Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- New Yorker und ihr Alltag nach dem Terror: "Ich trage keinen Bürge…
> Kein heißes Pflaster für Patriotismus - Künstler, Medienschaffende und
> Intellektuelle sprechen über ihren Alltag in New York und ihre
> Wahrnehmung der USA, zehn Jahre nach 9/11.
Bild: Der Schriftsteller Rick Moody glaubt, die Auseinandersetzungen zwischen R…
Politisches Ressentiment blendet es gern aus: Aber die USA sind ein Land
voller Widersprüche. Und diese Widersprüche sind seit 9/11 stärker
geworden, nicht schwächer. Sichtbar etwa an der erstarkten
fundamentalistischen Rechten auf der einen Seite und an der losen
progressiven Bewegung, die Obama ins Amt gehievt hat auf der anderen.
An Obama selbst, der kein radikaler Neuerer ist, sondern
Mitte-links-Politik macht. An dem Selbstverständnis der USA als Weltmacht,
wie an der Selbstkritik, die die Amerikaner an ihrem Land üben. Besser als
in New York lassen sich diese Widersprüche nirgendwo beobachten. New York
war und ist Mekka der Superreichen, aber auch Heimat newder arbeitenden
Bevölkerung und einer Mittelklasse, die das Kulturleben der Stadt genauso
geprägt hat, wie die welthaltige bürgerliche Hochkultur.
Sentimentalität mag sich Tim Sweeney nicht erlauben. "Wir müssen immer in
Bewegung bleiben, Geld verdienen, um unsere Mieten zahlen zu können,
versuchen, den Traum wahrzumachen", sagt der 32-jährige DJ und Moderator
der New Yorker Radiosendung "Beats in Space". Wer als internationaler DJ
auf sich hält, legt bei Sweeney in der Sendung auf. Er ist eine der
Figuren, die das Popgeschehen in New York gestalten. Am besten zu erreichen
ist er jedoch per E-Mail, weil er pausenlos unterwegs ist in der
Weltgeschichte, um Platten aufzulegen. "Nach all meinen Reisen kann ich
sagen, in New York ist die Mischung an Menschen mit unterschiedlicher
Herkunft einfach am größten, deshalb fühle ich mich auch wohl."
## "New York war im Ausnahmezustand"
Sweeney ist in Baltimore aufgewachsen, 1999 nach New York gezogen. Wenn er
keine DJ-Engagements hat, arbeitet er im Aufnahmestudio der Plattenfirma
DFA. Seit 13 Jahren sendet er jede Woche eine Folge von "Beats in Space".
Auch am 13. September 2001 ging Sweeney auf Sendung, zwei Tage nach den
Anschlägen auf das World Trade Center. "Durch Manhattan patrouillierten
Militärfahrzeuge, New York war im Ausnahmezustand. Ich habe Musik gespielt,
Platten gemischt und versucht, die Ereignisse für den Moment auszublenden."
Ganz so wie vorher sei New York nicht mehr. Was den Jahrestag anbetrifft,
ärgert Sweeney, dass es so lange gedauert hat, bis eine Gedenkstätte
entstanden ist. "Die neu entstandenen Gebäude sind nur ein müder Abklatsch
der Twin Towers. Als ich nach New York gezogen bin, hat mich der Blick von
der Sixth Avenue hinunter auf die beiden Türme fasziniert, und ich vermisse
ihn."
Sentimental wird der afroamerikanische Schriftsteller und Jazzkritiker
Amiri Baraka nur, wenn es um das Kulturleben von New York geht. Eine Stadt,
in der der 77-Jährige in den Fünfzigern und Sechzigern gelebt hat. Ihr hat
er als Künstler alles zu verdanken. In New York reüssierte er zuerst als
Autor am Theater und als Schriftsteller, dort schrieb er für renommierte
Zeitungen und Zeitschriften über Jazz, zu einer Zeit, "als diejenige Musik
mit den größten Experimenten am populärsten war." Die Atmosphäre in New
York habe ihm dabei geholfen, "kritisches Bewusstsein" zu entwickeln, sagt
Baraka, zu dessen Freunden Musiker wie Archie Shepp zählten.
