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# taz.de -- Besuch beim Physiker Sebastian Pflugbeil: Die Geldmaschine
> Der Physiker Sebastian Pflugbeil ist ein radikaler Kritiker der
> Atomindustrie. Seine Gesellschaft für Strahlenschutz sprach als Erste vom
> Super-GAU in Fukushima.
Bild: Ein sperriger und zäher Quertreiber: der Atomkritiker Sebastian Pflugbei…
"Die Atomindustrie kann jedes Jahr eine Katastrophe wie Tschernobyl
verkraften." (H. Blix, Direktor der IAEO, 1986)
Dr. Sebastian Pflugbeil, Physiker, radikaler Kritiker der Atomindustrie u.
Präsident d. Gesellschaft für Strahlenschutz e. V., geb. 1947 in
Bergen/Rügen. Schulbesuch u. Abitur in Greifswald (DDR), von 1966-1971
Studium d. Physik a. d. Ernst-Moritz-Arndt-Universität zu Greifswald.
Danach Mitarbeiter d. Zentralinstituts f. Herz-Kreislauf-Forschung a. d.
Akademie der Wissenschaften Berlin-Buch. Seine dort begonnene Doktorarbeit
wurde wegen regimekritischer Äußerungen behindert u. erst nach d. Wende
anerkannt, nichtsdestotrotz blieb er unbequem und störrisch. Er war 1989
Mitbegründer d. Neuen Forums u. saß als dessen Vertreter mit am Runden
Tisch d. DDR. Februar 1990 wurde er Minister ohne Geschäftsbereich i. d.
Regierung Modrow. Er erstellte f. d. Volkskammer ein Dossier über
gravierende Sicherheitsmängel der AKWs, was zur Schließung des VEB
Kombinates Kernkraftwerke "Bruno Leuschner" Greifswald führte u. z.
Schließung d. AKW Rheinsberg. 1990-94 war er für d. NF Mitglied d.
Abgeordnetenhauses Berlin. Seit 1993 Vorsitzender d. Vereins "Kinder von
Tschernobyl". Er arbeitete zusammen mit der schleswig-holsteinischen
Fachkommission zur Untersuchung der Leukämiefälle in der Elbmarsch u.
Geesthacht. Ab 1999 Präsident d. Gesellschaft für Strahlenschutz e. V. 2001
war er in Begleitung d. russ. Wissenschaftlers Tschetscherow unter dem
Sarkophag im zerstörten Block IV von Tschernobyl (direkte Besichtigung d.
Reaktortopfes), er fand d. Bestätigung von Tschetscherows ketzerischer
Behauptung, dass d. größte Teil d. radioaktiven Materials bei d. Explosion
1986 hinausgeschleudert wurde. Pflugbeil spricht fließend Russisch und
machte rund 90 Reisen in die betroffenen Regionen, sprach mit zahlreichen
Wissenschaftlern, Liquidatoren u. anderen Betroffenen, berichtete sowohl
über d. technischen als auch d. sozialen Folgen d. Katastrophe (neuerdings
auch in Japan). Seit März 2011 intensive Beschäftigung mit Fukushima, auf
einem mehrwöchigen Japan-Besuch hielt er Vorträge u. traf Wissenschaftler
u. Bürgerinitiativen. Pflugbeil lebt in Berlin. Seine Frau ist Internistin,
sie haben vier erwachsene Töchter. Sein Vater war Kirchenmusiker in
Greifswald, seine Mutter Cembalistin.
Herr Pflugbeil empfängt uns in seiner schönen Altbauwohnung in
Berlin-Mitte. Wir trinken Tee und schweigen erst ein wenig. Er wirkt sehr
ruhig, geradezu sanft. Man könnte darauf reinfallen, aber er ist ein
sperriger und zäher Quertreiber. Nach Fukushima wurde er aus der Versenkung
geholt und vor die Fernsehkameras gebeten. Seine Gesellschaft für
Strahlenschutz hatte als Erste von einem Super-GAU in Fukushima gesprochen.
