# taz.de -- Zehn Jahre Intervention in Afghanistan: Nicht so, wie es sein sollte | |
> Vor zehn Jahren begann die Intervention in Afghanistan. Einiges ist | |
> erreicht worden, aber nur Wenige profitieren davon. Und die Gewalt | |
> eskaliert. Eine Bilanz. | |
Bild: Angestellte im Gesundheitsministerium telefonieren während eines Feuerge… | |
KABUL taz | Soraya Sobhrang kann man nicht vorwerfen, dass sie zur Gilde | |
der Schwarzmaler zählt. Kein Wunder: Die Ärztin, die 2006 beinahe | |
Afghanistans Frauenministerin geworden wäre, kann sich nicht erlauben, ihr | |
Land aufzugeben. | |
Seit ihrer Rückkehr aus mehrjährigem Exil während der Talibanherrschaft, | |
darunter drei Jahre lang in Deutschland, hat sie sich an prominenter Stelle | |
– und das heißt in Afghanistan auch immer unter Lebensgefahr – engagiert. | |
Vier Jahre lang war sie Vizeministerin für Frauenfragen, dann wechselte sie | |
in die Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) des Landes. | |
"Seit dem Sturz der Taliban hat sich die Lage völlig verändert", sagte die | |
Mittfünfzigerin in ihrem Büro im Westen Kabuls. "Wir haben viel erreicht, | |
davor kann man die Augen nicht verschließen: unsere Verfassung, das | |
Wachstum der Zivilgesellschaft, die Unterstützung der internationalen | |
Gemeinschaft, die Entwicklung des privaten Sektors, die Wiedereröffnung der | |
Schulen und Universitäten. Es gibt sogar Beispiele für positive | |
Diskriminierung, um die Rolle der Frauen zu stärken. Wir haben ein | |
gesetzliches Verbot von Gewalt gegen Frauen durchgesetzt. Es gibt | |
Frauenhäuser. Verfassungsartikel 22 besagt, dass Mann und Frau vor dem | |
Gesetz gleich sind. Aber wir sind nicht damit zufrieden, dass es im | |
Vergleich zu früher zwar viel besser geworden ist, aber noch lange nicht so | |
ist, wie es sein sollte." | |
Sobhrangs Statement ist differenzierter als das Käßmannsche Diktum, nichts | |
sei gut in Afghanistan. Diese Differenzierung ist es auch, die ihre Bilanz | |
von den Reden vieler Politiker und Diplomaten unterscheidet, die sich und | |
ihre Wähler davon zu überzeugen versuchen, dass die zehn Jahre | |
Afghanistan-Intervention zwar schwierig, aber erfolgreich waren. Damit | |
wollen sie den für 2014 angekündigten Rückzug des Westens rechtfertigen. | |
## Schmiergeld für die Schule | |
Aber diese Art von Erfolgsbilanz ist oberflächlich: Fast acht Millionen | |
Kinder gehen zur Schule. 90 Prozent des Landes haben eine | |
Gesundheitsversorgung. Es herrsche eine in der Region beispiellose | |
Pressefreiheit. | |
Stimmt: 2,4 Millionen afghanische Mädchen besuchen heute eine Schule, | |
480-mal mehr als unter den Taliban. Trotzdem sind es weit weniger Mädchen | |
als Jungen, und 22 Prozent der Mädchen gelten laut Oxfam als "permanent | |
abwesend" in der Schule. "Es wird nicht gesagt, wie viele Kinder nicht zur | |
Schule gehen", sagt Sobhrang. "Und wie viele Kinder beenden die Schule? Die | |
meisten schaffen es nur bis zur vierten Klasse." | |
Schüler müssen ihre Lehrer schmieren, um durch Prüfungen zu kommen, | |
Studenten Kommissionen, um zur Universität zugelassen zu werden. Viele | |
Lehrer haben Zweitjobs, weil ihre Familien nicht vom mageren Monatsgehalt | |
von umgerechnet 120 Dollar leben können, und fehlen während des | |
Unterrichts. Erst Ende 2009 wurde auf Bezahlung nach Leistung umgestellt - | |
Topgehalt: 428 Dollar. | |
Die Hälfte der 12.000 afghanischen Schulen besitzt kein Gebäude. In den | |
Dörfern wird nach wie vor oft unter Bäumen oder in provisorischen Zelten | |
unterrichtet. | |
Auswendiglernen ist die Regel, kritisch zu fragen steht nicht im Lehrplan. | |
Gute Bildung gibt es nur gegen Geld, an Privatschulen und der | |
Amerikanischen Universität in Kabul, die mit ihren hohen Gehältern gute | |
Lehrkräfte von den staatlichen Hochschulen abzieht. "Bildung bleibt nur für | |
privilegierte Afghanen", resümiert die junge Frauenaktivistin Noorjahan | |
Akbar in ihrem Blog. | |
## Für eine Revolte fehlt der klare Feind | |
Nach der Schule oder Universität fehlt es den jungen Menschen an | |
Jobmöglichkeiten. Geld oder Beziehungen gehen vor Qualifikation. In gut | |
ausgebildeten Absolventen sehen die Staatsbürokraten, die ihren | |
Schreibtisch oft mit der Kalaschnikow errungen und ihren Jobanspruch mit | |
der Teilnahme am Anti-Taliban-Kampf legitimieren, eine gefährliche | |
Konkurrenz. Das ist so ähnlich wie in den arabischen Ländern, wo dieser | |
