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# taz.de -- Debatte Mobilität: Bewegungsfreiheit auf Eis
> Wer einen neuen Gesellschaftsvertrag will, muss sich der Frage stellen:
> Wie organisieren wir unsere Mobilität? Das Berliner Chaos im Nahverkehr
> zeigt, wie es schief läuft.
Bild: Der Nahverkehr Berlins ist ein Symbol des Zerfalls des Öffentlichen.
Muss die UNO bald Blauhelme nach Berlin entsenden? Der Eindruck erhärtet
sich, es benötigte bald ein robustes Mandat zur Durchsetzung
mobilitätserzwingender Maßnahmen, um in der allseits so beliebten
Hauptstadt eine soziale und humanitäre Katastrophe abzuwenden.
In einem der kältesten Winter seit Jahrzehnten kommt der Individualverkehr
in der Viermillionenstadt stellenweise zum Erliegen. Gleichzeitig
implodiert der Kern des öffentlichen Personennahverkehrs - die S-Bahn.
Statt die stillgelegten Reparaturwerkstätten wieder zu öffnen, in denen die
Radachsen der S-Bahn-Wagen gewartet werden könnten, die ein Aufsichtsamt
aus dem Verkehr gezogen hatte, legt die Bahn in der Spitzenzeit des Bedarfs
weitere 200 beschädigte Züge still. Die Fahrgäste weichen zwangsläufig auf
die U-Bahn aus. Die verkehrt - Relikt der letzten Sparkrise - mit derart
gestreckten Taktzeiten, als wolle sie beweisen, auch fähig zur
Entschleunigung zu sein.
Was sich jeden Morgen auf Berlins überfüllten U-Bahnhöfen abspielt, gleicht
einem Film mit dem Titel "Leben im Schwellenland". Trotzdem war kein
Aufschrei der Empörung zu hören, als man bekannt gab, erst 2013 zum
Normalbetrieb zurückzukehren.
Es ist ein Symbol für die Krise des Politischen, dass dieses Desaster nicht
als das kommuniziert wird, was es ist: ein Menetekel des kollabierenden
Solidarprinzips, ein Symbol des Zerfalls des Öffentlichen, ein Verlust an
Demokratie. Nachgerade atemberaubend mutet es an, wie die Verantwortlichen
das Krisenmanagement aufs Technisch-Administrative begrenzen.
Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit ließ beiläufig vernehmen,
der Bund müsse in solchen Fällen das Recht haben einzugreifen. Die
Bausenatorin der Stadt will die S-Bahn für den Schaden regresspflichtig
machen und die Kooperationsverträge der Berliner Verkehrsbetriebe mit der
Deutschen Bahn kündigen. Die verschanzt sich derweil hinter den Details der
Reparaturprobleme.
Nun mag die S-Bahn ein industrielles Verkehrsmittel sein. Ihre
Funktionsprobleme sind aber nicht in erster Linie technisch, sondern nur
politisch zu lösen. Denn hinter dem Debakel steht unübersehbar die Frage:
Wie organisiert eine Gesellschaft ihre Mobilität? Und ermöglicht damit
ihren Bürgern (Bewegungs-)Freiheit?
Doch hartnäckig blendet der offiziöse Diskurs den Kern des Problems aus.
Drastischer als an dem S-Bahn-Fiasko lässt sich kaum demonstrieren, was aus
sozialen Dienstleistungen wird, die neoliberal "reguliert" werden. Weil die
Deutsche Bahn Gewinn für den schnellen Börsengang machen wollte,
eliminierte sie die Instanzen zur Qualitätskontrolle und
Fahrgastsicherheit. Doch anstatt sie zur Haftung zu ziehen und auf ihre
Gemeinschaftsaufgabe rückzuverpflichten, wollen CDU, FDP und Grüne das Netz
nun erst recht für private Anbieter ausschreiben.
