# taz.de -- New Yorker und ihr Alltag nach dem Terror: "Ich trage keinen Bürge… | |
> Kein heißes Pflaster für Patriotismus - Künstler, Medienschaffende und | |
> Intellektuelle sprechen über ihren Alltag in New York und ihre | |
> Wahrnehmung der USA, zehn Jahre nach 9/11. | |
Bild: Der Schriftsteller Rick Moody glaubt, die Auseinandersetzungen zwischen R… | |
Politisches Ressentiment blendet es gern aus: Aber die USA sind ein Land | |
voller Widersprüche. Und diese Widersprüche sind seit 9/11 stärker | |
geworden, nicht schwächer. Sichtbar etwa an der erstarkten | |
fundamentalistischen Rechten auf der einen Seite und an der losen | |
progressiven Bewegung, die Obama ins Amt gehievt hat auf der anderen. | |
An Obama selbst, der kein radikaler Neuerer ist, sondern | |
Mitte-links-Politik macht. An dem Selbstverständnis der USA als Weltmacht, | |
wie an der Selbstkritik, die die Amerikaner an ihrem Land üben. Besser als | |
in New York lassen sich diese Widersprüche nirgendwo beobachten. New York | |
war und ist Mekka der Superreichen, aber auch Heimat newder arbeitenden | |
Bevölkerung und einer Mittelklasse, die das Kulturleben der Stadt genauso | |
geprägt hat, wie die welthaltige bürgerliche Hochkultur. | |
Sentimentalität mag sich Tim Sweeney nicht erlauben. "Wir müssen immer in | |
Bewegung bleiben, Geld verdienen, um unsere Mieten zahlen zu können, | |
versuchen, den Traum wahrzumachen", sagt der 32-jährige DJ und Moderator | |
der New Yorker Radiosendung "Beats in Space". Wer als internationaler DJ | |
auf sich hält, legt bei Sweeney in der Sendung auf. Er ist eine der | |
Figuren, die das Popgeschehen in New York gestalten. Am besten zu erreichen | |
ist er jedoch per E-Mail, weil er pausenlos unterwegs ist in der | |
Weltgeschichte, um Platten aufzulegen. "Nach all meinen Reisen kann ich | |
sagen, in New York ist die Mischung an Menschen mit unterschiedlicher | |
Herkunft einfach am größten, deshalb fühle ich mich auch wohl." | |
## "New York war im Ausnahmezustand" | |
Sweeney ist in Baltimore aufgewachsen, 1999 nach New York gezogen. Wenn er | |
keine DJ-Engagements hat, arbeitet er im Aufnahmestudio der Plattenfirma | |
DFA. Seit 13 Jahren sendet er jede Woche eine Folge von "Beats in Space". | |
Auch am 13. September 2001 ging Sweeney auf Sendung, zwei Tage nach den | |
Anschlägen auf das World Trade Center. "Durch Manhattan patrouillierten | |
Militärfahrzeuge, New York war im Ausnahmezustand. Ich habe Musik gespielt, | |
Platten gemischt und versucht, die Ereignisse für den Moment auszublenden." | |
Ganz so wie vorher sei New York nicht mehr. Was den Jahrestag anbetrifft, | |
ärgert Sweeney, dass es so lange gedauert hat, bis eine Gedenkstätte | |
entstanden ist. "Die neu entstandenen Gebäude sind nur ein müder Abklatsch | |
der Twin Towers. Als ich nach New York gezogen bin, hat mich der Blick von | |
der Sixth Avenue hinunter auf die beiden Türme fasziniert, und ich vermisse | |
ihn." | |
Sentimental wird der afroamerikanische Schriftsteller und Jazzkritiker | |
Amiri Baraka nur, wenn es um das Kulturleben von New York geht. Eine Stadt, | |
in der der 77-Jährige in den Fünfzigern und Sechzigern gelebt hat. Ihr hat | |
er als Künstler alles zu verdanken. In New York reüssierte er zuerst als | |
Autor am Theater und als Schriftsteller, dort schrieb er für renommierte | |
Zeitungen und Zeitschriften über Jazz, zu einer Zeit, "als diejenige Musik | |
mit den größten Experimenten am populärsten war." Die Atmosphäre in New | |
York habe ihm dabei geholfen, "kritisches Bewusstsein" zu entwickeln, sagt | |
