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# taz.de -- Serie Atomkraft in Asien (V): Angst am Gelben Meer
> Am chinesischen AKW-Standort Lianyungang, einer Millionenmetropole,
> fühlen sich die Menschen der Atomkatastrophe in Japan näher, als sie
> zugeben wollen.
Bild: Das AKW ist nicht vor Tsunamis geschützt – das wissen auch die Leute i…
LIANYUNGANG taz | Vor der untergehenden Sonne hinter den steilen
Küstenfelsen der Hafenmetropole Lianyungang am Gelben Meer steuert der
26-jährige Algenfischer Xu Xiaoping* einen kleinen Holzkutter. Er hält Kurs
auf eine der größten AKW-Baustellen Chinas. Hinter ihm liegt ein
Tiefsee-Containerhafen. Über die Felsen ragen an einigen Stellen neue
Wohnhochhäuser empor.
Der junge Fischer trägt ein dunkellila Hemd über der Hose, an der ein
großes Schlüsselbund bei jedem Wellenschlag laut klimpert. Über ihm weht an
einem Bambusrohr die chinesische Flagge. "Von Fukushima weiß ich nichts",
ruft Xu vom Heck seines Fischerboots.
Xu will jetzt nicht reden. Wachsam schweift sein Auge die Küste entlang.
Der moderne, mit nagelneuen Markthallen für den Fischverkauf bestückte
Fischereihafen, von dem aus er in See gestochen ist, verschwindet langsam
aus dem Blick. Dafür bemerkt er nun die riesige Atomanlage. Je näher das
Boot der Anlage kommt, desto nervöser wird der Fischer. Wachtürme und
Stacheldraht werden sichtbar. Außer seinem kleinen Kutter ist jetzt weit
und breit kein Schiff zu sehen. Jeden Tag tuckert Xu hier frühmorgens
vorbei, um an der Küste weiter im Norden nach Algen zu fischen. Insofern
schien ihm die Fahrt nichts Außergewöhnliches zu sein. Doch nun erreicht
sein Boot die frisch betonierte Anlegestelle des Atomkraftwerks. Nie zuvor
ist der Fischer der Anlage so nahe gekommen.
Er tut dies auf Bitte des Reporters. Vor Xu türmen sich jetzt eine
Aschenbahnlänge entfernt zwei der modernsten chinesischen Atomreaktoren
auf. Sie laufen. Hinter ihnen rammen megagroße Bagger vier weitere
AKW-Bauplätze in die Steilküste. Das Gelände der Anlage umfasst bereits
mehrere Fußballplätze. Doch Xu ist nicht beeindruckt. Er kennt die
AKW-Baustelle seit seiner Jugend. Vielmehr ist er erleichtert. Denn niemand
hat ihn und seinen Kutter bemerkt. Die AKWs werden nicht sehr streng
bewacht. Die Wachtürme sind unbemannt. Nur an der Pforte für die Lkws, die
mannshohe Felsklötze von den Bauplätzen abfahren, stehen ein paar
Wachleute. Doch sie schauen nicht aufs Meer. Xu stellt den Motor des
Kutters ab und entspannt sich. Nach einer Weile zeigt er auf den Deich vor
den Reaktoren. Es ist Flut und die aufgeschütteten Betonteile ragen noch
etwa vier Meter über den Meeresspiegel empor. Dahinter stehen in geringer
Entfernung die Reaktoren auf Höhe des Deiches.
## Illegaler Algenfang
"Das ist kein Schutz gegen Tsunamis", sagt Xu. Damit verrät er sich. Er hat
also doch schon von Fukushima gehört. Er weiß sehr wohl, dass dort ein
Tsunami eine Atomkatastrophe ausgelöst hat. Xu lächelt ohne zu antworten.
