# taz.de -- Chiles Expräsident über Studentenproteste: "Die Jugend drängt we… | |
> Chiles Expräsident Ricardo Lagos spricht über die Linken in Südamerika, | |
> andauernde Studentenproteste in seinem Land und das Erbe Pinochets. | |
Bild: "Die Ära des Übergangs scheint zu Ende zu gehen": protestierende Studen… | |
taz: Herr Lagos, im Januar 2000 wurde mit Ihnen zum ersten Mal nach dem | |
Ende der Militärdiktatur wieder ein Kandidat der Sozialistischen Partei zum | |
Präsidenten Chiles gewählt. | |
Ricardo Lagos: Wir verstanden unsere Regierung damals als eine, die an die | |
Grenzen des Möglichen gehen sollte. Nach zehn Jahren Übergangsregierung der | |
Concertación (Zusammenschluss der Mitte-links-Kräfte gegen die Anhänger der | |
Diktatur) schien es uns an der Zeit, notwendige Veränderungen | |
voranzutreiben, um die autoritären Hinterlassenschaften der Ära Pinochet zu | |
überwinden. | |
Was waren die wichtigsten Veränderungen, die ihre Regierung durchsetzen | |
konnte? | |
Nun, die Oberkommandierenden der Armee sind jetzt absetzbar, unterstehen | |
der zivilen Ordnung. Es gibt keine ernannten Senatoren mehr und es ist | |
Schluss mit der unkontrollierbaren Macht des Nationalen Sicherheitsrats. | |
Das waren Instrumente der alten Diktatur, um das alte System | |
aufrechtzuerhalten. An der Reform des ungerechten Wahlsystems sind wir | |
allerdings bislang gescheitert. | |
In Chile ist das Thema der Menschenrechte und der Diktaturverbrechen bis | |
heute umstritten, wie gingen Sie damit um? | |
Das Thema Menschenrechte ist bis heute umkämpft. Aber wir konnten einiges | |
erreichen. Erfreulicherweise gelang es uns zum Beispiel, die nationale | |
Untersuchungskommission zu politischer Haft und Folter (Comisión nacional | |
sobre prisión política y tortura) einzurichten. | |
Ihre Regierung beschloss verschiedene Freihandelsabkommen. Dank des | |
Exportüberschusses hat Chile seit Jahren das höchste Wirtschaftswachstum in | |
Lateinamerika … | |
Auch wenn du ein kleines Land bist, öffnest du dir damit die Welt, denn in | |
dieser Welt findet der Wettbewerb statt. | |
Aber trotzdem leidet Chile weiterhin unter einem großen Einkommensgefälle | |
und einer enormen Kluft zwischen Arm und Reich. Warum befördert die gute | |
ökonomische Situation keine gerechtere Gesellschaft? | |
Als 1990 die Concertación erstmals nach der Diktatur Pinochets an die | |
Regierung kam, gab es 40 Prozent Armut im Land. Als ich 2000 für die | |
Concertación zum Präsidenten Chiles gewählt wurde, waren es noch 22 | |
Prozent. Und weitere sechs Jahre später, am Ende meiner Amtszeit, waren es | |
noch 13 Prozent. Das ist nicht so schlecht. Doch einer Reform der | |
Steuergesetze, einer Umverteilung der Einkommen hat sich die Rechte stets | |
widersetzt. | |
Wegen der autoritären Überreste des Regimes, den ernannten Senatoren, hatte | |
die Rechte immer eine Sperrmehrheit im Senat. Wir konnten dort immer nur | |
aus der Minorität regieren. Immerhin konnten wir aber die Kapitalflucht von | |
25 Prozent auf 16 Prozent senken. Doch 22 Jahre nach dem Ende der Diktatur | |
scheint in Chile die Ära des Übergangs zu Ende zu gehen - politisch, sozial | |
und wirtschaftlich. Die Studenten protestieren auf den Straßen. | |
Nach wie vor muss man in Chile ein Hochschulstudium teuer und zumeist | |
privat bezahlen. Viele Familien können sich das nicht leisten, Bildung ist | |
von der Diktatur bis heute ein profitables Geschäft geblieben? | |
Ja. Trotzdem möchte ich hinzufügen: Das System ist seit 1990 viel | |
durchlässiger geworden. Heute stammen sieben von zehn Studenten aus | |
Nichtakademikerfamilien. Die heutigen Proteste kommen zumeist aus dem | |
Mittelstand, nicht von den ganz Armen. Die Leute protestieren, weil achtzig | |
Prozent der Studiengebühren privat getragen werden. Die Jugendlichen, die | |
protestieren, sind Töchter und Söhne der Demokratie. Es gibt dieses | |
Graffito: "Sie haben Angst vor uns, weil wir keine Angst haben." Und das | |
stimmt: Sie sind nach 1990 geboren. | |
Im August wurden Sie beim Verlassen der Universität in Viña del Mar selbst | |
von aufgebrachten Studenten wütend beschimpft. Was haben Sie da gedacht? | |
Das waren vielleicht zwanzig Jugendliche. Zuvor im Saal hörten mir | |
vierhundert Studenten in Ruhe zu. Es ist aber völlig in Ordnung, sich zu | |