Sehr bald wurden seine allzu offenen Ausführungen jedoch gekappt und er
verschwand wieder in seiner Versenkung. In der hat er sich als
Kernenergiekritiker eingerichtet. Er ist vogelfrei, wir sagen:
vogelfreischaffend. Ab und zu, um sich zu regenerieren, macht er Hausmusik
mit seinen Töchtern oder spielt auf dem Cembalo seiner Mutter. Ansonsten
widmet er sich den Ursachen und Folgen der radioaktiven Katastrophen. Am
Vortag kam er grade aus Fukushima zurück.
"Es gab im Sommer erste Besuche der Japaner bei uns, sie haben sich
angeguckt, was wir - beziehungsweise der Westen - damals gemacht haben nach
Tschernobyl mit den Messstellen, welche Geräte man braucht, wie man damit
umgeht, was man an Logistik benötigt. Und da hat jetzt ein Gegenbesuch
stattgefunden und ich habe dort von den Erfahrungen erzählt und davon, was
ich über Tschernobyl zusammengetragen habe. Auch über die nachfolgenden
Gesundheitsschäden in Westeuropa. Also auch Gesundheitsschäden - und das
ist ein wichtiger Punkt - bei relativ kleinen, zusätzlichen
Strahlenbelastungen. Deren Gefährlichkeit wird ja immer geleugnet. Ich
denke, die ersten Gesundheitsschäden, die in Fukushima als Erstes auftreten
werden, sind: Totgeburten, Down-Syndrom, Schilddrüsenkrebs.
Es entstehen jetzt unabhängige Strahlenmessstellen von Bürgerinitiativen,
weil die Regierung nicht Willens und nicht in der Lage ist, die Bevölkerung
darüber zu informieren, wie hoch die Strahlen- und
Nahrungsmittelbelastungen sind. Die ersten Wissenschaftler kommen auch
schon aus ihren Burgen raus und halten Vorträge über das kleine Einmaleins
der Strahlenproblematik. Anfang September gab es ein von der
Nippon-Foundation gesponsertes Expertensymposion in Fukushima-Stadt zu den
gesundheitlichen Gefahren der Radioaktivität, die, wie erwartet, total
heruntergespielt wurden. Daraufhin haben dann verärgerte Bürgerinitiativen
und kritische Wissenschaftler im Oktober einen Gegenkongress organisiert
zur Aufklärung über die wirklichen Gefährdungen. Ich war da auch als
Referent.
Es gab auch eine Reihe von Veranstaltungen, von Südjapan bis nördlich von
Fukushima. Überall traf man auf Frauen, die mit ihren Kleinkindern aus
Fukushima abgereist sind. Es ist sehr schwierig für alle Betroffenen. Dazu
kommen Hürden der Bürokratie und finanzielle Probleme. Die Entschädigung,
kann man sagen, die trägt die Katze auf dem Schwanz weg. Das sind 8.000
Euro oder so. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist das bisher vom
KKW-Betreiber Tepco bezahlt worden. Da war die Portokasse dann wohl alle."
( Die Antragsteller müssen ein 60-seitiges Formular ausfüllen, für das es
eine 100-seitige Anleitung gibt. Anm. G.G.)
"Gerade als wir abfuhren kam das raus, dass in einem wohlhabenden Tokioter
Viertel eine Strahlenbelastung gefunden wurde, die haarscharf unter der
Grenze zur Evakuierung liegt. Wenn die offiziellen Stellen sagen, es ist
scharf drunter, dann ist es mit Sicherheit scharf drüber! Darüber wird noch
gestritten. Ich habe vom Dach eines Hochhauses eine Probe genommen, dafür
suche ich jetzt nach einem Labor. Die japanische Regierung hat momentan in
der Problembewältigung eine ,abenteuerliche' Stoßrichtung, sie macht
Propaganda dafür, dass alle Präfekturen Japans einen Teil des
kontaminierten Mülls abnehmen und in Müllverbrennungsanlagen entsorgen. Die
sind aber gar nicht auf die Rückhaltung von radioaktivem Dreck ausgelegt.