Baraka, zu dessen Freunden Musiker wie Archie Shepp zählten. | |
## Gentrifizierung New Yorks | |
Er empfängt mich in seinem Haus in Newark, New Jersey, zum Lunch. Dorthin | |
hat er sich Anfang der Siebziger zurückgezogen. Seit 1970 wird Newark von | |
schwarzen Bürgermeistern regiert. Auf den jetzigen, für den Barakas Sohn | |
als Berater arbeitet, müsse er besonders aufpassen. Der habe 100 Millionen | |
US-Dollar von Facebook bekommen, um eine Privatschule zu erbauen. Auch die | |
Vorstädte in New Jersey bekämen nun die Gentrifizierung New Yorks zu | |
spüren. Die Gebühren für Hausbesitzer schnellen in die Höhe. | |
Bei Orangensaft, Spiegeleiern mit Speck und gebuttertem Toast redet er sich | |
in Fahrt. Unmittelbar nach 9/11 hat Baraka eine Sonderausgabe der | |
Zeitschrift Unity & Struggle mit der Schlagzeile "Revolutionaries against | |
Terrorism" veröffentlicht. Inzwischen gehört er zu den 45 Prozent | |
Amerikanern, die laut einer Umfrage von Gallup keine Geschichte mehr | |
glauben, die ihnen offiziell erzählt wird. Baraka hängt bei 9/11 | |
Verschwörungstheorien an. | |
Er sagt, die US-Regierung habe die Anschläge zugelassen. Die Wallstreet | |
liege auf dem am besten bewachten Terrain des Landes, dorthin könne niemand | |
unbemerkt Verkehrsflugzeuge steuern. Ob er damit sagen wolle, die USA haben | |
den Tod von mehr als 3.000 ihrer Bürger in Kauf genommen, frage ich Baraka. | |
"Was interessiert die schon 3.000 Menschenleben. 9/11 war doch Türöffner | |
für die Kriege in Afghanistan und Irak." In Wahrheit gehe es ums Öl. | |
In Afghanistan, meint er das ernst? Ja, "dort haben sie Mineralien | |
entdeckt". Schnell fällt das Gespräch auf den Nahen Osten. Auch in Libyen | |
würde sich alles ums Öl drehen. Und dann beglückwünscht er den Gast aus | |
Deutschland dafür, dass sein Staat nicht an den Bombardements auf Libyen | |
beteiligt gewesen sei. | |
## Von Freiheit zu Repression | |
Ansonsten fällt ihm für die Geschehnisse beim arabischen Frühling der | |
französische Begriff "joie distante" ein. Während Homeland Security als | |
Wortschöpfung Baraka an die deutsche Sprache erinnert. "Die USA haben nach | |
den Anschlägen einen ganz anderen Charakter angenommen, wir werden seither | |
nicht mehr mit Freiheit oder Demokratie assoziiert, sondern mit einem Image | |
als repressiver Staat." | |
Positiver sieht Baraka die Entwicklung der Beziehungen unter den | |
verschiedenen Herkunftsgruppen in seinem Heimatland. Er war eine der | |
prominenten Stimmen der Black-Power-Bewegung und hat zusammen mit seiner | |
zweiten Frau den Kampf um die gesellschaftliche Gleichstellung der | |
Schwarzen seit den Sechzigern mit ausgefochten. Das hat Kraft gekostet. | |
An seiner rechten Schläfe prangt eine Narbe. Die habe ihm ein Polizist bei | |
Auseinandersetzungen in seiner Heimatstadt Newark zugefügt, sagt Baraka. | |
"Seit Obamas Wahlsieg haben sich die Rassenbeziehungen gebessert. Es gibt | |
eine wachsende Anzahl wohlhabender und auch politisch einflussreicher | |
Schwarzer. Auch wenn er uns in Einigem enttäuscht hat, werden wir ihn | |
weiterhin unterstützen, wir haben gar keine andere Wahl." | |
## "Eine starke Rechte mit faschistoiden Tendenzen" | |
Über den Zustand der Republikaner schüttelt Baraka nur den Kopf. Er erwähnt | |
Rick Perry, den Gouverneur von Texas mit Ambitionen als republikanischer | |
Präsidentschaftskandidat, der neulich gesagt habe, die Arbeitslosigkeit sei | |
mit Gebeten überwindbar. "Manchmal erinnert mich der Zustand Amerikas an | |