Die sichtbarste Leerstelle in dieser ideologischen Kippsituation gibt Klaus
Wowereit ab. Berlins Regierender Bürgermeister wäre gern Kanzlerkandidat
seiner Partei für eine Linkskoalition im Bund. Ausgerechnet er übersieht
aber in einer der gefährlichsten SPD-Krisen die Zeichen der Zeit. Der
volkstümliche Wowereit, eigentlich ein Meister des politischen Nahverkehrs,
hätte jede Chance, sich an die Spitze einer populären Front unter dem Motto
"Transport für alle!" zu setzen. Doch der selbst ernannte Hoffnungsträger
der Linken, nie ein Mann der Zukunftskonzepte, bleibt im Roten Rathaus und
schweigt.
Wirklich verwunderlich ist das nicht. Was soll man erwarten von einer
Formation, die vergessen hat, dass sie für soziale Teilhabe steht und die
Teilprivatisierung der Bahn mit anschob? Traurig ist es dennoch: SPD und
Konzepte für demokratische Massenmobilität? Das ist die Geschichte einer
Fehlanzeige.
Wenn die Partei wirklich dafür sorgen will, dass in Berlin soziale
Integration "beispielhaft für die Republik gelebt wird", wie sie es gerade
in ihrem Eisenacher Thesenpapier zur Modellstadt Berlin formulierte, muss
sie sich verkehrspolitisch mehr einfallen lassen als "moderne
Verkehrssysteme". Mancher erinnert sich: Als in den entscheidenden Stunden
der letzten Silvesternacht plötzlich kein einziger S-Bahn-Zug fuhr, wurde
aus einem Organ der Gemeinschaftsbildung und Vernetzung, aus einem sozialen
Knotenpunkt und Transitraum ein Instrument forcierter Desintegration.
Ein Feld für linke Visionäre
Seltsame Zeiten: Die Linke sucht nach Formeln für den Sozialismus der
Zukunft. Von Franziska Drohsel über Katja Kipping bis Andrea Nahles
wetteifert die neue Nomenklatura um die Beantwortung der abstrakten Frage:
Was ist links? Dabei ließe sich diese Gretchenfrage viel ertragreicher am
Nächstliegenden ausbuchstabieren.
Vergessen sind Reizworte wie "Nulltarif" oder der Slogan "Busse und Bahnen
- grüne Welle für Vernunft". Verkehrspolitik wird nicht mehr als
Gesellschaftspolitik begriffen, sondern ist wieder ein Arkanum der
Spezialisten, Lobbyisten und Betonmischer. Verkehrsminister sind die grauen
Mäuse der politischen Klasse. Dabei könnte Verkehr ein aufregendes
Politikfeld der Zukunft sein, eine Schnittstelle mit vielen Anschlüssen,
ein Feld für Visionäre.
Das Eintreten für den Erhalt, den Ausbau und die Fortentwicklung der S-Bahn
könnte Ausdruck einer neuen Sorge um das Kommunale sein, das sich von der
Stadtteilbibliothek bis zum Hallenbad auflöst wie ein Zuckerwürfel im
Wasserglas. Der Streit um die S-Bahn könnte Naomi Kleins Slogan "Reclaim
the Commons" mit Leben füllen, den Kampf um die gemeinschaftlichen Güter,
die nicht der Privatisierung und Globalisierung zum Opfer fallen dürfen.
Für einen neuen Gesellschaftsvertrag müssen Individualität und
Kollektivität politisch neu austariert werden. Verkehrspolitik ist der
Anwendungsfall für diese Jahrhundertaufgabe: Wenn ich mich bewegen will,
müssen wir uns das organisieren. Wo bleiben die Konzepte dafür? Das ist das
Elend der Linken: Immer wartet sie auf den Schnellzug der Utopie. Dabei
gelangt man zur neuen Solidarität im Nahverkehr.
29 Jan 2010
## AUTOREN
Ingo Arend
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