Das wirkt dann wie ein Staubsauger, nur verkehrt herum. Der Dreck wird in
die Luft geblasen und über ganz Japan verteilt. Das ist dermaßen
schwachsinnig." (Am 3. November ist ein Zug mit Trümmern in Tokyo
angekommen - es war verboten, die Strahlung zu messen -, sie wurden
verbrannt im Tokyo Waterfront Recycle Power, einer Konzerngesellschaft der
Tepco, der Betreibergesellschaft des AKW Fukushima. Anm. G.G.)
"Es regt sich in Japan jetzt immer mehr Widerstand. Auch wenn die
Aufklärung systematisch behindert wird. Auch wenn Politiker vor laufender
Kamera öffentlich verstrahltes Zeug essen oder ein Glas Wasser aus einer
Pfütze von Fukushima-Daiichi trinken und dazu ,Rotkäppchen und der Wolf'
erzählen. Die Leute glauben der Regierung und Tepco nichts mehr. Die
Naturkatastrophe wurde, so lange es ging, in den Mittelpunkt gestellt. Bei
uns hat man sich gewundert, dass die Leute dort so ruhig bleiben angesichts
der eigentlichen Katastrophe. Das Desinteresse der japanischen Bevölkerung
an Kernkraftwerken hat aber eine Tradition, das ist nicht Dummheit oder ein
Versehen. Das ist gemacht worden über einen sehr langen Zeitraum.
Ein frühes Beispiel dafür habe ich gesehen im Atombombenmuseum in
Hiroshima. Es gibt dort frühe Fotos einer Ausstellung, da war im ganzen
Erdgeschoss eine einzige Propagandaveranstaltung für die Kernkraft. Und das
hat Gründe: Das Museum wurde nach dem Ende der Informationssperre in den
fünfziger Jahren gebaut - die USA hatten ja eine komplette
Nachrichtensperre nach den Bombenabwürfen verhängt, keine Fotos, keine
Reportagen, keinerlei Nachrichten. Die medizinische Dokumentation war
streng geheim. Dann sickerte das aber allmählich durch, so Anfang der
fünfziger Jahre, und die Amerikaner haben befürchtet, dass ihre
Atombombenstrategien behindert werden könnten durch die öffentliche
Meinung. Sie haben nach einer Lösung gesucht und da hat Eisenhower dann vor
der UNO 1953 das "Atom for Peace"-Programm erfunden, um in diesem
Windschatten in Ruhe weiterhin Atombomben bauen zu können. In diesem
Zusammenhang hat er in kleiner Runde etwas gesagt, was dann automatisch
alle Atomstaaten übernommen haben - bis heute: Haltet sie im Unklaren über
Kernspaltung und Kernfusion. Sie, das war die Weltöffentlichkeit.
## 50 Jahre Gehirnwäsche
Die Amerikaner haben die gesamten japanischen Zeitungen bestochen, über
Jahre, dass sie das sorgfältig unterscheiden: Bombe und Kernkraft. Und
dafür, dass sie Propaganda machen für Kernkraftwerke. Das ist für viel Geld
gelenkt worden. Diese gezielte Gehirnwäsche durch die Amerikaner hat mehr
als 50 Jahre funktioniert, ist aber nach Fukushima allmählich immer
unwirksamer geworden. Jetzt erst haben viele angefangen, darüber zu reden
und nachzudenken. Auch die Hibakusha-Organisationen, also die überlebenden
Atombombenopfer. Inzwischen ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen
Kernkraftwerke und will raus. Die Regierung wiegelt ab und redet vage vom
langfristigen Ausstieg, vom Stromsparen, und lässt die Bevölkerung im
Unklaren über die Strahlenbelastung. Die Betreiber der japanischen KKWs
stemmen sich natürlich dagegen, sie wollen auf so viel Geld nicht
verzichten.
In Japan haben sie über 50 KKWs, viele davon sind schon älteren Datums.
Fukushima I lief bereits 40 Jahre. So lange alles funktioniert, spielt so
ein abgeschriebenes KKW pro Tag bis zu einer Million Euro ein. Das ist eine
reine Geldmaschine. Und selbst wenn was passiert, dann haben die Betreiber
ihre Schäfchen längst ins Trockene gebracht und die Bürger haben den
Schaden; wie man an Japan sieht. Beim KKW springt, wie bei systemrelevanten
Banken, im Krisenfall der Staat ein. Tepco bekam, um die Pleite abzuwenden
und Entschädigungen zu zahlen, aus einem Regierungsfonds bereits 8,4
Milliarden Euro." (Es benötigt, so das Unternehmen, in den nächsten zehn
Jahren weitere 23,3 Milliarden usf., um "die Folgen der Katastrophe zu
bewältigen". Anm. G.G.)