Deutschland während der Weimarer Republik. Es gibt Obama, auf den die | |
progressiven Kräfte aufpassen müssen, und es gibt eine starke | |
fundamentalistische Rechte mit faschistoiden Tendenzen." | |
Auch Ned Sublette schaudert es vor Rick Perry, den er einen "theokratischen | |
Sezessionisten" nennt. Anders als Amira Baraka lässt Sublette an Präsident | |
Obama aber kein gutes Haar. Der lasse sich von der Wallstreet zu viel | |
reinreden. Zum Gespräch treffe ich den 60-jährigen Musiker und Autor im | |
Baruch-College an der 24 Street East in Manhattan, wo er einen Kurs über | |
hispanische Geschichte gibt. | |
Auf dem Parkplatz einige Meter neben dem Schulgebäude beträgt die | |
Monatsmiete für einen Pkw mehr als 500 US-Dollar. Sublette besitzt kein | |
Auto. Seit 1976 lebt er in New York. Er gehörte zur sogenannten | |
Downtown-Szene, spielte unter anderem in der Band Love of Life Orchestra | |
und hat Bücher verfasst, darunter ein Standardwerk zur Musikgeschichte | |
Kubas. "Lange bevor es das Internet gab, lebten wir in New York das World | |
Wide Web. Man konnte Ende Siebziger spielend von einer Realität in die | |
nächste tauchen. Die meisten Künstler wohnten in Laufweite." | |
Mitte der Siebziger war New York bankrott. Musiker und Künstler eigneten | |
sich Manhattan an, es gab bezahlbaren Wohnraum, Clubs und Galerien, | |
alternative Medien und Radiosender. Mit Gelegenheitsarbeiten konnte man | |
sich über Wasser halten. Die Produktivität jener Jahre ist Stoff für | |
Legenden. Aus den Nischen von einst ist Weltkulturerbe geworden, nur sind | |
viele der legendären Orte und Akteure schon lange vor 9/11 verschwunden. | |
## Kein Sinn für Gemeinschaft | |
Heute fühlt sich Sublette in Manhattan unwohl. Der Sinn für Gemeinschaft | |
sei den Bewohnern abhanden gekommen. Die Infrastruktur sei einzig auf | |
Touristen zugeschnitten. In seiner Straße gäbe es keinen Supermarkt mehr, | |
nur noch teure "High-end Healthy Food"-Boutiquen. Künstler müssten sich in | |
Stadtrundfahrtbussen als Touristenführer durchschlagen. | |
Es sei verdammt schwer, als Angehöriger der Mittelklasse über die Runden zu | |
kommen. Sublette hat keine Krankenversicherung. Stipendienaufenthalte von | |
Universitäten helfen ihm, Bücher zu schreiben, und er schlägt sich als | |
Gastdozent durch. Für den 11. September 2011 wünscht er sich am liebsten | |
einen Hurrikan. | |
Mit 9/11 wurde die Transformation Manhattans unterbrochen. Aber seit | |
einiger Zeit hat die Gentrifizierungsschraube wieder angezogen, der Markt | |
für Immobilien boomt. Sublette vergleicht diesen Boom mit Kannibalismus, | |
Denkmalschutz existiere praktisch nicht. Alte Gebäude werden abgerissen, um | |
Platz für Neue zu schaffen. Im August wurde das Chelsea Hotel geschlossen. | |
Das Gebäude ist verkauft, es soll abgerissen werden. | |
## Mieten verteuerten sich drastisch | |
"Im Jahr 2011 ist New York für Künstler so unattraktiv wie nie zuvor." | |
Menschen, die nach New York ziehen, blicken immer neidisch auf diejenigen, | |
die dies schon zehn Jahre zuvor getan hätten, sagt der Musiker und | |
Professor für Creative Writing, David Grubbs, weil sich Mieten in New York | |
innerhalb eines Jahrzehnts drastisch verteuerten. | |
1999 war der 43-Jährige nach New York gezogen. Seither wohnt mit er mit | |
seiner berufstätigen Frau und ihrem kleinen Sohn in Brooklyn; zunächst in | |
Park Slope, inzwischen in Bedford-Stuyvesant, einem afroamerikanisch | |
geprägten Viertel, in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Auch Queens ist zu | |
