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# taz.de -- Bus und Straßenbahn kostenlos: Tallinn zum Nulltarif
> Als erste europäische Hauptstadt bietet die estnische Metropole ab dem
> neuen Jahr kostenloses Bus- und Bahnfahren für alle Tallinner.
Bild: Für die Hauptstadtbewohner in Estland ist die Fahrt in der Straßenbahn …
STOCKHOLM taz | Die Szenarien könnten unterschiedlicher nicht sein: Ein
„öffentliches Transportsystem voll mit übelriechenden Stadtstreichern, das
wegen Überlastung endgültig kollabiert“, befürchtet der staatliche Rundfunk
ERR. Der linke Oberbürgermeister Edgar Savisaar dagegen sieht Tallinn
künftig grüner, vom individuellen Autoverkehr entlastet und als leuchtendes
Vorbild. Ab dem 1. Januar gilt in der estnischen Hauptstadt der Nulltarif
für den öffentlichen Personennahverkehr.
Sicher ist auf jeden Fall der unmittelbare Effekt. Die kostenlose Nutzung
von Straßenbahnen und Bussen wird die BewohnerInnen mit Niedrigeinkommen
spürbar entlasten. Bislang kostete eine Monatskarte 18,50 Euro – für fast
jeden Fünften beinahe ein Zehntel seines Einkommens.
Offiziell hatten Oberbürgermeister Savisaar und eine Mehrheit des Stadtrats
allerdings mit Umwelt- und Verkehrsargumenten geworben. Sie plädieren für
eine Trendwende: Der lange vernachlässigte öffentliche Nahverkehr, der nach
missglückten Privatisierungen ganz schön heruntergewirtschaftet ist, soll
wieder attraktiver werden.
Denn auch die Alternative ist nicht schön: Dass 2001 fast jeder Dritte mit
Bus oder Bahn zur Arbeit fuhr, 2012 aber nur noch jeder Fünfte, hat den
privaten Autoverkehr anwachsen lassen. Immer häufigere Verkehrsstaus und
steigende Unfallzahlen sind die Folge. Zudem leidet die Umwelt: Der
Individualverkehr ist in Tallinn für 60 Prozent der Belastung mit dem
Treibhausgas CO2 verantwortlich.
Kritiker bemängeln jedoch, dass Savisaar nicht konsequent genug sei, wenn
er nicht zugleich das Autofahren deutlich unattraktiver mache. Ihnen fehlt
beispielsweise eine spürbare Begrenzung des Parkraums in der Innenstadt.
Auch mit den Investitionen in neue Busse und Bahnen ist die Stadt spät
dran. Teile des modernisierten Fuhrparks werden erst Ende 2013 oder 2014
einsatzbereit sein. Es könnte also tatsächlich zu dem befürchteten Gedränge
kommen, wenn nun noch mehr Pendler auf das stundenweise sowieso überlastete
Bus- und Bahnnetz umsteigen.
## Das belgische Vorbild
Ein Vorbild für Tallinn ist das belgische Hasselt. Hier gibt es den
Nulltarif bereits seit 1997. Die Zahl der Fahrgäste vervielfachte sich, die
Innenstadt erlebte einen deutlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Wirklich
vergleichbar ist diese Kleinstadt mit ihren 80.000 EinwohnerInnen aber
nicht mit dem deutlich größeren Tallinn, in dem 420.000 Menschen leben.
Hasselt hat nur 11 Buslinien, in Estlands Hauptstadt sind es über 50, dazu
noch 4 Straßenbahn- und 9 Trolleybusstrecken.
Im restlichen Europa ist man deswegen neugierig, wie sich das Experiment
entwickelt: Als Haupthindernis für eine langfristige Umsetzung von
Nulltarif-Experimenten gilt die Belastung der öffentlichen Haushalte.
Auch Tallinn wird durch den Verzicht auf die Ticketeinnahmen jährlich rund
12 Millionen Euro verlieren – mehr nicht, weil der Nahverkehr auch bislang
schon vorwiegend aus dem Stadtsäckel finanziert wurde. Im Gegenzug hofft
man darauf, dass der Autoverkehr um ein Zehntel zurückgeht.
## Chipkarte nur für Hauptstadtbewohner
Und dass die Steuereinnahmen wachsen. Denn den Nulltarif gibt es
prinzipiell nur für die EinwohnerInnen der Hauptstadt. Die müssen sich mit
einer speziellen Chipkarte identifizieren. TouristInnen und BesucherInnen
müssen ein Handy-Ticket lösen.
Viele EstInnen, die zwar in der Hauptstadt wohnen, dort aber nicht gemeldet
sind, werden nun ihren Wohnsitz ummelden, erwartet Tallinns
stellvertretender Bürgermeister Taavi Aas. Das könnten 20.000 bis 30.000
Menschen sein.
Je höher die Einwohnerzahl aber steigt, desto mehr Geld für die Stadtkasse
gibt’s vom Fiskus. Aas rechnet vor, dass der Nulltarif der Stadt sogar
einen Gewinn bringen wird, wenn sich mehr als 12.000 Neu-Tallinner
anmelden.
29 Dec 2012
## AUTOREN
Reinhard Wolff
## TAGS
Bus
Bahn
Tallinn
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