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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Software für Diktatoren
> Von Peking bis Damaskus spionieren Geheimdienstler das Netz aus. Das
> System "Deep Packet Inspection" (DPI) aus dem Hause der kalifornischen
> Firma Narus hilft dabei.
Bild: Aber die Gedanken sind frei: Idlib (Syrien) am 17. Januar 2012.
Nach der Eroberung von Tripolis besichtigte die Journalistin Margaret Coker
vom Wall Street Journal eine Geheimdienstzentrale in der libyschen
Hauptstadt. Dort stellte sie fest, dass tatsächlich alles überwacht worden
war: Internet, Handys und Satellitenverbindungen. In den Aufzeichnungen
fand sie unter anderem E-Mails und Auszüge aus Onlinechats zwischen
Gaddafi-Oppositionellen.
An den Wänden des Spionagezentrums klebten Etiketten des Unternehmens, das
die Überwachungsanlage installiert hatte: Amesys, eine Tochterfirma des
französischen Computerkonzerns Bull.1 Das Satiremagazin Le Canard enchaîné
enthüllte später, dass Libyen den französischen Nachrichtendienst DRM um
Unterstützung bei der Ausbildung von Überwachungsleuten gebeten hatte.2
In Syrien zensiert Baschar al-Assad das Internet mit US-amerikanischer
Technik und ermittelt nach Belieben die Adressen und Passwörter der Bürger,
um ihre Mailprogramme oder Facebook- und Twitter-Accounts auszuschnüffeln –
und die Verbindungen zwischen Oppositionellen und deren in- oder
ausländischen Unterstützern zu rekonstruieren.
## Indiskret und übergriffig
Die verwendete Netzwerktechnologie trägt den harmlosen Namen Deep Packet
Inspection (DPI). Wenn wir eine Mail abschicken, werden dutzende Rechner
gebraucht, um sie zum Empfänger zu bringen. Sie sehen nur nach der Adresse,
kümmern sich nicht um den Inhalt und übermitteln sie direkt an den nächsten
Rechner. Jonathan Zittrain, Harvard-Professor für Internetrecht, zieht zur
Veranschaulichung den Vergleich mit einer Abendgesellschaft unter höflichen
Menschen heran.
„Wenn Sie weit weg von der Bar stehen und es sehr voll ist, bitten Sie
Ihren Nachbarn, Ihnen ein Bier zu besorgen. Der bittet dann seinen
Nachbarn, der etwas näher an der Bar steht und so weiter. Am Ende kommt
Ihre Bestellung zur Bar, und irgendwann kommt das Bier tatsächlich bei
Ihnen an. Da alle höflich sind, hat zwischendurch niemand aus Ihrem Glas
getrunken.“ (3)
Mit DPI kommt ein anderer, weniger höflicher Stil ins Internet. Was würden
Sie sagen, wenn Ihr Nachbar Ihre Bestellung analysiert und Ihnen eine
Moralpredigt hält? Oder wenn er den Inhalt Ihres Glases gegen Wasser oder
Schnaps austauscht? So ähnlich sind die Prozeduren, die dank DPI möglich
werden: den Inhalt von Mails lesen, sie verändern oder an jemand anderen
schicken.
## Eine neue geheime Industrie
Der französische Hersteller Amesys ist auf diesem Markt nicht allein.
Qosmos, ein anderes französisches Unternehmen, hat sich jüngst von
Bloomberg erwischen lassen. Die US-Presseagentur hat aufgedeckt, dass
Qosmos DPI-Sonden an ein Konsortium geliefert hat, das Syrien mit der
gleichen Technologie ausrüsten soll wie Gaddafis Libyen.(4) Auch in China
ist DPI das Herzstück der Installationen, mit denen die Regierung die
Internetkommunikation zensieren und die Bürger ausspionieren kann.
Wie jüngste Enthüllungen von Wikileaks zeigen, ist die Überwachung der
Kommunikationsnetze „eine neue, geheime Industrie, die 25 Länder umfasst.
[…] In den traditionellen Spionagegeschichten hören Geheimdienste wie der
britische MI5 die Telefone von ein oder zwei interessanten Personen ab. In
den letzten zehn Jahren ist die massive, wahllose Überwachung zum Standard
geworden.“(5) Kurz zuvor hatte das Wall Street Journal mehr als 200
Marketingdokumente von 36 Unternehmen veröffentlicht, die den
US-Antiterrorbehörden Überwachungs- und Piraterietechnologie aller Art
anboten.(6 )
## Vom Sonntagspiraten bis zum Profiagenten
In den Vereinigten Staaten erlebte DPI im Mai 2006 eine Sternstunde: Mark
Klein, ein ehemaliger IT-Spezialist beim US-Internetprovider AT & T,
enthüllte die Installation von Produkten der Firma Narus bei seinem
früheren Arbeitgeber, also im Herzen des amerikanischen Internets.
