# taz.de -- Politischer Publizist Holger Strohm: Kein Titel für den alten Held… | |
> Die Dissertation ist in Ordnung, sagen Doktorvater und Gutachter. Aber | |
> offensichtlich verstört der unbequeme Promovend. Holger Strohm wird sein | |
> Titel vorenthalten. | |
Bild: Will immer das Gute: Doktorand Holger Strohm, 69. | |
BREMEN/MÖLLN taz | Dies ist eine Geschichte von alten Männern: Sie sind | |
verstrickt in eine seltsame Intrige um eine Dissertation über Lehrergewalt. | |
Denn ohne Intrige wäre die Angelegenheit ja längst erledigt, mit dem | |
regulären Schlussakt, dem Prüfungskolloquium am 12. Dezember 2006. | |
Längst könnte Holger Strohm sich Doktor nennen und nicht mehr nur "der Papi | |
der Grünen", wie manchmal im Scherz - und ganz zu Recht. | |
Man hätte ihn zum Doktor phil. promoviert, im zarten Alter von 69 Jahren. | |
Doch das ist verhindert worden, auf eine Art, die "mit einem an den | |
Rechtsstaat gebundenen Ablauf nichts zu tun hat". So urteilt der ehemalige | |
Hamburger Verfassungsrichter Harald Falckenberg. "Das ist", sagt er, "ein | |
einzigartiger Fall schikanösen Verhaltens." | |
Eine Promotion legal zu stoppen, ist auch in Bremen möglich. Als letzte | |
Gelegenheit für inhaltliche Einsprüche sieht die Promotionsordnung das | |
Prüfungskolloquium vor. Zuvor hat die Arbeit wochenlang zur Einsicht | |
auszuliegen, mit den Gutachten. Und der Promotionsausschuss muss diese | |
angenommen und die Prüfungskommission berufen haben. | |
Im Fall Strohm hat er das am 6. August 2006 getan, ohne Widerspruch. Zum | |
öffentlichen Kolloquium sind keine Zuschauer gekommen, sagen alle, die | |
dabei waren an jenem grauen Abend im Dezember. Es ist 18 Uhr, die | |
Prüfungskommission nimmt Platz: eine Studentin, vier Professoren. Einer | |
wird zum Vorsitzenden gewählt, ein anderer führt das Protkoll. | |
Der Prüfling sitzt am Kopfende. Er trägt Anzug, weißes Hemd und Schlips. | |
Einst hat er die lila Latzhose als Politmode etabliert. Der Kandidat reicht | |
ein Thesenpapier aus. Die Prüfer monieren argumentative Schwächen. Er | |
reagiert schroff. Der Vorsitzende vermittelt. "Ende des Kolloquiums: 19.10 | |
Uhr", notiert der Protokollant. | |
Gegen erwiesene Mauschelei könnte der Promotionsausschuss jetzt noch | |
einschreiten, und Bedenken darf er erheben gegen die Form des | |
Kommissionsberichts, aber nur mit Begründung. Gar nicht ins Gewicht fallen | |
dürfen Ethos, Überzeugungen oder Nase des Doktoranden. | |
## Es geht um die Sache | |
Auch wozu Strohm den akademischen Grad anstrebt, muss den Ausschus nicht | |
kümmern. Strohm selbst sagt: Es geht um die Sache, "diese ständige | |
Menschenrechtsverletzung, hier, in Deutschland". | |
Im Einfamilienhaus in Mölln überwuchern Papiere den niedrigen | |
Wohnzimmertisch. Die Stimme ist rau, manchmal dröhnt sie. "Dabei will ich | |
doch immer nur das Gute", sagt Strohm, es klingt fast hilflos. Im Sommer | |
ist er 69 geworden. Er legt die fertig begutachtete, verteidigte und | |
nachpolierte Doktorarbeit auf den Tisch, gebunden in Blau. | |
Strohm hat die Regeln eingehalten, scheint sie zu verkünden, hat seinen | |
Teil erfüllt - vielleicht mit Ach und Krach. Aber ohne Plagiat, mit | |
ehrlicher Arbeit, und jetzt liegt sie da und wartet nur auf die Freigabe | |
durch den Ausschuss. | |
Aber die bleibt aus. Es gibt auch keinen Negativbescheid. Der Ausschuss | |
wartet nur ab, vertagt sich, fordert Nachbesserungen am Prüfungsbericht, | |
erhält sie, vertagt sich erneut. Holt nach zweieinhalb Jahren eine | |
Stellungnahme aus Bielefeld ein: Offenbar will der Ausschuss mit der die | |
regulären Gutachten aushebeln und eine Ablehnung begründen. | |
Das aber wäre ein klarer Angriff aus der Uni selbst auf die | |
