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# taz.de -- Haltbarkeit von Lebensmitteln: Genießbar, obwohl abgelaufen
> Viele halten Lebensmittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum für
> verdorben. Das ist oft falsch – und führt zu großer Verschwendung. Die
> Industrie profitiert davon.
Bild: Nein, das ist nicht der Termin zum Wegwerfen.
Fruchtquark, auf dem Schimmelrasen grünt, und Milch, die in Flocken aus der
Tüte fällt, sind zweifellos Kandidaten für den Abfalleimer! Doch so klar
ist das Urteil über die Genusstauglichkeit von Lebensmitteln im Alltag
selten. Ohne deutliche Zeichen von Verfall sind viele Verbraucher unsicher,
ob ein vor Wochen gekaufter Joghurt noch gut sein kann oder wann man
Schinkenscheiben besser wegwirft, statt sie aufs Brot zu legen.
Ernährungswissenschaftler erstaunt die verbreitete Ratlosigkeit in solchen
Fragen kaum. Guido Ritter, Professor im Institut für nachhaltige Ernährung
und Ernährungswirtschaft an der Fachhochschule Münster, erklärt sie mit der
wachsenden Distanz zwischen Konsumenten und Produzenten – und dem immer
weiter abnehmenden Wissen von Verbrauchern über Haltbarkeit von
Lebensmitteln.
Je weniger die Verbraucher sich auf die eigene Urteilsfähigkeit über den
Zustand ihres Kühlschrankinhalts verlassen könnten, desto mehr müssten sie
eben dem vertrauen, was auf der Verpackung steht, sagt Ritter.
Fragt sich nur, wieweit die sachliche Grundlage von Produktkennzeichnungen
und das Verständnis der Verbraucher davon in der Praxis tatsächlich
übereinstimmen. Im Fall der Haltbarkeitsdaten, die Ritter hier meint,
scheinen Zweifel angebracht.
## Der große Teil ist noch genießbar
Das bestätigen aktuelle Studien. Felicitas Schneider vom Wiener Institut
für Abfallwirtschaft durchsucht Mülltonnen und Supermarktcontainer nach
Essbarem und befragt Haushalte dazu.
Sie stellte fest, dass ein großer Teil der 50 Kilogramm Essen, die ein
Durchschnittshaushalt im Jahr wegwirft, noch ohne Weiteres genießbar
gewesen wäre. Doch, so Schneider, "fast die gesamte Probandengruppe war der
Auffassung, dass ein Lebensmittel nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums
automatisch auch verdorben ist." Ein Missverständnis, das wohl nicht nur in
Österreich nennenswert zur Lebensmittelvernichtung beiträgt.
Auch die deutsche Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung (LMKV) sieht
Datumsangaben vor, die explizit auf Haltbarkeitsgrenzen verweisen. Um
Haltbarkeit im engeren Sinn geht es aber nur beim "Verbrauchsdatum",
beispielsweise auf abgepacktem Frischfleisch oder Fisch.
Dazu Paragraf 7a der LMKV: "Bei in mikrobiologischer Hinsicht sehr leicht
verderblichen Lebensmitteln, die nach kurzer Zeit eine unmittelbare Gefahr
für die menschliche Gesundheit darstellen könnten, ist (…) das
Verbrauchsdatum anzugeben." Und: "Lebensmittel (…) dürfen nach Ablauf des
Verbrauchsdatums nicht mehr in den Verkehr gebracht werden." Daran ist
nichts misszuverstehen.
## Irreführendes Datum auf der Packung
Was auf allen anderen Produkten, außer beispielweise frischem Obst und
Gemüse, steht, heißt "Mindesthaltbarkeitsdatum". Und das ist, gelinde
gesagt, irreführend. Denn anders als seine Bezeichnung nahelegt, ist das
Datum mitnichten eine Frist für den gesundheitlich unbedenklichen Verzehr
eines Produkts.
