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# taz.de -- Fakten-Check zur Idee der Piraten: Der Traum vom Fahren ohne Fahrka…
> Ob Monatskarte oder Kurzstrecke - wer Bus oder Bahn fahren will, braucht
> ein Ticket. Die Berliner Piratenpartei will das ändern. Die BVG ist nicht
> abgeneigt.
Bild: Viele Vorteile: Ticketloser Verkehr.
BERLIN taz | Einsteigen in den Bus, ohne dass sich an der vorderen Tür eine
Schlange bildet, weil alle nach ihrem Fahrschein kramen müssen. S-Bahn
fahren, ohne auf eine Kontrolle zu treffen, die daran zweifelt, dass das
City-Ticket der Deutschen Bahn hier gültig ist. Keine Debatte über das Ob
und den Preis von Sozialtickets. Alle dürfen Bus und Bahn benutzen, ohne
dafür Fahrkarten kaufen zu müssen.
Diese Idee geistert alle paar Jahre wieder durch die Stadt: Man nehme den
öffentlichen Nahverkehr, schaffe die Ticketpflicht samt Automaten und
Kontrolleuren ab, spare dadurch eine Menge Geld ein und mache die
Beförderung für den Beförderten kostenlos. Zuletzt brachte die FDP die Idee
in die Diskussion - vor zwei Jahren, als die S-Bahn akut am Boden lag. Ein
Pilotprojekt sollte es sein, einen Monat lang, danach auszuwerten.
Nun ist eine Partei ins Abgeordnetenhaus eingezogen, die die Forderung
nicht nur als Pilotprojekt umsetzen will: Einen "fahrscheinlosen
Nahverkehr" fordern die Piraten in ihrem Wahlprogramm. Von "kostenlos"
wollen sie explizit nicht sprechen, denn schließlich, so die Argumentation,
verursache der Nahverkehr nicht auf einmal keine Kosten mehr, nur weil man
die Fahrscheine abschafft.
"Schon jetzt wird eine ganze Menge an Zuschüssen gezahlt", begründet der
Fraktionsvorsitzende Andreas Baum die Idee. Es gehe einfach darum, dass die
Fahrgäste die Möglichkeit hätten, ohne direkt zahlen zu müssen, von A nach
B zu kommen.
Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zeigen sich durchaus aufgeschlossen.
Über die Fahrkarten würden jährlich zwischen 500 und 550 Millionen Euro
eingenommen, sagt Sprecherin Petra Reetz. "Wenn wir das woandersher
bekommen, ist uns das egal." Unklar sei aber, wie der Vorschlag im Detail
umgesetzt werden solle. Woher kommt das Geld? Wie geht man mit Touristen
um? Was ist mit Menschen, die in Brandenburg leben, aber nach Berlin zur
Arbeit pendeln?
## Touristen zahlen City-Tax
Darüber hat man sich bei den Piraten schon Gedanken gemacht. Es sollen
keine Kindergärten geschlossen oder sozialen Projekten die Mittel gekürzt
werden, um den Nahverkehr zu finanzieren. Vielmehr wollen die Piraten eine
Steuer erheben, zu zahlen von Berlinern und von Touristen, bei Letzteren in
Form einer City-Tax. "Der Preis wird natürlich weit unter einem
Monatsticket liegen", erklärt Baum. Pendler dürften gratis fahren.
Ausgerechnet habe man aber noch nichts.
Auch die BVG kann nur mit einigen Zahlen aufwarten. Die Verkehrsbetriebe
hätten bereits intern über das Thema diskutiert, nachdem die Piraten es im
Wahlkampf vorgebracht hätten, sagt Reetz. BVG-Schätzungen zufolge kämen auf
Steuerzahler je um die 130 Euro pro Jahr zu. Die Frage sei, wer genau dann
diese Steuer zahlen beziehungsweise ob und wie sie gestaffelt werden solle.
"Man kann diese Diskussion führen, muss aber auch fragen: Wie hoch ist die
Steuerkraft des Landes?"
Heidi Tischmann, Verkehrsreferenten vom Verkehrsclub Deutschland (VCD),
sieht den Vorschlag der Piratenpartei kritischer. "Wir sind für
Kostenwahrheit im Verkehr", sagt sie. Das heißt: Wer Kosten verursacht,
soll sie auch tragen. Zwar sei das auch derzeit nicht der Fall, weil nicht
nur die Nutzer der öffentlichen Nahverkehrs, sondern vor allem die
Autofahrer längst nicht die Kosten für ihre Mobilität tragen. Doch eine
Steuer für Bus und Bahn würde das Bild weiter verzerren.
Tischmann ist zudem skeptisch, ob signifikant weniger Autos auf den Straßen
unterwegs wären. "Autofahrer sind ganz schwer aus ihren Autos
herauszubekommen." Wissenschaftliche Untersuchungen würden zeigen, dass man
den Verkehr einschränken müsse, um Autofahrer zum Umstieg auf den
öffentlichen Nahverkehr zu bringen, mittels Parkraumbewirtschaftung zum
Beispiel. Wer umsteige, habe sich vorher vor allem zu Fuß oder per Fahrrad
durch die Stadt bewegt.