Wissenschaftsfreiheit der eigenen Professoren, eine Entmündigung - so weit | |
will man dann doch nicht gehen. Der Promotionsausschuss vertagt sich. | |
## Ämter niedergelegt | |
"Menschenunwürdig" nennt Falckenberg die Verzögerung. Das ewige | |
Doktorspielchen degradiert den Promovenden zum ohnmächtigen Zuschauer bis, | |
endlich, Doktorvater Johannes Beck und Zweitgutachter Bodo Voigt Anfang | |
2009 im Zorn die Ämter niederlegen, "weil aus unserer Sicht das Verfahren | |
abgeschlossen ist", so Beck. Strohm hat beim Verwaltungsgericht Klage | |
eingereicht. Das muss noch entscheiden, ob es sie zulässt. Die | |
Bearbeitungszeiten sind lang. | |
Doktorvater Johannes Beck ist seit 2003 emeritiert. Er hat noch bei Adorno | |
studiert, gehörte vor 40 Jahren zu den Gründern der Bremer Uni. Die | |
"Marx-und-Moritz-Uni" spöttelten viele damals. Wie viele Dissertationen er | |
seit 1971 begleitet hat, kann er nicht sagen, "hundert vielleicht?", eine | |
grobe Schätzung, "ich habe nicht mitgezählt". Nur "so etwas", sagt er über | |
das Strohm-Verfahren, "ist mir noch nie untergekommen". | |
Was drei Monate nach dem Kolloquium den Promotionsausschuss vom Pfad seiner | |
Ordnung abgebracht hat, ist in Briefen dokumentiert: Sein Mitglied Thomas | |
Kieselbach hat "Holger Strohm" gegoogelt. Woher das plötzliche Interesse an | |
einem seit 2002 laufenden Verfahren? | |
Er könnte das erklären. Aber über den Verbleib des Psychologen ist nichts | |
bekannt, auch an der Uni nicht: "Der ist im Ruhestand", heißt es. Sein | |
Institut ist aufgelöst. Erreichbar ist er nirgends. Hinterlassen aber hat | |
Professor Kieselbach die Ergebnisse seiner "schnellen Internetrecherche", | |
wie er an Doktorvater Beck schreibt: | |
## Auferstandener Nietzsche | |
Anstoß genommen hat er daran, dass manche Web-Publizisten Strohm für den | |
auferstandenen Nietzsche halten und "einen der bedeutendsten | |
zeitgenössischen Denker". Und "völlig unseriös" nennt er, dass Strohm in | |
Interviews die gescheiterten Versionen seiner Diss. als akzeptabel | |
darstellt. | |
Die Gutachter stört das nicht, weder Beck noch Voigt. Aber den | |
Ausschussvorsitzenden, den hat Kieselbach aufgeschreckt. Er teilt dem | |
Doktorvater mit, man müsse um den guten Ruf der Hochschule bangen, wegen | |
jener Dissertation über Lehrergewalt, begutachtet von Gründern dieser Uni. | |
Und eingereicht von einem anfechtbaren Mann. | |
"Das Lamm", bebt Heinz-Rudolf Kunzes Stimme, "Gottes kann nicht mehr | |
schrein." Das Lied stammt von 1982. Die Widmung lautet: "Für Holger Strohm | |
und sein Buch ,Friedlich in die Katastrophe'". Die "Dokumentation über | |
Atomkraftwerke" war 1981 erneut erschienen, bei Zweitausendeins, 1.292 | |
Seiten stark. Ein Monsterbuch. Ein Bestseller. Es gibt bis heute keinen | |
Argumentationsstrang der Atomkraftkritik, der hier kein Fundament bekäme. | |
"Die Bibel der Anti-Atomkraft-Bewegung" nennt es der Stern. | |
## Messias der Grünen | |
Wie Kunze huldigen viele Strohm als einem Messias der Grünen-Bewegung. Den | |
Zenit erreicht sein Ruhm schließlich durch eine Kampagne der Deutschen | |
Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf GmbH: In halbseitigen Anzeigen warnt | |
sie vor seinen "Horrorgeschichten", also Vorträgen, in denen er eine | |
"angeblich zu erwartende Atomkatastrophe" ankündigt, wie absurd! | |
Mehrere Regionalzeitungen drucken die Anzeige ausgerechnet am 26. April | |
1986 - dem Tag von Tschernobyl. Ein echter Prophet? Das ist das Letzte, was | |
der Staat gebrauchen kann. Haftbefehl wird erlassen - auf Betreiben der | |
Wackersdorf-Gesellschaft, wegen angeblicher Verleumdung. Strohm flieht nach | |
Portugal. Er sagt: Aus Angst um seine Kinder. | |
Strohms Portugal-Aufenthalt nennt auch Michael Müller (SPD) "ein Exil", der | |