## Gentrifizierung New Yorks
Er empfängt mich in seinem Haus in Newark, New Jersey, zum Lunch. Dorthin
hat er sich Anfang der Siebziger zurückgezogen. Seit 1970 wird Newark von
schwarzen Bürgermeistern regiert. Auf den jetzigen, für den Barakas Sohn
als Berater arbeitet, müsse er besonders aufpassen. Der habe 100 Millionen
US-Dollar von Facebook bekommen, um eine Privatschule zu erbauen. Auch die
Vorstädte in New Jersey bekämen nun die Gentrifizierung New Yorks zu
spüren. Die Gebühren für Hausbesitzer schnellen in die Höhe.
Bei Orangensaft, Spiegeleiern mit Speck und gebuttertem Toast redet er sich
in Fahrt. Unmittelbar nach 9/11 hat Baraka eine Sonderausgabe der
Zeitschrift Unity & Struggle mit der Schlagzeile "Revolutionaries against
Terrorism" veröffentlicht. Inzwischen gehört er zu den 45 Prozent
Amerikanern, die laut einer Umfrage von Gallup keine Geschichte mehr
glauben, die ihnen offiziell erzählt wird. Baraka hängt bei 9/11
Verschwörungstheorien an.
Er sagt, die US-Regierung habe die Anschläge zugelassen. Die Wallstreet
liege auf dem am besten bewachten Terrain des Landes, dorthin könne niemand
unbemerkt Verkehrsflugzeuge steuern. Ob er damit sagen wolle, die USA haben
den Tod von mehr als 3.000 ihrer Bürger in Kauf genommen, frage ich Baraka.
"Was interessiert die schon 3.000 Menschenleben. 9/11 war doch Türöffner
für die Kriege in Afghanistan und Irak." In Wahrheit gehe es ums Öl.
In Afghanistan, meint er das ernst? Ja, "dort haben sie Mineralien
entdeckt". Schnell fällt das Gespräch auf den Nahen Osten. Auch in Libyen
würde sich alles ums Öl drehen. Und dann beglückwünscht er den Gast aus
Deutschland dafür, dass sein Staat nicht an den Bombardements auf Libyen
beteiligt gewesen sei.
## Von Freiheit zu Repression
Ansonsten fällt ihm für die Geschehnisse beim arabischen Frühling der
französische Begriff "joie distante" ein. Während Homeland Security als
Wortschöpfung Baraka an die deutsche Sprache erinnert. "Die USA haben nach
den Anschlägen einen ganz anderen Charakter angenommen, wir werden seither
nicht mehr mit Freiheit oder Demokratie assoziiert, sondern mit einem Image
als repressiver Staat."
Positiver sieht Baraka die Entwicklung der Beziehungen unter den
verschiedenen Herkunftsgruppen in seinem Heimatland. Er war eine der
prominenten Stimmen der Black-Power-Bewegung und hat zusammen mit seiner
zweiten Frau den Kampf um die gesellschaftliche Gleichstellung der
Schwarzen seit den Sechzigern mit ausgefochten. Das hat Kraft gekostet.
An seiner rechten Schläfe prangt eine Narbe. Die habe ihm ein Polizist bei
Auseinandersetzungen in seiner Heimatstadt Newark zugefügt, sagt Baraka.
"Seit Obamas Wahlsieg haben sich die Rassenbeziehungen gebessert. Es gibt
eine wachsende Anzahl wohlhabender und auch politisch einflussreicher
Schwarzer. Auch wenn er uns in Einigem enttäuscht hat, werden wir ihn
weiterhin unterstützen, wir haben gar keine andere Wahl."
## "Eine starke Rechte mit faschistoiden Tendenzen"
Über den Zustand der Republikaner schüttelt Baraka nur den Kopf. Er erwähnt
Rick Perry, den Gouverneur von Texas mit Ambitionen als republikanischer
Präsidentschaftskandidat, der neulich gesagt habe, die Arbeitslosigkeit sei
mit Gebeten überwindbar. "Manchmal erinnert mich der Zustand Amerikas an
Deutschland während der Weimarer Republik. Es gibt Obama, auf den die
progressiven Kräfte aufpassen müssen, und es gibt eine starke
fundamentalistische Rechte mit faschistoiden Tendenzen."
Auch Ned Sublette schaudert es vor Rick Perry, den er einen "theokratischen
Sezessionisten" nennt. Anders als Amira Baraka lässt Sublette an Präsident
Obama aber kein gutes Haar. Der lasse sich von der Wallstreet zu viel
reinreden. Zum Gespräch treffe ich den 60-jährigen Musiker und Autor im
Baruch-College an der 24 Street East in Manhattan, wo er einen Kurs über
hispanische Geschichte gibt.