einem Ausweichquartier für Kulturschaffende geworden, in Manhattan leben | |
nur noch Reiche. | |
New York sei auch nach 9/11 kein heißes Pflaster für Patriotismus gewesen, | |
so David Grubbs. In den nationalen Medien und im Rest des Landes sei | |
dagegen Stimmung gegen Muslime gemacht worden. So ähnlich muss es in der | |
Ära McCarthy gewesen sein, meint er. "Bereits Bushs Wahlsieg im November | |
2000 empfand ich als Tragödie, seine Wiederwahl 2004 war dann das größte | |
politische Debakel, an das ich mich erinnern kann. Dass Bush und Cheney | |
9/11 als Begründung für den Krieg gegen Saddam ausgegeben haben, hat mich | |
sprachlos gemacht." | |
## Direkter Zusammenhang zwischen Außen- und Innenpolitik | |
Alle, mit denen ich in New York gesprochen habe, sehen einen direkten | |
Zusammenhang zwischen der US-Außen- und der Innenpolitik. Auch David | |
Grubbs. "Es ist viel wichtiger für die USA, dass sie im Nahen und Mittleren | |
Osten eine Politik macht, die dem Humanitären verpflichtet ist, als dass | |
sie ihre Landesgrenzen abschirmt und Fluggäste mit besseren Scannern | |
überprüft. | |
Durch 9/11 war unsere Stadt zum Anschlagsziel geworden. Auch ich war davon | |
wie erstarrt. Und ich hatte den fatalistischen Gedanken, dass es jederzeit | |
wieder passieren könnte. Das empfand ich weitaus gravierender als alle | |
hastig eingeführten Sicherheitsmaßnahmen." | |
Grubbs Sohn besucht eine Schule, in der 90 Prozent der Schüler schwarz | |
sind. Präsident Obama gilt als Vorbild für die Schüler, erzählt Grubbs. | |
Sein Erfolg beflügele nicht nur die Schüler, sondern das ganze Land. An | |
Obama stört Grubbs aber, dass er sich von den Republikanern zu viel bieten | |
lasse. | |
Dem Jahrestag von 9/11 sieht Grubbs mit gemischten Gefühlen entgegen: "Der | |
zehnte Jahrestag von 9/11 ist nicht zu vergleichen mit dem Gedenken an | |
Pearl Harbour 1951. Damals war der Zweite Weltkrieg siegreich beendet, und | |
unser Land war zur Normalität zurückgekehrt. Aber unsere Wirtschaft leidet | |
an einem Trauma und politisch droht Stillstand, woran vor allem die Tea | |
Party schuld ist. Es gibt nichts zu feiern, außer, dass es seit dem 11. | |
September 2001 nicht noch weitere schwere Anschläge gegeben hat." | |
## Von der üppigen zur zögerlichen Supermacht | |
Farai Chideya treffe ich in einem Großraumbüro im Dumbo-Viertel von | |
Brooklyn, wo sie für die Kreativagentur ETSY als Beraterin tätig ist. | |
Bekannt wurde Chideya aber als Journalistin. Sie hat vier | |
US-Präsidentschaftswahlkämpfe journalistisch begleitet. | |
Auf die Frage, ob ihr Land mit 9/11 den Nimbus der Unverwundbarkeit | |
verloren habe, antwortet die preisgekrönte Autorin: "Vor dem Terrorakt | |
handelte die USA als üppige Supermacht, inzwischen sind wir so etwas wie | |
eine zögerliche Supermacht geworden." Obama, sagt sie, sei viel stärker mit | |
der Welt verbunden, als sein Vorgänger. Aber die Außenpolitik habe sich | |
nicht grundlegend gewandelt. | |
"Wir geben immer noch immense Summen zur Bekämpfung des Terrorismus aus, | |
was man etwa an der Aktion zur Erschießung bin Ladens sehen kann. Wir | |
stecken tief im Morast der Kriege nach 9/11. Diese Engagements kosten | |
Unsummen und bringen wenig für unsere Sicherheit." Auf den Jahrestag blickt | |
sie mit Sorge. "Viel stärker als Ground Zero sorgt die Amerikaner die | |
Situation am Arbeitsmarkt, die verloren gegangenen Jobs in Industrie und | |
Handwerk. Wie die Wirtschaft wieder auf die Beine kommen soll, wissen wir | |
nicht." | |