"KKWs sind in der Regel nicht mal adäquat versichert. Bei uns ist es so,
dass sie eine Haftpflichtversicherung über zwei Milliarden Euro abschließen
müssen, nicht einzeln, alle zusammen! Fachleute haben durchgerechnet, wie
hoch die Versicherungspolice sein müsste, und die wäre so hoch, dass sich
der Strompreis von heute 16 bis 20 Cent auf bis zu etwa 67 Euro (!) pro KWh
verteuern würde. Damit wäre das einfach platt. Wenn man den Ausstieg, der
jetzt nach Fukushima bei uns beschlossen worden ist, wirklich wollte, ihn
nicht bis 2022 hinzieht, dann würde eine adäquate Versicherung als Auflage
vollkommen reichen. Das wäre das sofortige Aus! Da könnte auch kein
Betreiber vor Gericht ziehen gegen die Abschaltung, und gegen nichts!
Wenn wir jetzt aber mal die ganze Entwicklungsgeschichte sehen, dann stand
eindeutig der militärische Aspekt im Mittelpunkt. Das war das treibende
Moment. Dieses spätere wirtschaftliche Interesse an der Kernkraft, das war
bei den großen Energieversorgern anfangs gar nicht vorhanden. Die mussten
da geradezu hingetragen werden, überhaupt Kernkraftwerke zu bauen. Und das
Motiv, weshalb das so vorangetrieben wurde, mit enormen staatlichen
Subventionen, das ist für mich so sicher, wie das Amen in der Kirche: Die
KKWs waren, wie schon erwähnt, eine hervorragende Ablenkung von den
Strahlenproblemen und von dem Willen, ungestört weiter die militärische
Seite ausbauen zu können.
Skrupel gab es da keine. Im Zusammenhang mit dem Atomwaffenprogramm hat man
in den USA auch Menschenversuche gemacht, von den Fünfzigern bis in
siebziger Jahre, für die Risikoforschung. Man hat zum Beispiel Schwarzen in
den Armenkrankenhäusern Plutonium gespritzt, ohne deren Wissen natürlich,
um zu sehen, wie sich das auswirkt." (Wissenschaftler von Harvard und dem
MIT haben von 1946 bis 1956 an geistig Behinderte in der Schule radioaktiv
verseuchtes Frühstück verteilt. Anm. G.G.) "Mitte der 90er Jahre ist in den
USA so eine große Kommission eingesetzt worden, die das alles aufgerollt
hat. Wenn man die Berichte liest, wird einem schlecht! Bis heute bezieht
man sich bei Plutoniumsachen auf diese ,Studien'.
Genauso die Russen. Beispielsweise wurde das Atomwaffentestgebiet in
Kasachstan - Semipalatinsk - gezielt ausgesucht vom ,Vater der russischen
Atombombe' Kurtschatow und von Berija, dem Geheimdienstchef. Sie haben das
Gebiet ausgesucht, nicht weil da eine Wüste ist, sondern weil das angenehm
bevölkert war. Sie haben die Bevölkerung als Versuchskarnickel benutzt,
haben ihnen gesagt, wenn die Erde wackelt, dann sollen sie mal schön aus
den Häusern ins Freie gehen, damit ihnen kein Balken auf den Kopf fällt.
Sie haben ihre Tests gemacht und die Leute anschließend minutiös
untersucht. Nur untersucht. Nicht behandelt! Also das Ausmaß der Perfidie
und Brutalität ist fast unglaublich, auf beiden Seiten, da haben sich die
Großmächte nichts vorzuwerfen.