"Das Mindesthaltbarkeitsdatum eines Lebensmittels ist das Datum, bis zu dem
dieses Lebensmittel unter angemessenen Aufbewahrungsbedingungen seine
spezifischen Eigenschaften behält", sagt Paragraf 7 der LMKV. Hier ist nur
vom Genusswert des Produkts die Rede. Es geht um Aroma, Vitamingehalt oder
Konsistenz, nicht um Verderblichkeit.
Von einem Verkehrsverbot nach Ablauf des Datums steht nichts im Text. Dass
dafür auch kaum Veranlassung bestünde, hat unter anderem eine Reihe von
Stichprobenstudien gezeigt, die Guido Ritter im Auftrag von Stern TV
durchgeführt hat.
Lebensmittel waren danach oft weit über das Mindesthaltbarkeitsdatum hinaus
in einwandfreiem Zustand, geschmacklich und mikrobiologisch. Dass unklare
Begriffe von Genusstauglichkeit die Konsequenz haben, unsere Mülltonnen mit
Lebensmitteln zu füllen, beweisen Felicitas Schneiders Wiener
Abfallanalysen deutlich genug.
Guido Ritter sieht deshalb auch hierzulande Forschungsbedarf im Umgang mit
Haltbarkeitsdaten: "Die Angabe der Mindesthaltbarkeit auf verpackten
Lebensmitteln wird zu oft fälschlich als Verfallsdatum wahrgenommen. Mit
der Folge, dass viel mehr für verdorben gehalten und weggeworfen wird als
nötig. Wie stark dieses Missverständnis bei uns zur Essensvernichtung
beiträgt und wie man dem entgegenwirken kann, müssen wir genauer
untersuchen."
## Mülltaucher leben gesünder, als viele denken
Menschen, die einwandfreies Essen aus Supermarktcontainern retten, könnten
Ritter einiges erzählen über die Mengen originalverpackter Lebensmittel,
die dort oft bereits Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums landen.
Als der Kölner Dokumentarfilmer Valentin Thurn solchen "Mülltauchern" mit
der Kamera folgte, war er fassungslos über das Ausmaß an Verschwendung vor
seiner Linse.
Doch so sieht sie eben aus, die Kehrseite aufdringlich beworbener
"Frischegarantien", mit denen der Handel die flüchtige Kundschaft an der
Regalfront zu halten versucht. Letztere sorgen für verschärftes
Aussortieren und erziehen Verbraucher dazu, Haltbarkeitsdaten für eine
amtliche Instanz zu halten, der man besser folgt. Da landet dann Tage
später der superfrische Frischkäse, der eben noch die Lücke eines
aussortierten Vorgängers im Supermarkt füllte, selbst ungeöffnet im
Hausmüll.
Was kaum ein Verbraucher weiß: Das Mindesthaltbarkeitsdatum wird von keiner
Behörde festgelegt. Diese Angabe darf von den Herstellern selbst
aufgedruckt werden.
## Der Dokufilm "Taste the Waste"
Valentin Thurn hat seine Begegnungen mit Mülltauchern zum Anlass genommen,
sich intensiver mit dem Thema Essensvernichtung und den beteiligten
Akteuren zu befassen. Für seinen Film "Taste the Waste", der Anfang
September bei uns in die Kinos kommen wird, hat der Journalist rund um den
Globus recherchiert. Er kommt darin unter anderem zu dem Schluss, es
scheine sich trotz enger Margen für die Lebensmittelindustrie zu rechnen,
Überschuss für die Tonne zu produzieren.
Über die Hälfte aller Lebensmittel landet nach Thurns Recherchen in
Deutschland im Müll. Viel davon scheint dem Umgang mit
Mindesthaltbarkeitsfristen geschuldet. Wie viel genau, muss die
Wissenschaft klären. Ihre Zahlen sollten aber weder Verbraucher noch
Politik abwarten, um der Lebensmittelverschwendung einen Riegel
vorzuschieben.
7 Aug 2011
## AUTOREN
Gundula Oertel
## TAGS
Lebensmittel
Foodsharing
Containern
Lebensmittel
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