Die 42-jährige Autorin ist eine Spezialistin für Sicherheitspolitik. | |
Eingehend hat sie sich mit dem Thema Datenschutz befasst. Mit 9/11 kam das, | |
was sie Bewusstsein für totale Information nennt. "Der Zugang zu | |
Informationen sollte frei und unbegrenzt sein. Bei Beschränkungen wachsen | |
meine Zweifel.Nach 9/11 hat die US-Regierung Unmengen von Personendaten | |
gesammelt, zu denen nur bestimmte Behörden Zugang hatten", sagt Chideya. | |
## "Neuorganisation der Sicherheitspolitik war übereilt" | |
Sie wisse nicht, wem die Arbeit des damals ins Leben gerufenen Ministeriums | |
für Heimatschutz tatsächlich nutze. Für das Ministerium würden | |
Untereinheiten arbeiten, die alles "von Grenzsicherung, über Abhöraktionen | |
bis zur Einwanderung" unter dem Banner der nationalen Sicherheit | |
koordinierten. "Diese Neuorganisation der Sicherheitspolitik nach 9/11 war | |
übereilt, teuer und wenig überdacht, und sie warf viele juristischen Fragen | |
auf." | |
Erleichterung habe er empfunden, als er von Osama bin Ladens Tod erfahren | |
habe. Moustafa Bayoumi sagt, er fühle sich als Weltbürger. Der Professor | |
für Englisch und Postcolonial Studies am Brooklyn City College wurde als | |
Kind libanesischer Eltern in Zürich geboren und wuchs in Kanada auf. | |
Allein seine Existenz sei schon die Antithese zu Samuel Huntingtons "Kampf | |
der Zivilisationen", dem auch die Islamisten anhängen. "Ich bin ein Mix aus | |
Ost und West, und ich trage keinen Bürgerkrieg in meinem Körper", erklärt | |
Bayoumi. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitet er für den Fernsehsender CNN | |
und die Zeitschrift The Nation. | |
Ich treffe ihn in einem Café im Brooklyner Stadtteil Clinton Hill. Bayoumi | |
spricht schnell, druckreif. Er wirkt diskussionserprobt, allerdings auch | |
sehr vorsichtig. In den USA machte er Furore mit seinem Buch "How does it | |
feel to be a problem. Being young and Arab in America", einer Chronik der | |
Repression gegen junge arabische Amerikaner nach 9/11, ein Viertel davon | |
Muslime, viele Christen, einige Juden, andere nicht religiös. Bayoumi | |
selbst wurde muslimisch erzogen. Viele junge Arab-Americans seien nach 9/11 | |
religiöser geworden. Er nicht. Religion sei bei ihm nie Thema gewesen. Er | |
habe sich lieber intellektualisiert. | |
## Schelchte Beziehungen unter der Bevölkerung | |
Anders als Amiri Baraka empfindet Bayoumi, dass sich in den letzten zehn | |
Jahren die Beziehungen in den USA unter den Bevölkerungsgruppen | |
verschlechtert hätten. Er zitiert den französischen Philosophen Etienne | |
Balibar, der festgestellt habe, auch Rassismus sei Paradigmenwechseln | |
unterworfen. In den USA seien Schwarze nicht mehr die Sündenböcke, diese | |
Rolle müssten nun Latinos und Muslime spielen. 2002 hätten ein Drittel der | |
US-Amerikaner Vorbehalte gegen Araber geäußert, 2010 wäre es mehr als die | |
Hälfte der Bevölkerung. | |
"Rassismus, der auf Hautfarbe basiert, wird heute sogar in rechten Kreisen | |
als rückwärtsgewandt angesehen." Bayoumi spricht an Colleges und | |
Universitäten und an liberalen Schulen, an anderen nicht. Die USA sind | |
polarisiert, ein großes Problem, beiden Lager sprächen kaum miteinander. | |
Bayoumi hat im August seinen US-Einbürgerungstest bestanden. Diesen Monat | |
erhält er seine Staatsbürgerurkunde. | |
Mit dem Schriftsteller Rick Moody spreche ich auf einer Autofahrt durch | |
Brooklyn. Eine Fahrt, vorbei an chassidischen Juden in Williamsburg, die | |
aus einem Schulgebäude strömen, und Schwarzen in Clinton Hill, die auf | |
