# taz.de -- "Occupy Wall Street"-Bewegung in den USA: First we take Manhattan | |
> Aktivisten haben den Zuccotti Park in Manhattan besetzt und ihm seinen | |
> alten Namen zurückgegeben: Liberty Plaza. Besuch bei einer | |
> kapitalismuskritischen Bewegung. | |
Bild: Die Amerikaner sind eigentlich keine demonstrations-freudiges Volk. Beim … | |
NEW YORK taz | "Ladies and Gentlemen", spricht der Polizist im weißen Hemd | |
in das Megafon: "Geben Sie die Fahrbahn frei. Andernfalls nehmen wir Sie | |
fest." Die Ansage ist selbst auf dem Video, das die New Yorker Polizei | |
später veröffentlicht, nur mit Mühe zu verstehen. Erst recht gehen die | |
Worte inmitten der Sprechchöre unter, die am Samstagnachmittag über das | |
obere Stockwerk der gusseisernen Brooklyn Bridge hallen. "Wem gehört die | |
Straße?", skandieren mehr als 700 Demonstranten. Und antworten selbst: | |
"Uns!" Ein paar Stunden später werden die meisten von ihnen in den | |
Polizeiwachen von New York sitzen. | |
"Wir hatten bereits den ersten Teil der Brücke überquert", sagt Kyle | |
Kneitinger, "ich war mit vielen anderen auf dem Trottoir. Einige von uns | |
waren über das Gitter auf die Fahrbahn gesprungen. Wir dachten, die | |
Polizisten würden uns eskortieren. Aber plötzlich rollten sie einen | |
orangefarbenen Plastikzaun vor uns aus. Quer über die Brücke. Von hinten | |
haben uns Leute zugerufen, dass die Polizei dort ebenfalls einen Zaun | |
ausrollte." Für mehrere Stunden kesselt die Polizei Demonstranten und auch | |
Reporter hoch über dem East River ein, dann führt man sie ab. | |
Am Morgen danach ist Kyle noch ein wenig zerzaust. Aber er ist zurück im | |
Zuccotti Park im Finanzdistrikt von Manhattan, wo er seit dem 17. September | |
auf Steinplatten im Schatten von Wolkenkratzern schläft. Er trägt nun zwei | |
gefaltete Gerichtsvorladungen in der Tasche seiner verwaschenen Jeans: eine | |
wegen der "Verkehrsbehinderung" vom Samstag. Und eine wegen "Behinderung | |
einer Regierungsbehörde" von der vorausgegangenen Woche. Es sind die ersten | |
Kontakte mit der Polizei im Leben des 22-Jährigen. Aber er lässt sich davon | |
nicht beeindrucken: "Ich glaube, wir tun hier das Richtige", sagt er. | |
"Occupy Wall Street" lautet der Schlachtruf jener, mit denen die Aktion | |
begonnen hat. Die Demonstranten sind auf einen der wenigen freien Plätze im | |
Süden im dicht bebauten Manhattan gezogen. Er reicht vom Broadway bis fast | |
zu der Großbaustelle an Ground Zero, wo bis vor zehn Jahren die Türme des | |
World Trade Center standen. Auf den Marmorbänken, wo sonst | |
Wall-Street-Angestellte Pausen machen, versammeln sich jetzt Besetzer | |
zweimal täglich zu Vollversammlungen, bei denen sie über Spekulanten und | |
Arbeitslosigkeit diskutieren. Über Staatsverschuldung, Kriege und Folter. | |
Und darüber, wie sie die finanziell Verantwortlichen und Nutznießer dieser | |
Miseren vor Gericht bringen können. | |
## Bargeldlose Gesellschaft | |
Die Besetzer kommen dabei ohne Technik aus. Auf der Liberty Plaza gibt es | |
eine Lautsprecheranlage. Wer sprechen will, hält beide Hände wie einen | |
Trichter um den Mund und ruft als Erstes "Mikrofoncheck" in die Runde. | |
Umstehende echoen: "Mikrofoncheck!" Und während diese einleitenden Worte | |
akustisch von einer Gruppe zur nächsten weitergehen, bereitet der Redende | |
den nächsten Satz vor. Eine Vollversammlung auf der Liberty Plaza ist ein | |
gesprochener Kanon, in dem jeder Satz von fast jedem wiederholt wird. | |
Zwischen Blumenbeeten und Marmorbänken haben die Besetzer Luftmatratzen, | |
Schlafsäcke und Plastikplanen ausgebreitet. Und haben Inseln organisiert, | |
an denen die Fäden ihrer bargeldlosen Gesellschaft zusammenlaufen: Eine | |
Küche, wo es Essen für alle gibt. Einen Tisch, an dem permanent Zigaretten | |
gedreht und kostenlos abgegeben werden. Eine Bibliothek. Eine | |
Sanitätsstation, bei der Ärzte und Krankenschwestern aus New Yorker | |
Krankenhäusern täglich mehr Sachspenden abliefern. Und ein Medienzentrum, | |
in dem die Videos und Texte für Facebook und Twitter entstehen. | |
Der Platz gehört einem Immobilienkonzern und ist seit 2006 nach einem | |
lebenden Spekulanten und Lokalpolitiker benannt, der als Retter der New | |
Yorker Finanzen gilt: John Zuccotti. Die Besetzer haben dem Platz seinen | |
alten Namen zurückgegeben: "Liberty Plaza" . Einer ihrer Slogans lautet: | |
"Wir sind 99 Prozent." Dass die anderen 1 Prozent die Macht haben, wollen | |
