# taz.de -- Zivilgesellschaft in Kabul: Enttäuschte Hoffnungen | |
> In Kabul hat sich vieles verändert. Es gibt neue Universitäten, | |
> Krankenhäuser, Medien. Doch was davon wird überdauern, wenn die | |
> westlichen Truppen abziehen? | |
Bild: Desolate wirtschaftliche Situation: Ende eines Markttages in Kabul. | |
Die Leute nennen sie respektvoll Doktor. Denn Hilai ist Hebamme und | |
manchmal verabreicht sie den Frauen, die sie betreut, auch Medikamente. Sie | |
ist mit einem kleinen, zerbeulten Taxi in einem eher armen Viertel von | |
Kabul unterwegs. Viele Straßen sind ungepflastert. "Ich liebe meinen | |
Beruf", sagt die 40-Jährige, die allein mit ihrem Sohn lebt. Er studiert an | |
einer der zahlreichen Privat-Unis, die es inzwischen in Kabul gibt. "Es ist | |
viel besser als früher", sagt Hilai. Unter den Taliban habe sie nicht | |
arbeiten können. Heute bildet Hilai wieder Hebammen aus; die UN fördern das | |
Projekt. | |
Afghanistan hat sich in den letzten zehn Jahren verändert. Krankenhäuser, | |
Universitäten, Unternehmen, Radio- und Fernsehstationen sind entstanden. In | |
Kabul gibt es Shopping-Malls und einen neuen Flughafen. Der Fortschritt ist | |
für jeden sichtbar, doch die Frage ist, was davon Bestand haben wird, wenn | |
der Westen wie geplant 2014 seine Kampftruppen abzieht. | |
"Als die Amerikaner kamen, hatten die Menschen große Hoffnungen", sagt | |
Prinz Ali Seradsch, ein Neffe des afghanischen Königs Amanullah. Doch in | |
den vergangenen Jahren hätten sich die Dinge zum Schlechten entwickelt. "Es | |
gibt mehr Armut, mehr Hunger, Ungerechtigkeit und Instabilität", klagt der | |
stämmige, hochgewachsene Mann mit gepflegtem, dunklen Bart. Sein Resumee: | |
"Der Westen hat Afghanistan nicht verstanden." | |
Der Geschäftsmann war 1978 mit seiner Familie aus Afghanistan in die USA | |
geflohen. Erst 23 Jahre später kehrte er in seine Heimat zurück. Die | |
Taliban waren von den Nato-Truppen innerhalb weniger Wochen gestürzt | |
worden, die Planung für ein neues Afghanistan lief auf Hochtouren. Damals | |
seien grundsätzliche Fehler gemacht worden, findet Ali Seradsch. Die Bonner | |
Afghanistankonferenz 2001 habe sich nur auf die Politik konzentriert und | |
Afghanistan ein System übergestülpt, das nicht zum Land passe. "Sie haben | |
versucht, ein Quadrat in einen Kreis zu zwängen." Afghanistans Probleme | |
seien ethnisch, wirtschaftlich, sozial und politisch - "in dieser | |
Reihenfolge". | |
## Am Tropf der internationalen Gemeinschaft | |
Ali Seradsch klagt besonders über die wirtschaftliche Situation des Landes, | |
das immer noch am Tropf der internationalen Gemeinschaft hängt. Mehr als 90 | |
Prozent des 17,1 Milliarden US-Dollar umfassenden Staatshaushaltes kommen | |
laut Angaben der Weltbank von ausländischen Geldgebern. | |
Afghanistan ist damit einer der am stärksten von Hilfe abhängigen Orte der | |
Erde, so wie Gaza, das Westjordanland oder Liberia. Die Weltbank warnte | |
kürzlich davor, das Land könne wirtschaftlich zusammenbrechen, wenn 2014 | |
die Nato ihre Truppen abzieht. "Sie haben nichts getan", kritisiert | |
Seradsch die westlichen Staaten. "Statt das Land aufzubauen, setzen sie auf | |
militärische Macht." | |
"Als ich nach Kabul zurückkam, war ich sehr optimistisch", erzählt auch | |
Scharif Fais. Der 65-Jährige war der erste Bildungsminister im neuen | |
Afghanistan - zwischen 2002 und 2005 baute er das Schulsystem neu auf. Er | |
gründete auch die Amerikanische Universität Afghanistans, die heute 900 | |
Studenten hat. Noch immer ist Fais der "Spiritus Rector" der modernen | |
Hochschule an der Darulaman Road. | |
## "Sie haben nicht verstanden" | |
Der freundliche Englischprofessor von der Universität Arizona wollte nach | |
15 Jahren Exil eigentlich gar nicht in seine Heimat zurückkehren. Kurz nach | |
der Afghanistankonferenz 2001 war er plötzlich als Minister im Gespräch. | |
Fais nahm den Posten an. | |
"Die ersten drei Jahre herrschte Euphorie", erinnert er sich. "Die Taliban | |
waren verschwunden, die Korruption war kein so großes Problem." Doch dann | |
hätten die Schwierigkeiten angefangen: 2004 beschwerten sich die ersten | |
Mullahs bei Präsident Hamid Karsai über Fais. Den religiösen Führern sei er | |
zu säkular eingestellt gewesen. "Sie haben nicht verstanden, was höhere | |
Bildung ist. Wissen ist global, weltlich, weil Wissen universal ist", sagt | |
der frühere Minister. Fais wurde abgelöst. | |
Nach seiner Zeit als Minister konzentrierte sich Fais auf den Aufbau der | |
Amerikanischen Universität. Er ist stolz auf das, was er erreicht hat. Doch | |
der Unterhalt der Universität sei "sehr teuer". Die Institution ist ein | |
potenzielles Anschlagsziel für die aufständischen Taliban. | |
Schon der Name hat hohen Symbolwert. Hohe Mauern umgeben das Gelände, | |
Wachen kontrollieren den Eingang. Allein für die Sicherheit des Campus gibt | |
die Verwaltung eine Million US-Dollar im Jahr aus. "Ehrlich gesagt, wir | |
können unsere eigenen Angelegenheiten nicht allein lösen", sagt Fais. "Wir | |
brauchen die Hilfe der internationalen Gemeinschaft." | |
5 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Agnes Tandler | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
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