einer Baustelle arbeiten. | |
Der 50-Jährige erinnert sich an eine Zeit vor 9/11, als das Leben in New | |
York von Konflikten zwischen Klassen, Rassen, Religionen geprägt war. Diese | |
Auseinandersetzungen gerieten mit den Anschlägen in den Hintergrund. "Es | |
gab danach ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir New Yorker waren in Bezug | |
auf die US-Außenpolitik nun exponierter als der Rest des Landes", befindet | |
Moody. "Mit 9/11 verblasste der Mythos von der offenen Gesellschaft. Dafür | |
sorgte Bush. Dass wir als Militärmacht unverwundbar sind, war auch nicht | |
mehr haltbar. Aber das waren eher hässliche amerikanische Mythen als New | |
Yorker Mythen." | |
Muslime waren bereits vor 9/11 nicht aus New York wegzudenken. Das | |
Taxigewerbe und die Corner-Stores sind seit eh und je in | |
arabisch-amerikanischer Hand. "In Queens ist es nicht verkehrt, wenn man | |
Pandschabi oder Persisch versteht." Moody hat sich in seinen Werken nur am | |
Rande mit den Auswirkungen von 9/11 beschäftigt. In dem Roman | |
"Wassersucher" ließ er einen Richter am obersten Gericht den Satz | |
"Menschenrechte sind etwas für Sklaven" sagen. In der Novelle "The | |
Albertine Notes" stellte er ein traumatisiertes New York nach einem | |
Neutronenbombenabwurf dar. | |
## Zu wenig Kenntnis von den Nuancen | |
"Nach wie vor finde ich es schwierig, 9/11 fiktional darzustellen. Wir | |
haben dafür noch zu wenig Kenntnis von seinen Nuancen. Es hat auch | |
Jahrzehnte gedauert, bis der Vietnamkrieg packend in der Literatur | |
dargestellt wurde. Viele Romane haben die Ereignisse um 9/11 nur | |
ausgeschlachtet, das wurde sehr tendenziös, und das will ich vermeiden." | |
Moody glaubt, dass die anhaltende Rezession vor allem die untere | |
Mittelklasse und die arbeitenden Armen treffen wird. Letztendlich würden | |
die ethnischen Beziehungen davon in Mitleidenschaft gezogen. "Ich habe eine | |
ambivalente Beziehung zum US-Marktkapitalismus." Der politische Apparat | |
wurde nach 9/11 von einem einseitigen und unkontrollierbaren Kapitalismus | |
mobilisiert. Der Rüstungskonzern Halliburton hat den Irakkrieg für sich | |
genutzt, und die Bush-Regierung hat mit ihrem Katastrophenkapitalismus das | |
Ölgeschäft dereguliert und das Kriegführen einer neoliberalen Logik | |
unterzogen. | |
New Yorker meiden diesen Ort am liebsten. Zu sehr ist Ground Zero für sie | |
mit traumatischen Erinnerungen verbunden. Da, wo damals zwei von al-Qaida | |
entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers gesteuert wurden | |
und 3.000 Menschen töteten, klafft eine Lücke. | |
Schutt und Trümmer der eingestürzten Zwillingstürme sind lange beseitigt. | |
Die Baulücke ist zur Touristenattraktion geworden, obwohl es nicht viel zu | |
sehen gibt. An der Gedenkstätte in den Grundmauern wird noch fieberhaft | |
gebaut, Zäune und Absperrungen verhindern den direkten Blick. Trotzdem sind | |
die Straßen ringsum von Neugierigen gesäumt, die die Schautafeln studieren | |
und die Bauarbeiten fotografieren und filmen. | |
Um die Ecke nutzt eine Demonstration von Angestellten des Telefonkonzerns | |
Verizon die Aufmerksamkeit. Sie protestieren gegen Rentenkürzungen und | |
haben sich in der Nähe des symbolträchtigen Ortes versammelt. Alle in roten | |
T-Shirts, einige mit US-Flaggen. Ground Zero ist der einzige Ort in New | |
York, an dem noch so etwas wie Patriotismus festzustellen ist. | |
9 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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