Allmählich wird er gesprächiger. "Seit die AKWs in Betrieb sind, gibt es
weniger Fische", sagt Xu. Deshalb fische er nun Algen. "Da kommt ständig
warmes Wasser heraus. Das ist nicht gut für die Fische", ergänzt er nach
einer Gesprächspause. Noch immer schaukelt sein Kutter lautlos über die See
vor den Reaktoren. Während die Sonne untergeht, erfährt man von ihm, wie
die AKWs das Leben der Menschen vor Ort beeinflussen. Vor 14 Jahren
begannen die Bauarbeiten. Einige Fischer der Gegend nahmen im Laufe der
Jahre Entschädigungen der AKW-Betreiber an und wechselten den Beruf. Doch
viele fahren weiter aufs Meer. "4.000 Fischer sind wir noch", sagt Xu.
Besonders das Geschäft mit den Algen laufe gut. "Ich verkaufe meinen ganzen
Fang nach Japan." Dass sein Geschäft illegal ist, weil in Nähe der AKWs
nicht gefischt werden darf, erfährt man erst später im Hafen.
Inzwischen hat der Fischer den Schiffsmotor wieder angestellt und tuckert
zurück. Erst am Ende der Fahrt lässt er sich ein zweites Mal nach dem
Atomunfall in Fukushima befragen. "Was denkst du denn? Klar haben wir
Angst. Wir haben hier Riesenstürme. Das Wasser steigt dann bis weit hinter
den Hafen." Xu zeigt auf Felsen im Hinterland. Kaum aber hat er seinen
Kutter am Hafen festgemacht, beendet er das Gespräch. Verwandte und
Bekannte stehen jetzt um ihn herum und fragen ihn aus. Doch Xu gibt keine
Auskunft mehr. Er nimmt sein kleines Motorrad und fährt davon.
## Boomende Viermillionenmetropole
So bleibt die Frage, ob der junge Fischer einen Atomunfall wie in Fukushima
auch vor der eigenen Haustür für möglich halte, unbeantwortet. Aber Xu ließ
deutlich spüren, dass er sich Sorgen macht. Das geht heute vielen Chinesen
so. Sie haben plötzlich Angst vor einer Industrie, die ihnen bisher harmlos
erschien. Atomkraft war in China in der Vergangenheit kein Thema. Größere
Unfälle gab es nicht. Die ganze Sicherheitsproblematik war unbekannt. Auch
deshalb werden chinesische AKWs kaum bewacht. Doch seit Fukushima wissen
die meisten Chinesen, was ihnen im Fall eines Atomunfalls drohen kann.
In der Öffentlichkeit aber wagen sie nicht, ihre Sorgen auszusprechen.
Dabei dürften die von Fukushima ausgelösten Ängste an kaum einem anderen
Ort so groß sein wie in Lianyungang. Die AKW-Anlage befindet sich in
Laufentfernung zu der boomenden Viermillionenmetropole. Zu Baubeginn im
Jahr 1997 mag es noch so ausgesehen haben, als würden die AKWs an einem
etwas abgelegenen Küstenflecken gebaut. Doch inzwischen hat die ausufernde
Stadt den Küstenstreifen um die AKWs mit neuen Wohnsiedlungen überzogen. Es
sieht so aus, als wollten die Hochhäuser den Reaktoren immer näher kommen.
Mit ihnen zieht eine gebildete Mittelschicht vor die Tore der Atomanlage.
Stellt sie Chinas zukünftige Anti-AKW-Bewegung?
## "Japans AKWs sind älter"
Nicht einmal die einfachen Arbeiter der Jiangsu Nuclear Power Corporation
(JNPC) sind sich ihrer Sache noch sicher. Sie tragen blaue Arbeitsanzüge
und stellen vor den Toren der Atomanlage gerade ein großes, neues
Firmenschild mit der Aufschrift JNPC mit einem Gestell aus Aluminiumröhren
auf. Das Gestell ist so hoch wie eine Straßenlaterne. "Japan ist weit weg",
sagen die Arbeiter zunächst. Sie zeigen sich gut informiert: "Japans
Wirtschaft ist zwar entwickelter als unsere, aber die Atomkraftwerke in
Fukushima waren viel älter als die, die wir in China bauen", sagen sie. So
weit entspricht das alles noch dem Propagandaspruch, der vor den Arbeitern
am Zaun der Atomanlage aufgehängt ist: "Lasst uns den Gedanken der
Befreiung fortsetzen, unterstützt die Reformen, fördert den Fortschritt der
Wissenschaft", steht dort schwarz auf weiß in großen Schriftzeichen.