Das war natürlich alles streng geheim. Weltweit war es immer die
Hauptaufgabe der Regierungen, bis heute, alle Informationen zu blockieren
oder herunterzuspielen, die irgendwie ein schlechtes Licht auf die Nutzung
der Kernenergie werfen könnten. Und zwar auf beides, die militärische und
die zivile Nutzung. Entsprechend agieren auch die internationalen
Organisationen oder Kommissionen, wie IAEO, WHO, ICRP usf. mit ihrer
Informationspolitik und ihren Empfehlungen. Beispielsweise gingen
unabhängige Experten von 1,8 Millionen Toten weltweit aus, die in der Folge
von Tschernobyl gestorben sind und noch sterben werden. Die IAEO hingegen
sprach von 50 Todesopfern des Super-GAUs. Bei der Festlegung von
Strahlenwerten wird nach den Interessen der Atomindustrie entschieden. Vom
Medizinischen her ist das eine absolute Katastrophe. Ich halte diese Leute,
die in solchen Gremien sich tummeln und die Risiken runterrechnen und
wegdiskutieren, für absolut gefährlich. Auf meiner Messlatte sind die viel
gefährlicher als die KKWs selbst!
Auch bei uns tagen die Leute, die in diesen Reaktorsicherheits- und
Strahlenschutzkommissionen sitzen, alle vertraulich, man kriegt keine
Unterlagen, nichts! Wir haben jahrelang gesucht nach den Ursachen der
Leukämie in der Elbmarsch und Geesthacht. Und von diesen Leuten, die das
behindert haben, auch vom Forschungszentrum, da hat bis heute keiner
ausgepackt. Ihre Schweigeverpflichtung bis ans Lebensende ist mit der Rente
verknüpft, anscheinend. Die Kernforschungszentren sind übrigens vom
Atomausstieg ausgenommen. Sie haben sich auch alle mehrfach umbenannt und
sind nun zusammengeschlossen in der Helmholtz-Gemeinschaft. Das Wort Atom,
oder später Kernenergie, kommt nicht mehr vor. Sie heißen jetzt schlicht
Helmholtz-Zentrum für … Aber bei Geesthacht, da hat man noch mehr zu
verbergen als das und den Unfall 1986. Da führt die Spur direkt zurück in
die Geschichte, in die deutsche Atombombenforschung der Nazis."
Ich fasse es mal kurz zusammen: 1956 gründeten der Kernphysiker,
Sprengstoffexperte und Atomforscher Diebner mit dem Physiker E. Bagge die
Gesellschaft für Kernenergie und Schiffahrt (GKSS) in Geesthacht (auf dem
ehemaligen Gelände von Dynamit Nobel). Beide hatten, wie Heisenberg und
seine Gruppe, am Uranprojekt, dem geheimen Atomwaffenprogramm der Nazis
unter Heereswaffenamt und SS gearbeitet, aber waren 2. oder 3. Garnitur.
Dennoch kamen nicht Hahn, Heisenberg und v. Weizsäcker zur Kernexplosion,
sondern Diebner. Ihm soll 1945 in Thüringen eine erste "kleine" gelungen
sein, bei der KZ-Häftlinge als Versuchspersonen eingesetzt und umgebracht
wurden.
Diebner und Bagge hörten nie auf, sich mit Atomwaffen zu beschäftigen. Sie
haben den "Göttinger Appell" der deutschen Atomphysiker (auch derjenigen
aus dem NS-Uranprojekt) als Einzige nicht unterschrieben. Diese
Selbstverpflichtung, "sich nicht an Herstellung, Erprobung, oder Einsatz
von Atomwaffen zu beteiligen", wäre ihrer Forschung zuwidergelaufen. Sie
gaben für das GKSS die Fachzeitschrift Atomkernenergie heraus, in der auch
ihre Forschungsergebnisse der Nazizeit mit Stolz präsentiert wurden.