sie ändern. | |
Normalerweise ist Kyle Elektronikstudent in Buffalo im Norden von New York. | |
Und arbeitet für sieben Dollar fünfzig die Stunde als Verkäufer. | |
Krankenversichert ist er bloß, weil sein Vater in einer Versicherung | |
arbeitet. Und wenn er das Studium im nächsten Jahr abschließt, muss er | |
einer Bank 30.000 Dollar zurückzahlen. Andere Studenten hätten noch viel | |
mehr Schulden, sagt Kyle. Für ihn gehe es gerade so, aber Kinder könne er | |
sich unter diesen Umständen nicht leisten. | |
## 35.000 Dollar an Spenden | |
Existenzängste, Arbeitslosigkeit und Armut sind einige der vielen Gründe, | |
die die jungen Leute auf den Platz im Zentrum der Finanzwelt getrieben | |
haben. "Ich führe eine persönliche Fehde gegen die Bank, die mich aus | |
meinem Haus vertrieben hat", sagt Jay. Der junge Landarbeiter aus dem | |
Norden der USA ist einer der wenigen auf dem Platz, dem die Wut anzusehen | |
ist. Ein paar Meter entfernt steht der 25-jährige Eric aus New Jersey | |
lächelnd am Rande des Platzes und verteilt Flugblätter. Er fordert | |
Passanten auf, sich der Bewegung anzuschließen. Eric ist seit Langem | |
arbeitslos. "Wenn es so weitergeht", sagt er, "bleibt mir nur das | |
Engagement bei der Air Force. Denn ich will eines Tages ein Haus haben und | |
eine Familie gründen." | |
In der Platzmitte sortiert die Kunststudentin Victoria Sobel Papiere in | |
eine regenfeste Plastikkiste. Victoria ist seit einer Woche auf dem Platz | |
und denkt viel an ihre aus Peru und Russland in die USA eingewanderten | |
Eltern. "Sie haben hart gearbeitet und wissen nicht einmal, wovon sie als | |
Rentner leben sollen", sagt sie. Die 21-jährige Tochter sitzt im | |
"Finanzausschuss" der Bewegung. In den vergangenen zwei Wochen sind 35.000 | |
Dollar an Spenden gekommen. Manche Spender entschuldigen sich, dass sie | |
nicht selbst nach Manhattan kommen können. "Das Geld kommt aus aller Welt", | |
sagt Victoria stolz. "Wir befinden uns in einem globalen Dialog." | |
Es ist der Tag 16 der Besetzung. Die Aktivisten bekommen täglich mehr | |
Zulauf - und haben Nachahmer an mehr als 50 Orten in den USA und in | |
verschiedenen europäischen Städten gefunden. Die Idee zu der Aktion sei "im | |
Internet entstanden", sagen viele auf dem Platz. Sozialwissenschaftler, die | |
abends auf der Liberty Plaza Reden halten, die im Sprechchor durch die | |
Menge fluten, wollen wissen, dass es in den USA seit Langem "brodelt". | |
Manche Medien hingegen verweisen vor allem auf die kanadische PR-Agentur | |
"Adbusters", die das Ganze vorbereitet hat. | |
Mehr als eine Woche lang hat sich außer wenigen linken Medien kaum jemand | |
für die Besetzer interessiert. Für ihren Durchbruch sorgt die New Yorker | |
Polizei. Am letzten Samstag im August nimmt sie an einem Tag 80 | |
Demonstranten fest und besprüht mehrere junge Frauen aus unmittelbarer Nähe | |
mit Pfefferspray. Die Bilder davon gehen um die Welt. "Das Finanzsystem hat | |
eine Logik von Konkurrenz und Geldgier geschaffen, in der jeder gegen jeden | |
kämpft. Und in der die Medien die Interessen der großen Konzerne | |
vertreten", sagt die 21-jährige Politik-Studentin Bre. | |
## Enttäuschung über Obama | |
Rafal Gomez gehört mit seinen 32 Jahren zu den älteren Besetzern. Der | |
Afro-Amerikaner aus Albany kommt jedes Wochenende an die Wall Street. | |
Dieses Mal hat er, nach seiner Festnahme auf der Brücke, einen großen Teil | |
seiner Zeit bei der Polizei verbracht. Er sorgt sich um die Zukunft seiner | |
beiden Kinder, "wenn es keine öffentliche Bildung mehr gibt und wenn wir | |
die Verschuldung durch Bankenrettung an die nächste Generation | |
weitergeben". | |
Und er trägt die Enttäuschung über den Präsidenten, den er 2008 gewählt | |
hat, quer über seiner Brust in Form eines durchgestrichenen | |
Barack-Obama-Porträts. "Er hatte die Mehrheit im Kongress", sagt Rafal | |
bitter, "er hätte die Kriege beenden, er hätte Guantánamo schließen und er | |
hätte Folter und Morde stoppen können. Stattdessen hat er Leute von der | |
Wall Street als Wirtschaftsberater engagiert." | |
Rafal weiß nicht, wie lange Occupy Wall Street durchgehalten kann. Aber er | |
glaubt, dass die Bewegung wachsen wird. Und er ist sicher, dass er nächstes | |
Jahr nicht wieder Obama wählen wird. | |
3 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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