## Nicht weniger Autos
Das zeigt auch das bundesweit einzige Beispiel, in dem eine Stadt den
Versuch tatsächlich gewagt hat: Templin. Die 70 Kilometer nördlich von
Berlin gelegene Kurstadt schaffte Ende der 90er Jahre Tickets in ihren
Bussen ab. Untersuchungen zeigten, dass die Zahl der Fahrgäste daraufhin
sprunghaft anstieg, die Zahl der Autos allerdings nicht merklich abnahm.
Die Stadt hatte vor allem ihre Straßen im Zentrum von Autoverkehr entlasten
wollen - dieses Ziel wurde nicht erreicht.
Allerdings machte der Versuch Templin bundesweit bekannt, Medien kamen,
Touristen wurden aufmerksam. Die Zahl der Übernachtungsgäste stieg. Die
fast 100.000 Euro für die wegfallenden Einnahmen erstattete die
Stadtverwaltung nachträglich den Verkehrsbetrieben. Außerdem wurden die
BürgerInnen einmal pro Jahr zu Spenden aufgefordert. Eine jährliche Abgabe
für alle wurde diskutiert, es fehlte aber eine entsprechende
Rechtsgrundlage. Der klamme Haushalt Templins setzte dem Projekt ein Ende:
Mittlerweile ist die Fahrt nur noch für Touristen mit Kurkarte kostenlos.
BVG-Sprecherin Reetz vermutet, dass es auch in Berlin ohne Ticketpflicht
mehr Fahrgäste geben würde. "Man bräuchte also mehr Fahrzeuge, die Kosten
müsste man entsprechend hochrechnen." Wie viel Geld gespart werde, wenn
Fahrkartenautomaten und Kontrollen abgebaut werden, ist Reetz zufolge
unklar. Automaten seien ja eine einmalige Investition. "Das hat hier noch
keiner ausgerechnet." Für Personal insgesamt geben die BVG pro Jahr etwa
500 Millionen Euro aus - von Fahrern über Ticketverkäufer bis zum
Sicherheitspersonal. Reetz verweist darauf, dass Kontrolleure gleichzeitig
für die Sicherheit zuständig seien. Sie berichtet von einen Feldversuch aus
Seattle. Dort sei der Vandalismus in öffentlichen Verkehrsmitteln rasant
angestiegen, nachdem diese für Fahrgäste kostenlos geworden waren.
"Man bräuchte auf alle Fälle eine Probephase", sagt Susanne Böhler-Baedeker
von der Forschungsgruppe Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik am Wuppertal
Institut. In so einer Phase lasse sich auch klären, ob es Probleme mit
Vandalismus gebe. Die Voraussetzungen für ein entsprechendes Modell seien
jedoch in Berlin gut: Die Anzahl der Haushalte mit Auto sei niedrig, die
Akzeptanz im Vergleich zu anderen Städten daher vermutlich hoch. "Und bei
so einer Maßnahme ist eine breite Akzeptanz ganz wichtig."
Andreas Baum von den Piraten verweist darauf, dass man aktuell gar nicht
kalkulieren könne, wie viel der öffentliche Nahverkehr koste - es fehlten
Informationen darüber, was der Nahverkehr eigentlich koste und was die
Gegenleistung dafür sei. Baum bezieht sich damit auf den Vertrag zwischen
Senat und S-Bahn, der unter Verschluss gehalten wird. Möglicherweise gebe
es in diesem Leistungskatalog Stellen, an denen man sparen könne. Dann
ließe sich der Nahverkehr auch ohne großartige Mehrkosten für mehr
Fahrgäste ausbauen, so die Überlegung der Piraten. Vom Land erhalten die
Verkehrsbetriebe rund 250 Millionen Euro jährlich. Diese Mittel fließen in
Infrastruktur, Wagen und Loks.
## Vorbild Kleinstadt
Tischmann kann sich vorstellen, dass das Modell vor allem in kleinen oder
mittleren Städten funktionieren könnte, gerade wenn der öffentliche
Nahverkehr nicht ausgelastet ist. Die Praxis gibt ihr recht: Eine der
wenigen Orte weltweit, in denen der öffentliche Nahverkehr fahrscheinlos
angeboten wird, ist die belgische Kleinstadt Hasselt. Busse nehmen die
75.000 Einwohner seit fast 15 Jahren kostenfrei mit.
Die Idee kam dem damaligen Bürgermeister angesichts der täglichen Autostaus
in der Innenstadt. Busfahren müsse für die Menschen kostenlos werden, sagte
er sich - und schritt zur Tat. Das Ergebnis: Die Fahrgastzahlen
explodierten. Statt zwei Buslinien wurden innerhalb weniger Jahre fast 50
eingerichtet. Zehn Jahre nach der Einführung hatte sich die Zahl der
Fahrgäste auf 35 Millionen jährlich vervierzehnfacht. Autos müssen
inzwischen außerhalb geparkt werden. Mit dem Effekt, dass die Busse
schneller durchs Zentrum kommen. Die Kosten von etwa 1 Millionen Euro
jährlich trägt in Hasselt allerdings die Stadt.
19 Oct 2011
## AUTOREN
S. Bergt
K. Pezzei
## TAGS
Bus
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
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