Auf dem Parkplatz einige Meter neben dem Schulgebäude beträgt die
Monatsmiete für einen Pkw mehr als 500 US-Dollar. Sublette besitzt kein
Auto. Seit 1976 lebt er in New York. Er gehörte zur sogenannten
Downtown-Szene, spielte unter anderem in der Band Love of Life Orchestra
und hat Bücher verfasst, darunter ein Standardwerk zur Musikgeschichte
Kubas. "Lange bevor es das Internet gab, lebten wir in New York das World
Wide Web. Man konnte Ende Siebziger spielend von einer Realität in die
nächste tauchen. Die meisten Künstler wohnten in Laufweite."
Mitte der Siebziger war New York bankrott. Musiker und Künstler eigneten
sich Manhattan an, es gab bezahlbaren Wohnraum, Clubs und Galerien,
alternative Medien und Radiosender. Mit Gelegenheitsarbeiten konnte man
sich über Wasser halten. Die Produktivität jener Jahre ist Stoff für
Legenden. Aus den Nischen von einst ist Weltkulturerbe geworden, nur sind
viele der legendären Orte und Akteure schon lange vor 9/11 verschwunden.
## Kein Sinn für Gemeinschaft
Heute fühlt sich Sublette in Manhattan unwohl. Der Sinn für Gemeinschaft
sei den Bewohnern abhanden gekommen. Die Infrastruktur sei einzig auf
Touristen zugeschnitten. In seiner Straße gäbe es keinen Supermarkt mehr,
nur noch teure "High-end Healthy Food"-Boutiquen. Künstler müssten sich in
Stadtrundfahrtbussen als Touristenführer durchschlagen.
Es sei verdammt schwer, als Angehöriger der Mittelklasse über die Runden zu
kommen. Sublette hat keine Krankenversicherung. Stipendienaufenthalte von
Universitäten helfen ihm, Bücher zu schreiben, und er schlägt sich als
Gastdozent durch. Für den 11. September 2011 wünscht er sich am liebsten
einen Hurrikan.
Mit 9/11 wurde die Transformation Manhattans unterbrochen. Aber seit
einiger Zeit hat die Gentrifizierungsschraube wieder angezogen, der Markt
für Immobilien boomt. Sublette vergleicht diesen Boom mit Kannibalismus,
Denkmalschutz existiere praktisch nicht. Alte Gebäude werden abgerissen, um
Platz für Neue zu schaffen. Im August wurde das Chelsea Hotel geschlossen.
Das Gebäude ist verkauft, es soll abgerissen werden.
## Mieten verteuerten sich drastisch
"Im Jahr 2011 ist New York für Künstler so unattraktiv wie nie zuvor."
Menschen, die nach New York ziehen, blicken immer neidisch auf diejenigen,
die dies schon zehn Jahre zuvor getan hätten, sagt der Musiker und
Professor für Creative Writing, David Grubbs, weil sich Mieten in New York
innerhalb eines Jahrzehnts drastisch verteuerten.
1999 war der 43-Jährige nach New York gezogen. Seither wohnt mit er mit
seiner berufstätigen Frau und ihrem kleinen Sohn in Brooklyn; zunächst in
Park Slope, inzwischen in Bedford-Stuyvesant, einem afroamerikanisch
geprägten Viertel, in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Auch Queens ist zu
einem Ausweichquartier für Kulturschaffende geworden, in Manhattan leben
nur noch Reiche.
New York sei auch nach 9/11 kein heißes Pflaster für Patriotismus gewesen,
so David Grubbs. In den nationalen Medien und im Rest des Landes sei
dagegen Stimmung gegen Muslime gemacht worden. So ähnlich muss es in der
Ära McCarthy gewesen sein, meint er. "Bereits Bushs Wahlsieg im November
2000 empfand ich als Tragödie, seine Wiederwahl 2004 war dann das größte
politische Debakel, an das ich mich erinnern kann. Dass Bush und Cheney
9/11 als Begründung für den Krieg gegen Saddam ausgegeben haben, hat mich
sprachlos gemacht."