äußern, wenn einem etwas nicht gefallen hat. Dafür leben wir in einer | |
Demokratie. | |
Die chilenische Studentenbewegung macht nicht nur die derzeitige rechte | |
Regierung Piñeiras, sondern auch Sie und die früheren Regierungen der | |
Concertación für die Misere im Bildungssystem mit verantwortlich. | |
Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Chile war zäh. Bis 1998 | |
blieb der Diktator Oberbefehlshaber des Heeres. Im Senat blockierten die | |
ernannten Senatoren die gewünschten Bildungsreformen. Man muss die Dinge in | |
ihrem historischen Kontext beurteilen. Die Jugend heute drängt jedoch | |
weiter. Sie weiß nicht, warum sie sie sich damit noch befassen soll und | |
sagt: "Das ist euer Problem, nicht unseres. Wir fordern eine Veränderung." | |
Verständlich? | |
Ich sage: Das ist in Ordnung, doch lasst mich bitte erklären, warum die | |
Dinge in der Vergangenheit so liefen, wie sie liefen. | |
Kann die chilenische Rechte, die Regierung Piñeira, die aktuellen | |
Forderungen der Studierenden weiterhin einfach ignorieren? | |
Die jetzige Regierung geht mit den Protesten wie mit irgendeinem | |
x-beliebigen Konflikt um. Sie begreift nicht, dass sie Ausdruck des Endes | |
der Ära des Übergangs zur Demokratie sind. Die Leute orientieren sich nicht | |
mehr an den Errungenschaften der Vergangenheit, sie wählen die Zukunft. | |
Was wären die wichtigsten Reformschritte? | |
Zum Beispiel die Abschaffung des Zwei-Kandidaten-Mehrheitswahlsystem, eine | |
automatische Einschreibung in die Wählerlisten, damit alle wählen können. | |
Das Bildungssystem muss grundlegend verändert werden und die | |
Steuergesetzgebung muss eine gerechtere Verteilung der Einkünfte | |
garantieren. | |
Wie andere Staaten Südamerikas erzielt Chile seine Gewinne hauptsächlich | |
aus dem Export von Rohstoffen wie dem Abbau von Kupfer. Damit gehen | |
gravierende Umweltzerstörungen einher. Wo sehen Sie Möglichkeiten einer | |
nachhaltigen Ökonomie für Chile? | |
Chile war schon immer eine Bergbaunation. Zuerst Silber, dann Kupfer, | |
später Salpeter und dann wieder Kupfer. Trotzdem kann man mit den Einnahmen | |
aus dem Verkauf von Rohstoffen nicht einfach den laufenden Staatshaushalt | |
finanzieren. Während meiner Regierung begannen wir damit, Sondersteuern auf | |
den Abbau zu erheben, um mit diesen zusätzlichen Mitteln stärker in | |
Forschung und Entwicklung neuer Technologien zu investieren. Eines Tages | |
werden die natürlichen Ressourcen ausgeschöpft sein. Es kommt also darauf | |
an, den jetzigen Kupferboom und wirtschaftlichen Aufschwung für die Zukunft | |
zu nutzen. | |
Umweltorganisationen und lokale Bevölkerungsteile fordern immer öfter ein | |
Ende der Zerstörung und eine stärkere Beteiligung an den Gewinnen. | |
Chile verfügt über Gesetze zum Schutz der Umwelt, deren Standard weit über | |
dem anderer Staaten liegt. Entscheidend ist, dass die Gesetze zur Anwendung | |
gebracht werden. Im Bergbau muss aber die Entwicklung schnell vorangebracht | |
werden. Kupfer sollte bald kein einfaches Standardprodukt mehr sein, | |
sondern verschiedene Preise haben, je nachdem wie hoch der | |
Emissionsverbrauch bei der Gewinnung war. Das darf nicht länger | |
gleichgültig sein. | |
Mit der Wirtschaft wächst auch der Energieverbrauch. Wie wird Chile künftig | |
seinen Energiebedarf decken? Die Regierung verhandelte vor Fukushima mit | |
den USA über die Errichtung eines ersten Atomkraftwerks. | |
Es gibt ein vor und ein nach Fukushima. Hätten Sie mich vor dem Unglück | |
befragt, hätte ich keinen Grund gesehen, warum Chile nicht auch Atomenergie | |
nutzen sollte. Unsere Nachbarstaaten Brasilien und Argentinien tun dies ja | |
auch seit Jahren. Doch jetzt kenne ich niemanden, der sagen würde: "Lasst | |
uns mit der Atomenergie weitermachen." Manche behaupten höchsten noch, man | |
solle weiterforschen. | |
Und was raten Sie? | |
Wir sollten auf die Entwicklung alternativer Technologien setzen. | |
Sonnenenergie aus der chilenischen Wüste wäre zum Beispiel optimal. Damit | |
ließen sich auch die CO2-Emissionen bei der Kupfergewinnung in Nordchile | |
deutlich senken. Ich denke, das ist der Weg den wir beschreiten sollten. | |
6 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Eva-Christina Meier | |
## TAGS | |
Reiseland Chile | |
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