bis 2009 Umweltstaatssekretär im Kabinett Merkel I war. "Holger ist | |
kaltgestellt worden", sagt Müller. Verfolgungen hinterlassen Spuren. Sie | |
deformieren. Partiell ist aus dem scharfsichtigen Kritiker Strohm ein | |
Verschwörungstheoretiker geworden, der ganz sicher weiß, dass die USA den | |
Hunger in Nordkorea durch Wettermanipulation und Aids in Geheimlaboren | |
produzieren. | |
Quellenkritik ist Strohms Sache nicht. Das bleibt ein großes Manko der | |
Dissertation, schreiben auch die Gutachter. Doch ihr Wert sei, dass sie | |
"das verhängnisvolle Tabu der Lehrergewalt in Frage stellt". Während ihres | |
Entstehens ist das Schweigen brüchig geworden. | |
Akkurate empirische Befunde liegen vor: "In der Schülerbefragung 2007/08 | |
wurde erstmals auch nach Übergriffen seitens der Lehrer gefragt", heißt es | |
in Christian Pfeiffers "Jugend und Gewalt"-Studie. Erstmals. Volle 34 Jahre | |
nach dem gesetzlichen Prügelverbot. | |
## Ist Leid bezifferbar? | |
Durch staatlich geprüfte Pädagogen wurden laut Pfeiffer 20 Prozent der | |
Schulpflichtigen im Untersuchungsjahr verbal niedergemacht, 2,5 Prozent | |
geprügelt, 0,5 Prozent mehrmals pro Woche geschlagen. Doch ist Leid denn | |
bezifferbar? Strohm drängt es zum Konkreten. | |
Seine Dissertation, auf den unerträglichen Geschichten, von der Lehrerin, | |
die mit einem Stuhlbein einem Neunjährigen die Zähne ausschlägt, von | |
Kindern, die der Lehrer zwingt, ihr Erbrochenes aufzuessen, von Prügeln mit | |
Stöcken, mit Schlüsseln, mit Büchern - und vom Ausharren der Behörden. Die | |
Fälle stammen aus der Zeit von 1990 bis 2004. Es geht um die Kinder. | |
Pfeiffer hat seine Daten 2009 veröffentlicht. Ein Aufschrei blieb aus. | |
Strohms Arbeit setzt an, wo Empirie verstummt. Sie erkundet die Ursachen. | |
Sie reflektiert die Folgen. Sie sucht nach Wegen zu einem Lernen im | |
Einklang mit den Menschenrechten. | |
"Ein solches Anliegen ist in der Pädagogik und ihrer Forschung nicht nur | |
legitim", formuliert Doktorvater Beck im Gutachten, "sondern geboten." Ein | |
klarer Satz. Ein deutliches Votum. Der Promotionsausschuss hat es längst | |
schon angenommen. Er muss sich nur daran erinnern. | |
6 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
## TAGS | |
Grüne | |
Schwerpunkt Anti-AKW | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Rechte Website interviewt Holger Strohm: Grüner Pionier im Nazi-Sumpf | |
Holger Strohm, ein Pionier der Anti-AKW-Bewegung, ist von einem | |
rechtsextremen Magazin interviewt worden. Es gebe unter Nazis gute | |
Menschen, meint er. | |
Atomkritiker klagt Doktortitel ein: Gestatten, Dr. Holger Strohm | |
Die Bremer Universität muss Holger Strohm, Atomkraftkritiker der ersten | |
Stunde, den Doktortitel verleihen. Er hat dafür sechs Jahre gekämpft – mit | |
einer Klage. | |
Niedersächsisches Atomkraftwerk: "Eichhörnchen" klettert in Grohnde | |
Eines der größten AKWs Deutschlands im niedersächsischen Grohnde soll noch | |
bis 2021 laufen. Dagegen protestierten Atomkraftgegner. | |
Atomausstieg in Deutschland: Studie unterschätzt Rückbaukosten | |
Eine Studie beziffert die Abrisskosten für alle Atomkraftwerke auf rund 18 | |
Milliarden Euro. In Wirklichkeit wird aber für den Rückbau sehr viel mehr | |
Geld benötigt werden. | |
Anti-Kohle-Bewegung: Leise, aber nicht stumm | |
2011 wurde es laut um die Atomkraft und still um die Anti-Kohle-Bewegung. | |
Am Samstag ist Welt-Klima-Aktionstag. Kommt der Protest wieder? Ein Besuch | |
im Klimacamp. | |
Diskussion um CO2-Endlager: Bremsen oder Gas geben | |
Manche Umweltschützer halten die CO2-Speicherung für gefährlich, andere | |
sehen sie als Notbremse gegen die Klimakatastrophe. Die Kohleindustrie | |
hofft jedenfalls. |