## Direkter Zusammenhang zwischen Außen- und Innenpolitik
Alle, mit denen ich in New York gesprochen habe, sehen einen direkten
Zusammenhang zwischen der US-Außen- und der Innenpolitik. Auch David
Grubbs. "Es ist viel wichtiger für die USA, dass sie im Nahen und Mittleren
Osten eine Politik macht, die dem Humanitären verpflichtet ist, als dass
sie ihre Landesgrenzen abschirmt und Fluggäste mit besseren Scannern
überprüft.
Durch 9/11 war unsere Stadt zum Anschlagsziel geworden. Auch ich war davon
wie erstarrt. Und ich hatte den fatalistischen Gedanken, dass es jederzeit
wieder passieren könnte. Das empfand ich weitaus gravierender als alle
hastig eingeführten Sicherheitsmaßnahmen."
Grubbs Sohn besucht eine Schule, in der 90 Prozent der Schüler schwarz
sind. Präsident Obama gilt als Vorbild für die Schüler, erzählt Grubbs.
Sein Erfolg beflügele nicht nur die Schüler, sondern das ganze Land. An
Obama stört Grubbs aber, dass er sich von den Republikanern zu viel bieten
lasse.
Dem Jahrestag von 9/11 sieht Grubbs mit gemischten Gefühlen entgegen: "Der
zehnte Jahrestag von 9/11 ist nicht zu vergleichen mit dem Gedenken an
Pearl Harbour 1951. Damals war der Zweite Weltkrieg siegreich beendet, und
unser Land war zur Normalität zurückgekehrt. Aber unsere Wirtschaft leidet
an einem Trauma und politisch droht Stillstand, woran vor allem die Tea
Party schuld ist. Es gibt nichts zu feiern, außer, dass es seit dem 11.
September 2001 nicht noch weitere schwere Anschläge gegeben hat."
## Von der üppigen zur zögerlichen Supermacht
Farai Chideya treffe ich in einem Großraumbüro im Dumbo-Viertel von
Brooklyn, wo sie für die Kreativagentur ETSY als Beraterin tätig ist.
Bekannt wurde Chideya aber als Journalistin. Sie hat vier
US-Präsidentschaftswahlkämpfe journalistisch begleitet.
Auf die Frage, ob ihr Land mit 9/11 den Nimbus der Unverwundbarkeit
verloren habe, antwortet die preisgekrönte Autorin: "Vor dem Terrorakt
handelte die USA als üppige Supermacht, inzwischen sind wir so etwas wie
eine zögerliche Supermacht geworden." Obama, sagt sie, sei viel stärker mit
der Welt verbunden, als sein Vorgänger. Aber die Außenpolitik habe sich
nicht grundlegend gewandelt.
"Wir geben immer noch immense Summen zur Bekämpfung des Terrorismus aus,
was man etwa an der Aktion zur Erschießung bin Ladens sehen kann. Wir
stecken tief im Morast der Kriege nach 9/11. Diese Engagements kosten
Unsummen und bringen wenig für unsere Sicherheit." Auf den Jahrestag blickt
sie mit Sorge. "Viel stärker als Ground Zero sorgt die Amerikaner die
Situation am Arbeitsmarkt, die verloren gegangenen Jobs in Industrie und
Handwerk. Wie die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen soll, wissen wir
nicht."
Die 42-jährige Autorin ist eine Spezialistin für Sicherheitspolitik.
Eingehend hat sie sich mit dem Thema Datenschutz befasst. Mit 9/11 kam das,
was sie Bewusstsein für totale Information nennt. "Der Zugang zu
Informationen sollte frei und unbegrenzt sein. Bei Beschränkungen wachsen
meine Zweifel.Nach 9/11 hat die US-Regierung Unmengen von Personendaten
gesammelt, zu denen nur bestimmte Behörden Zugang hatten", sagt Chideya.
## "Neuorganisation der Sicherheitspolitik war übereilt"
Sie wisse nicht, wem die Arbeit des damals ins Leben gerufenen Ministeriums
für Heimatschutz tatsächlich nutze. Für das Ministerium würden
Untereinheiten arbeiten, die alles "von Grenzsicherung, über Abhöraktionen
bis zur Einwanderung" unter dem Banner der nationalen Sicherheit
koordinierten. "Diese Neuorganisation der Sicherheitspolitik nach 9/11 war
übereilt, teuer und wenig überdacht, und sie warf viele juristischen Fragen
auf."
