkeit zurück. Inzwischen stützen nach Umfragen 70 bis 80
Prozent der Japaner den Ausstiegskurs des Premiers.
Damit aber sind die politischen Verhältnisse nach Fukushima plötzlich neu
geordnet: Auf der einen Seite der Regierungschef als Japans erster
AKW-Gegner an der Macht. Auf der anderen Seite das politische Establishment
von Regierung und Opposition, das sich derzeit im Parlament einem von Kan
eingebrachten Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien verweigert.
Noch vor Wochen hätte kaum ein politischer Beobachter in diesem Kampf auf
Kan gewettet. Jetzt aber ändert sich das.
## "Es gibt Rückenwind für Kan"
"Es gibt Rückenwind für Kan", meint ein hocherfreuter Jesper Koll,
Chefökonom der US-amerikanischen Investmentbank JP Morgan in Tokio. Koll
arbeitet seit 20 Jahren an der Spitze verschiedener US-Banken in Japan. In
Sportkleidung sitzt er frühmorgens auf einer Caféterrasse im Tokioter
Börsenviertel und trinkt Latte mit drei Espresso-Shots. "Kan 2.0" lautet
der Titel seines jüngsten Investorenberichts, der dem Premier ein neues
Leben nach Fukushima verheißt. Der Chefökonom hat zum Beleg die jüngsten
japanischen Handelszahlen mitgebracht: Schon wieder fast 1 Milliarde Dollar
Überschuss im Monat Juni, dabei waren 2 Milliarden Defizit vorausgesagt.
"Bald werden es wieder 2 Milliarden Dollar Überschuss pro Tag sein", sagt
Koll.
Er hat nie an den Absturz der japanischen Wirtschaft nach Fukushima
geglaubt. Jetzt sieht er sich bestätigt. Mehr noch: Fukushima beschleunige
den nötigen Umbau. "Japan wird postindustriell", sagt Koll. Er berichtet
von alten Fabriken, die durch Erdbeben und Tsunami zerstört worden seien.
Sie würden nicht wiederaufgebaut. Statt aus Nordjapan beziehe Toyota seine
Teile inzwischen aus China und Indonesien, während in Nordjapan jetzt
Altenheime in schöner Küstenlage gebaut würden. "Ein Altenheim aber braucht
nur ein Zweihunderstel des Stroms, den ein mittlerer Betrieb verbraucht,
der Bremsscheiben baut", sagt Koll.
## "Warum kann Japan nicht, was Deutschland kann?"
Hier sieht der Chefökonom den Beginn von Japans energiepolitischer Wende.
Er zitiert einen Energieplan der Atomkommission, den Tatsujiro Suzuki
ausgearbeitet hat: Bis 2030 will Japan den Energieanteil am
Bruttosozialprodukt um 30 Prozent reduzieren. In der Ölkrise von 1973 bis
19 79 gelang Japan dieses Kunststück schon einmal. Genau auf diese
Anpassungsfähigkeit der japanischen Wirtschaft vertraut Koll. In seinem
privaten Briefkasten im Tokioter Modeviertel Harajuku fand er an diesem
Morgen ein Flugblatt der japanischen KP: "Warum kann Japan nicht, was
Deutschland kann?" stand darauf in Anspielung auf den deutschen
Atomausstieg. Und dieses eine Mal gibt der Investmentbanker Koll den
Kommunisten recht: "Schon jetzt läuft in Japan nur noch ein Drittel der
AKWs. Die Japaner befinden sich doch längst mitten im Ausstieg", sagt Koll.
Dass es trotzdem nicht so einfach in Richtung Ausstieg weiterlaufen wird,
ahnt jeder, der das Land ein bisschen kennt. Veränderungen brauchen hier
Zeit, auch im Schatten eines so großen Ereignisses wie Fukushima. Erst muss
ein neuer gesellschaftlicher Konsens entstehen, dann passiert etwas. Bis
dahin sind die politischen Entwicklungen unvorhersehbar. Premierminister
kommen und gehen in Japan. Noch weiß niemand, ob Kan da eine Ausnahme
machen wird.
## "Atomkraft nicht weiter Säule unseres Wachstums"
Umso wichtiger ist deshalb, was sich in Japans großen Konzernen tut. Hier
werden Entscheidungen lange bedacht, und erst, wenn alle Zweifel ausgeräumt
sind, werden sie der Öffentlichkeit mitgeteilt. Umso überraschender ist
deshalb der Auftritt von Toshiba-Chef Norio Sasaki auf der jüngsten
Veranstaltung seines Unternehmens für Investoren in Tokio. Der 62-jährige,
weißhaarige Konzernchef steht hinter einer hölzernen Kanzel, an der ein
Schild mit dem Firmennamen angebracht ist. Neben ihm ist eine große
Leinwand aufgebaut, über die Statistiken flimmern. Eigentlich erwartet man
an diesem Tag nichts Neues von Sasaki. Kurz nach dem 11. März hatte er
bereits die Atomkraft als "weiter starke Energieoption" in Schutz genommen.
Der Atomingenieur zeichnete 2006 für den damals sensationellen Aufkauf des
berühmten US-Reaktorherstellers Westinghouse durch Toshiba verantwortlich.
Seither gilt Sasaki als Personifizierung der japanischen Atomwirtschaft.
Ebendeshalb aber traut man jetzt seinen Ohren nicht: "Wenn die ganze Welt
gegen Atomkraft ist, können wir die Atomkraft nicht weiter als Säule
unseres Wachstums betrachten", sagt Sasaki. Niemand applaudiert. Aber der
Saal ist plötzlich mucksmäuschenstill. Toshiba hat die havarierten
Reaktoren von Fukushima gebaut. Die Firma zählt auch im Weltmaßstab zu den
Riesen der Atombranche. Doch die Zukunft sieht Sasaki heute anderswo. "Nach
dem Unfall von Fukushima haben sich viele Länder und Unternehmen
entschieden, stärker auf die erneuerbaren Energien zu setzen. Wir müssen
uns dem anpassen können", sagt der Toshiba-Chef.
Ihm ist keinerlei Aufregung anzumerken. Das aber macht den japanischen
Unterschied. Entscheiden sich die Deutschen für den Ausstieg aus der
Atomkraft, dann mit großem Brimborium. Tut es Japan, wird es kaum jemand
bemerken. Aber die Folgen wären bedeutsamer. Japans Atomwirtschaft ist
doppelt so groß wie die deutsche.
25 Jul 2011
## LINKS
[1] http://kansblog.kantei.go.jp/
## AUTOREN
Georg Blume
## TAGS
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