## Unfall in Geesthacht
30 Jahre nach der Gründung gab es einen ungeklärten Unfall beziehungsweise
Brand auf dem Gelände der GKSS-Kernforschungsanlage Geesthacht. Er wurde
sofort verharmlost und vertuscht. Das war 1986. In den neunziger Jahren gab
es dann dort die "weltweit auffälligste Häufung von leukämiekranken Kindern
in der Umgebung von Nuklearanlagen". Zu deren Aufklärung wurde 1992 eine
unabhängige achtköpfige Leukämiekommission offiziell von Schleswig-Holstein
eingesetzt. Die hochkarätige Kommission bestand aus Expertinnen und
Experten aus den Bereichen Umwelttoxikologie, Strahlenbiologie, Physik,
Nuklearmedizin, Medizin und Biochemie. Sie arbeitete zwölf Jahre
ehrenamtlich und fand in Umgebungsproben nukleartechnisch hergestellte
"PAC-Mikrokügelchen", was auf verbotene militärische Experimente schließen
ließ.
2004 traten, entnervt durch permanente Behinderungen und "eine Mauer des
Schweigens", sechs der acht Mitglieder aus der Kommission aus. Sie
verfassten einen eigenen Abschlussbericht, in dem man die Mitverursachung
des AKW Krümmel an den Leukämieerkrankungen zwar einräumte, die
entscheidende Kontamination aber auf geheimgehaltene kerntechnische
Sonderexperimente auf dem Gelände des Forschungsreaktors zurückführte.
Dieses Ergebnis gründlicher Analyse wurde als haltlose Verschwörungstheorie
abgewiesen und verworfen. Prof. Langfelder, Gründer der Gesellschaft für
Strahlenschutz und des Otto-Hug-Strahleninstituts (für Tschernobyl-Hilfe),
Strahlenbiologe und Arzt, ein Mann mit umfangreicher Tschernobyl-Erfahrung,
sprach von "Mechanismen von Verschleierung und Verdunkelung in Politik,
Wissenschaft, Wirtschaft und Staatsverwaltung". Ein anderes Mitglied, der
Biochemiker Prof. Scholz aus München, nannte es "Kumpanei von Wissenschaft,
Politik und Industrie" und zog sich zurück.
Pflugbeil sagt: "Wir mussten unsere Proben bis nach Weißrussland schicken.
Prof. Mironov von der Internationalen Sacharow-Umwelt-Universität Minsk -
sie wurde in der Folge von Tschernobyl gegründet - hat sie analysiert und
unsere Annahmen vollkommen bestätigt. Wir sind permanent behindert worden,
auch von allen Parteien, einschließlich der Grünen. Den Eltern, der ganzen
Bevölkerung und uns wurde immer nur ,Rotkäppchen und der Wolf' erzählt. Das
war lehrreich. Aber es war nur ein Beispiel für die Abschottung und für die
Lügen auf diesem Gebiet. Für mich war Tschernobyl ein absolutes Beispiel
dafür, wie von der ersten Minute an zielgerichtet gelogen wurde, es gab
erst ein totales Informationsverbot von allen Ministerien und dem KGB,
danach eine offizielle Version, die wir alle kennen.
Ich will jetzt auf den 2. Sarkophag zu sprechen kommen, denn er dient nicht
der Verhüllung einer gefährlichen Ruine, sondern zur Verhüllung von
gefährlichen Lügen. Da gibt es eine ganze Menge Ungereimtheiten. Weltweit
gilt zum Beispiel die Version, dass 95 Prozent des Kernbrennstoffs noch
drin sind und davon eine Gefährdung ausgeht für die Ukraine und für ganz
Westeuropa. Tschetscherow hat diese Behauptung eindeutig widerlegt und er
geht von weniger als 10 Prozent aus, die noch drin sind. Er hatte 2001 den
Auftrag vom Kurtschatow-Institut für ein Forschungsgutachten im
Zusammenhang mit dem 2. Sarkophag. Er hat Raum für Raum untersucht,
gemessen, fotografiert, hat Bohrproben genommen und seinen
Forschungsbericht gemacht. Er kriegte eine hohe Auszeichnung dafür und der
Bericht landete in der Schublade, für immer! Er stört die Geschäfte.