Erleichterung habe er empfunden, als er von Osama bin Ladens Tod erfahren
habe. Moustafa Bayoumi sagt, er fühle sich als Weltbürger. Der Professor
für Englisch und Postcolonial Studies am Brooklyn City College wurde als
Kind libanesischer Eltern in Zürich geboren und wuchs in Kanada auf.
Allein seine Existenz sei schon die Antithese zu Samuel Huntingtons "Kampf
der Zivilisationen", dem auch die Islamisten anhängen. "Ich bin ein Mix aus
Ost und West, und ich trage keinen Bürgerkrieg in meinem Körper", erklärt
Bayoumi. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitet er für den Fernsehsender CNN
und die Zeitschrift The Nation.
Ich treffe ihn in einem Café im Brooklyner Stadtteil Clinton Hill. Bayoumi
spricht schnell, druckreif. Er wirkt diskussionserprobt, allerdings auch
sehr vorsichtig. In den USA machte er Furore mit seinem Buch "How does it
feel to be a problem. Being young and Arab in America", einer Chronik der
Repression gegen junge arabische Amerikaner nach 9/11, ein Viertel davon
Muslime, viele Christen, einige Juden, andere nicht religiös. Bayoumi
selbst wurde muslimisch erzogen. Viele junge Arab-Americans seien nach 9/11
religiöser geworden. Er nicht. Religion sei bei ihm nie Thema gewesen. Er
habe sich lieber intellektualisiert.
## Schelchte Beziehungen unter der Bevölkerung
Anders als Amiri Baraka empfindet Bayoumi, dass sich in den letzten zehn
Jahren die Beziehungen in den USA unter den Bevölkerungsgruppen
verschlechtert hätten. Er zitiert den französischen Philosophen Etienne
Balibar, der festgestellt habe, auch Rassismus sei Paradigmenwechseln
unterworfen. In den USA seien Schwarze nicht mehr die Sündenböcke, diese
Rolle müssten nun Latinos und Muslime spielen. 2002 hätten ein Drittel der
US-Amerikaner Vorbehalte gegen Araber geäußert, 2010 wäre es mehr als die
Hälfte der Bevölkerung.
"Rassismus, der auf Hautfarbe basiert, wird heute sogar in rechten Kreisen
als rückwärtsgewandt angesehen." Bayoumi spricht an Colleges und
Universitäten und an liberalen Schulen, an anderen nicht. Die USA sind
polarisiert, ein großes Problem, beiden Lager sprächen kaum miteinander.
Bayoumi hat im August seinen US-Einbürgerungstest bestanden. Diesen Monat
erhält er seine Staatsbürgerurkunde.
Mit dem Schriftsteller Rick Moody spreche ich auf einer Autofahrt durch
Brooklyn. Eine Fahrt, vorbei an chassidischen Juden in Williamsburg, die
aus einem Schulgebäude strömen, und Schwarzen in Clinton Hill, die auf
einer Baustelle arbeiten.
Der 50-Jährige erinnert sich an eine Zeit vor 9/11, als das Leben in New
York von Konflikten zwischen Klassen, Rassen, Religionen geprägt war. Diese
Auseinandersetzungen gerieten mit den Anschlägen in den Hintergrund. "Es
gab danach ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir New Yorker waren in Bezug
auf die US-Außenpolitik nun exponierter als der Rest des Landes", befindet
Moody. "Mit 9/11 verblasste der Mythos von der offenen Gesellschaft. Dafür
sorgte Bush. Dass wir als Militärmacht unverwundbar sind, war auch nicht
mehr haltbar. Aber das waren eher hässliche amerikanische Mythen als New
Yorker Mythen."
Muslime waren bereits vor 9/11 nicht aus New York wegzudenken. Das
Taxigewerbe und die Corner-Stores sind seit eh und je in
arabisch-amerikanischer Hand. "In Queens ist es nicht verkehrt, wenn man
Pandschabi oder Persisch versteht." Moody hat sich in seinen Werken nur am
Rande mit den Auswirkungen von 9/11 beschäftigt. In dem Roman
"Wassersucher" ließ er einen Richter am obersten Gericht den Satz
"Menschenrechte sind etwas für Sklaven" sagen. In der Novelle "The
Albertine Notes" stellte er ein traumatisiertes New York nach einem
Neutronenbombenabwurf dar.