Umstand zur Revolte beigetragen hat. Aber einer ähnlichen Entwicklung steht | |
in Afghanistan - noch? - entgegen, dass es keinen klaren Feind gibt. Karsai | |
ist nicht Mubarak, und die Warlords sind mal für, mal gegen ihn. | |
Nicht zuletzt hat die militärische Eskalation, ausgelöst durch Obamas | |
Truppenverstärkung Anfang 2009, weitere Fortschritte untergraben. Viele | |
Familien verzichten darauf, ihre Kinder oder Frauen auf den oft langen Weg | |
zur Schule oder in die Klinik zu schicken. Und in den meisten Dorfkliniken | |
fehlt es an Medikamenten und Personal, das in der ständigen Gefahr zwischen | |
Taliban und US-Soldaten leben will. | |
Und was die Pressefreiheit angeht: Einschüchterung von Journalisten und | |
Repressalien gegen sie sind an der Tagesordnung. Zu Ministern avancierte | |
Warlords schicken Reportern ihre Schläger ins Haus, wenn sie Namen nennen, | |
oder überziehen sie mit Prozessen wegen "Blasphemie". Darauf steht die | |
Todesstrafe, und wehren kann man sich kaum. Das Resultat sind weite | |
politische Tabuzonen und Selbstzensur. Unter Karsai sind die Mullahs wieder | |
zur letzten Instanz geworden. | |
Eine Ausnahme sind die vielen Phone-in-Programme, wo Afghanen aus dem | |
ganzen Land unter dem Schutz von Anonymität Klartext reden. Aber mehr und | |
mehr Zeitungen, Fernseh- und Radiosender gehören den Warlords selbst, die | |
sie aus nicht legalen Zuschüssen interessierter Nachbarländer oder dem | |
Drogenhandel finanzieren. Dort wird nur Parteilinie gesendet. Die | |
unabhängigen Medien kämpfen währenddessen finanziell ums Überleben. | |
So spricht Soraya Sobhrang aus, was all die Obamas, Ban Ki Moons und | |
Westerwelles nicht sagen, obwohl sie es wissen: Die neuen, besseren | |
Gesetze, die die seit 2001 erreichten Fortschritte garantieren sollen, | |
"stehen häufig nur auf dem Papier". | |
Auch viele der ursprünglichen Ziele der Afghanistan-Intervention wurden | |
nicht erreicht. Es herrscht kein Frieden, sondern die Gewalt ist eskaliert. | |
Der Kampf gegen al-Qaida hat die Taliban gestärkt, und es dauerte fast zehn | |
Jahre, bis bin Laden gefunden wurde. | |
## Hilfsgelder versickern | |
Ein Großteil der internationalen Hilfsmilliarden versickert in korrupten | |
Kanälen oder fließt zurück in die "Geber"-Länder. Das recht erhebliche | |
Wirtschaftswachstum Afghanistans kam vorwiegend den Korruptionsgewinnern | |
zugute, die mit ihren Positionen in Regierung, Wirtschaft und bewaffneten | |
Kräften inzwischen eine veritable Oligarchie bilden, die, weil unsicher im | |
Sattel, gefährlich ist. Die Gewaltenteilung steht nur auf dem Papier. | |
Währenddessen vertieft sich die soziale Kluft. Die Lebensumstände vieler - | |
auf dem Lande und an den Stadträndern - grenzen weiterhin an das | |
Unzumutbare. | |
Afghanistans staatliche Institutionen sind politisch wie fiskalisch alles | |
andere als nachhaltig und scheren sich meist einen Kehricht um Ahmad und | |
Dschamila Normalverbraucher. Vor allem blockiert Karsai seit Längerem | |
bewusst Maßnahmen, die zur Überwindung einiger Probleme beitragen könnten. | |
Die norwegische Analystin Astri Suhrke sieht Afghanistan nach dem | |
Isaf-Abzug 2014 so: "schwache Institutionen und eine Menge bewaffneter | |
Männer". Und eine desorientierten Jugend, muss man hinzufügen. | |
Knapp zwei Drittel aller Afghanen sind jünger als 25. Sie oszillieren | |
sozial zwischen Internetaffinität, indischen Seifenopern und | |
konservativ-islamischen, antiwestlichen Emotionen. Gefüttert wird dieser | |
Trend vom zunehmend antiwestlichen Populismus Karsais sowie der Mullahs und | |
Warlords in seiner Umgebung, die es gelernt haben, für alle Fehler den | |
Westen allein verantwortlich zu machen. Allerdings verfügten sie ohne | |
dessen fehlgeleitete und vor dem Fehlschlag stehende Afghanistan-Politik | |
sowie der mangelnden Bereitschaft, aus den Fehlern wirklich Konsequenzen zu | |
ziehen, über viel weniger Argumente. | |
Unter diesen Vorzeichen sind Karsais Behauptung auf der Münchner | |
Sicherheitskonferenz zu Anfang des Jahres, Afghanistan werde 2015 "ein | |
funktionierender Staat sein", und der zynisch-demonstrative Applaus des | |
Westens dazu ein Skandal. | |
Thomas Ruttig ist Kodirektor des Afghan Analysts Network (AAN) in Kabul. | |
7 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Thomas Ruttig | |
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