Doch als mit der Mittagspause die Zeit vergeht und die Teeflaschen der
Arbeiter sich leeren, kommen Bedenken hoch. "Die Sache in Japan war schon
sehr gefährlich", räumen die Arbeiter jetzt ein. "Jeder Mensch hat Angst
vor Erdbeben und Tsunami", sagen sie. Am Ende klingt es so, als gebe ihnen
der Unfall in Fukushima viel mehr zu denken, als sie zugeben wollen.
Wie mit den Fischern und den Arbeitern aber verhält es sich auch mit
manchem Manager, der Verantwortung für den Atombau in Lianyungang trägt.
Nach außen gilt die Linie: Weitermachen! Doch im Stillen ist nach Fukushima
vieles nichts mehr wie vorher.
## Unzulängliche Sicherheit
"Die chinesische Regierung ist sehr vorsichtig geworden", beobachtet ein
Repräsentant der Atomwirtschaft in Lianyungang. Der Manager empfängt in
einem Hotel im Stadtzentrum und bittet darum, seinen Namen anonym zu
lassen. Er arbeitet seit über 20 Jahren im chinesischen Atomgeschäft. Er
kennt das Geschehen auf der AKW-Baustelle in Lianyungang bis ins kleinste
Detail. Zudem hat er den Überblick: 13 Reaktoren laufen derzeit in China,
30 befinden sich im Bau, für 100 weitere läuft ein Genehmigungsverfahren.
Diese Verfahren liegen seit Fukushima auf Eis, sagt der Manager. Darüber
ist er überraschenderweise nicht unglücklich: "Chinas Atomkraft befand sich
auf eine Art großem Sprung nach vorn. Als hätte Mao den Befehl gegeben. Es
ging alles viel zu schnell. Wir waren in den letzten Jahren geradezu
verrückt", reflektiert der Atommann.
Was ihm als Experten besonders auffiel: Die Sicherheit der Atomkraftwerke
kam zu kurz. Immer mehr unerfahrene Zulieferfirmen drängten auf die
Baustellen. In Atomfragen unausgebildete Ingenieure leiteten die Arbeiten.
Lokalregierungen verlangten ohne jede Abwägung den Bau von immer mehr
Reaktoren, die ihnen hohe Steuereinnahmen versprachen. Das alles entglitt
der Kontrolle Pekings. "In China gab es bisher keine Gegenstimme zur
Atomkraft. Der Regierung fehlte jedes Bewusstsein für ihre politische
Risiken", sagt der Atommanager. Doch er glaubt, dass sich die Dinge nach
Fukushima entscheidend geändert haben. Aus seiner Sicht hat die Regierung
die Ereignisse genutzt, um dem überhasteten AKW-Boom ein Ende zu bereiten.
Das Ergebnis sei bereits spürbar, meint der Atomexperte. Die ausstehenden
Genehmigungsverfahren wird man langfristig verzögern. Inlandsprojekte an
Flüssen haben keine Chance mehr. Das Umweltministerium wird als
industrieferne Aufsicht eine größere Rolle spielen. Erdbeben- und
Tsunamischutz bekommen eine neue Bedeutung.
Das gelte auch für die Baustelle in Lianyungang. "Fukushima kam für China
gerade zur rechten Zeit", verabschiedet sich der Manager zu später Stunde
im Hotel. Nichts von dem, was er gesagt hat, lässt sich in China offiziell
dingfest machen. Aber alles deutet darauf hin, dass sich am AKW-Standort
Lianyungang viel ändern wird. Der Grund dafür sind nicht zuletzt die
versteckten Ängste der Bewohner. Sie zwingen Regierung und Atomindustrie
zum Handeln. Vielleicht kann der junge Fischer Xu schon bald offen über sie
reden. * Name geändert
29 Jul 2011
## AUTOREN
Georg Blume
## TAGS
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