## Zu wenig Kenntnis von den Nuancen
"Nach wie vor finde ich es schwierig, 9/11 fiktional darzustellen. Wir
haben dafür noch zu wenig Kenntnis von seinen Nuancen. Es hat auch
Jahrzehnte gedauert, bis der Vietnamkrieg packend in der Literatur
dargestellt wurde. Viele Romane haben die Ereignisse um 9/11 nur
ausgeschlachtet, das wurde sehr tendenziös, und das will ich vermeiden."
Moody glaubt, dass die anhaltende Rezession vor allem die untere
Mittelklasse und die arbeitenden Armen treffen wird. Letztendlich würden
die ethnischen Beziehungen davon in Mitleidenschaft gezogen. "Ich habe eine
ambivalente Beziehung zum US-Marktkapitalismus." Der politische Apparat
wurde nach 9/11 von einem einseitigen und unkontrollierbaren Kapitalismus
mobilisiert. Der Rüstungskonzern Halliburton hat den Irakkrieg für sich
genutzt, und die Bush-Regierung hat mit ihrem Katastrophenkapitalismus das
Ölgeschäft dereguliert und das Kriegführen einer neoliberalen Logik
unterzogen.
New Yorker meiden diesen Ort am liebsten. Zu sehr ist Ground Zero für sie
mit traumatischen Erinnerungen verbunden. Da, wo damals zwei von al-Qaida
entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers gesteuert wurden
und 3.000 Menschen töteten, klafft eine Lücke.
Schutt und Trümmer der eingestürzten Zwillingstürme sind lange beseitigt.
Die Baulücke ist zur Touristenattraktion geworden, obwohl es nicht viel zu
sehen gibt. An der Gedenkstätte in den Grundmauern wird noch fieberhaft
gebaut, Zäune und Absperrungen verhindern den direkten Blick. Trotzdem sind
die Straßen ringsum von Neugierigen gesäumt, die die Schautafeln studieren
und die Bauarbeiten fotografieren und filmen.
Um die Ecke nutzt eine Demonstration von Angestellten des Telefonkonzerns
Verizon die Aufmerksamkeit. Sie protestieren gegen Rentenkürzungen und
haben sich in der Nähe des symbolträchtigen Ortes versammelt. Alle in roten
T-Shirts, einige mit US-Flaggen. Ground Zero ist der einzige Ort in New
York, an dem noch so etwas wie Patriotismus festzustellen ist.
9 Sep 2011
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Schwerpunkt 9/11
9/11
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt 9/11
Schwerpunkt 9/11
Schwerpunkt 9/11
Schwerpunkt 9/11
## ARTIKEL ZUM THEMA
15 Jahre nach 9/11: Der Himmel über Ground Zero
Vor 15 Jahren zerstörten Terroristen das World Trade Center. Seither
herrscht Angst in den USA. Ein Besuch an der Gedenkstätte in Manhattan.
Rassismus in New Yorker Polizeieinheit: Die üblichen Verdächtigen
Die New Yorker Polizei gibt eine Einheit zur Überwachung von Muslimen auf.
Die Ausspähung hatte die Muslime unter einen ständigen Terrorverdacht
gestellt.
Die USA zehn Jahre nach 9/11: Trauer ohne Politik
Mit bewegenden Feiern haben die USA der Opfer der Terroranschläge vom 11.
September 2001 gedacht. Nicht eingeladen: die New Yorker Feuerwehr. Das
sorgte für Unmut.
Zehn Jahre nach den Anschlägen von 9/11: Tag des Gedenkens
Am zehnten Jahrestag von 9/11 verwandelt sich New York in eine Festung.
Grund sind neue Anschlagsdrohnungen. Die Feiern zum Gedenken an die Opfer
sollen ohne politische Untertöne ablaufen.
Was Mächtige mit der Sprache anstellen: Die Leibwache der Wahrheit
"Krieg gegen den Terror", "Achse des Bösen" - ein Wiedersehen mit den
Begriffen, welche uns in den zehn Jahren nach 9/11 heimgesucht haben.
Terrorexperte über 9/11-Folgen: "Krieg war das Mittel erster Wahl"
Eric Schmitt, Terrorexperte der "New York Times", über konservative
Hardliner, eingeschränkte Bürgerrechte in den USA und die Nervosität der
Geheimdienste.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.