# taz.de -- Kolumne Fernsehen: Es geht um Tausendstelsekunden | |
> Alle Jahre wieder in epischer Breite: der Wintersport bei den | |
> Öffentlich-Rechtlichen. | |
Spätnovember in Deutschland – die Krankheitssaison beginnt. Und deswegen | |
organisierte ich mir am Freitag eine amtliche Erkältung, kaufte 20 Tüten | |
Saft, räumte den Fernseher ins Schlafzimmer und verbrachte das Wochenende | |
mit den Katzen im Bett. | |
Wir sahen, von Bella Block bis zu Charlie Sheen, von "Schwer verliebt" bis | |
zu Dokus über den Grazer Schlossberg und Jean Seberg, vom "Kriminalist" bis | |
zu den "Simpsons", viel Unterhaltsames und Aufschlussreiches. Außer bei der | |
ARD. Hier machten bunt gekleidete Menschen in Nadelwäldern komische Dinge, | |
während Kommentatoren von "Anfahrtshocke" und "steil angestellten Skiern" | |
sprachen, dass der Springer "keinen Druck unterm Vorbau" spüre und der | |
Rodler "die Bahn aus dem Hintern" führe. | |
Denn es war Spätnovember in Deutschland - und die TV-Wintersportsaison hat | |
begonnen. Bis in den Februar wird es nun jedes Wochenende | |
öffentlich-rechtliche Großkampfdoppeltage geben, sieben Stunden Minimum. | |
Wie jedes Jahr werden Dieter Thoma, Norbert König, Tom Bartels, Franziska | |
Schenk und Dutzende weitere Mitarbeiter in bunten Anoraks nach Kuusamo, | |
Lillehammer, Bergisel, Val di Fiemme und in andere Bergdörfer dieser Welt | |
geschickt. | |
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe Sport im Fernsehen. Aber wieso | |
wird ausgerechnet dieser antitelegene Wintersport in derart epischer Breite | |
abgedeckt? Wieso tauchen 90 Prozent der olympischen Sommerdiszipinen bloß | |
genau alle vier Jahre im deutschen Fernsehen auf, während vom | |
Winterprogramm jede popelige Weltcup-Qualifikation gezeigt wird. Es ist mir | |
unbegreiflich. | |
Rodeln etwa: Da werden um einen Eiskanal herum 20 Kameras angebracht, und | |
alle zeigen, wie ein Schlitten sehr schnell vorbeihuscht. Der Zuschauer | |
starrt derweil auf die Zeitanzeige, wer am Ende vier Tausendstelsekunden | |
vorn liegt. Das kann man sich genauso gut im Videotext anschauen. Beim | |
Riesenslalom, Eisschnelllauf, Bob und Langlauf ist es ähnlich. Die einzige | |
Ausnahme ist Biathlon, bei dem die Fernsehregisseure in den letzten 15 | |
Jahren die Inszenierung von Hektik perfektioniert haben. | |
Ein möglicher Grund für den Dauerbeschuss aus Kunstschneekanonen: Die | |
Deutschen sind gut beim Wintersport, sie gewinnen viel. Aber das tun sie | |
beim Hockey, Beachvolleyball und Sportschießen auch, und das läuft trotzdem | |
nie im Fernsehen. An den national bekannten Vorzeigesportlern kann es | |
ebenfalls nicht liegen. Oder kennen Sie Felix Loch? Tino Edelmann? Beide | |
haben am Wochenende Weltcups gewonnen. Wie soll man aber auch eine Bindung | |
zu den Wintersportlern aufbauen? Sie sind hinter Schutzbrillen und | |
Funktionskleidung versteckt, und wenn man sie vor die Kameras zerrt, | |
entpuppen sie sich als rotbackige Südbayern, so sympathisch wie | |
austauschbar. | |
Man muss sich wohl damit abfinden: Wintersport gehört längst zum | |
unhinterfragbaren öffentlich-rechtlichen Standardkanon, genau wie etwa | |
Adelshochzeiten, Volksmusik, Krimis, Lottozahlen, Frank Elstner, | |
Rosamunde-Pilcher-Filme und Reisereportagen aus Russland. Es wird geschaut, | |
weil es da ist. Und weil es geschaut wird, wird es immer da sein. | |
1 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Michael Brake | |
## TAGS | |
Evi Sachenbacher-Stehle | |
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