Tschetscherow erzählte mir, bevor wir - in Begleitung eines kleinen
Filmteams - in den zerstörten Reaktorblock IV reingingen, wie er da überall
rumgekrochen ist, auch auf dem Reaktorboden. Und dass er bei der Vermessung
des unteren Teils dort fünf Stunden gearbeitet hat. Er sagte, da gab es
keine 200 Tonnen, 20 Tonnen vielleicht, realistisch aber sind 10 Tonnen. Im
anderen Fall wären sie ja mausetot gewesen. Als wir dann drin waren, das
war schon ein beklemmendes Gefühl für mich. Der Krach der Instrumente, kaum
Licht, man musste aufpassen, wohin man tritt bei dieser Kletterpartie und
man wusste nie, ob nicht gleich ein Betonbrocken von oben runterfällt. Es
sind noch tausend Räume begehbar in dieser Ruine, unterschiedlich stark
zerstört. Am Boden des Reaktortopfes, sag ich mal, liegen so ein paar
Trümmerteile, die vom oberen Raum runtergefallen sind. Wir sind da drüber
weg gestiegen. Drunter gibt's noch verschiedene Räume, in denen an ein paar
Stellen auch diese ,Elefantenfüße' aus geschmolzenem Material zu sehen
sind. Tschetscherow hat uns das alles gezeigt und die Filmleute haben es
aufgenommen.
Im Reaktortopf war nichts. Es ist alles mit enormer Wucht rausgeschleudert
worden in einer kurzen und heftigen Explosion, die so stark war, dass sie
den 2.000 Tonnen schweren Betondeckel abgehoben hat. Also die Energiequelle
ist eindeutig Kernenergie gewesen und die Explosion war eine Kernexplosion!
Die westliche Welt - wo ja gilt, Kernkraftwerke und Kernwaffen sind was
vollkommen Verschiedenes - will das nicht wahrhaben, weil sonst klar würde,
dass sich ein KKW mit einer Kernexplosion selbst zerstören kann. Im
Lehrbuch aber steht, ein KKW kann das nicht. Es kann aber.
Man muss fragen, wem nutzt der neue Sarkophag, ein Ding von gewaltigem
Ausmaß, 100 Meter hoch, 250 Meter Spannbreite? Bis zum Juni 2011 hat die
Ukraine Finanzzusagen in Höhe von 685 Millionen Euro bekommen. Ein großer
Teil der internationalen Hilfsgelder des Tschernobyl-Fonds fließt wieder an
Firmen aus den Geberländern. Alle großen internationalen Namen der
Kernindustrie sind in Tschernobyl bereits im Geschäft. Die Gesamtkosten
werden momentan auf etwa 1,6 Milliarden Euro geschätzt. Das wird
ausgegeben, für etwas, das überflüssig ist. Und auf der anderen Seite ist
praktisch kein Cent zu beschaffen für die medizinischen und sozialen Fälle,
die da anstehen. Im März 2011 demonstrierten ehemalige Liquidatoren gegen
die Kürzung ihrer finanziellen Zuwendungen.
Diese Schere wollten wir zeigen mit dem Film. Der wurde ein paarmal
gesendet 2002 im ZDF. "Tschernobyl, der Millionensarg". Im Internet auf
Youtube kann man sich den gestückelt angucken. Vor der ersten Ausstrahlung
hat der deutsche Ansprechpartner für den Sarkophag, die Gesellschaft für
Reaktorsicherheit, versucht, beim ZDF-Intendanten zu intervenieren und die
Sendung zu verhindern. Aber man kann ja heute alles öffentlich sagen,
folgenlos.
Und zu Tschernobyl noch eine letzte Bemerkung: Als ich 1990 für ein paar
Wochen Minister war, kamen Leute aus dem Westen an - wir hatten ja die
ersten heiße Drähte zur Ukraine, zu Tschernobyl - und die Leute haben
gefragt, ob ich nicht vermitteln könnte, dass man den deutschen Atommüll in
Tschernobyl unterbringt. Und heute ist es anscheinend so weit. Ich habe mir
das angeschaut, jemand hatte mich hingebracht. In der Nähe von Tschernobyl
haben westliche Firmen auf einem absoluten Riesenareal Lagerstrukturen mit
unterschiedlichen Untergründen angelegt, zum Ablagern von Atommüll.
Angeblich für Müll aus Tschernobyl, aber das ist viel zu groß angelegt. In
Erwartung von Müll, der auch Geld bringt.
28 Nov 2011
## AUTOREN
Gabriele Goettle
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
Schwerpunkt Atomkraft
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