Auftraggeberin war der US-Geheimdienst, die National Security Agency (NSA),
die in den 1980er und 1990er Jahren das globale Abhörsystem Echelon
entwickelt hatte. Die Devise von Narus lautet: „See clearly. Act swiftly“
(Erkenne deutlich. Handle schnell). Narus, der 1997 gegründete
DPI-Technologieentwickler mit 150 Angestellten, brachte 2006 30 Millionen
Dollar ein und wurde 2010 von Boeing aufgekauft. Seine Produkte sollen
unter Mubarak in Ägypten installiert worden sein.(7 )
Die meisten Daten, die per E-Mail, Chat, Internettelefonie, Videokonferenz
oder asynchrone Diskussion hin und her gehen, sind unverschlüsselt und
folglich sowohl für jeden Sonntagspiraten als auch für staatliche
Sicherheitsdienste leicht abzuhören.
Einige private Akteure haben ein ganz anderes Interesse an den
Spionagetechnologien. Die Telekommunikationsanbieter beklagen sich
zunehmend, dass sie in ihren Netzen gigantische Datenmengen vorbeiziehen
sehen, deren Absender nicht für den Transport bezahlen. Die Provider stören
sich zum Beispiel daran, für YouTube-Videos zu zahlen, die sie ihren
Abonnenten ausliefern müssen. Deshalb versuchen sie verstärkt, entweder der
Datenquelle oder dem Endnutzer einen Aufschlag zu berechnen oder bestimmte
Datenströme selektiv zu verlangsamen und andere bevorzugt zu behandeln.
Dafür muss man allerdings genau feststellen können, was durch die Leitungen
fließt.
## Die Konsumindustrie ist auch dabei
Um ihre Infrastrukturkosten zu begrenzen, haben die Mobilfunkbetreiber
beschlossen, ihren Nutzern nur einen bandbreitenlimitierten Internetzugang
zu gewähren. Sie verbieten den Nutzern „intelligenter“ Telefone den
kollektiven Peer-to-Peer-Austausch von Dateien (Filme, Musik oder auch
Pornos werden auf diesem Wege über ein Rechnernetzwerk ausgetauscht) oder
die Nutzung von Video- oder Stimmübertragungsdiensten wie Skype.
Auch hier ermöglicht DPI den Betreibern die Überwachung und Steuerung der
Datenströme und für bestimmte Dienste (zum Beispiel ihre eigenen) die
Zuweisung einer höheren Übertragungsrate von Daten. Das alles steht jedoch
im Widerspruch zur „Netzneutralität“, die verlangt, dass der Provider alle
Daten diskriminierungsfrei weiterleitet.
Wer mit DPI im Netz navigiert, kann die Spur von allem verfolgen, was die
Leute dort machen. Da können Marketingspezialisten sich schon freuen, diese
Daten eines Tages auswerten zu können. France Télécom Orange hat erst
kürzlich das auf DPI beruhende Angebot „Orange préférence“ lanciert, das
verspricht, mit Zustimmung des Abonnenten die von ihm besuchten Websites zu
analysieren und ihm dann gezielte Angebote zu machen. Dadurch wollen die
Provider so rentabel werden wie Facebook und Google. Man fragt sich, ob
diese Kundenbindungs- und -überwachungsprogramme Abonnenten finden, aber
die Provider müssen nur behaupten, die Daten würden anonymisiert, um daraus
ein vermarktbares Produkt zu machen.
Neugierige Leser können die Seite Data Privacy der Gesellschaft für
Konsumforschung (GFK), ebenfalls ein Aktionär von Qosmos, konsultieren.
Dort werden allerdings nur die Cookies der Webbrowser erwähnt, also die
kleinen Datenpakete, die den Nutzern auf die Festplatte gespielt werden.
Man verschweigt jedoch, dass eine angeblich „anonymisierte“ DPI-Technologie
auch genutzt wird, um Besucher von Websites zurückzuverfolgen. Die in
Nürnberg ansässige GFK, das größte deutsche Marktforschungsinstitut und
weltweit die Nummer vier in der Branche, ist in mehr als 150 Ländern
präsent, und nicht nur in großen Demokratien.
## Praxistest im Unrechtsstaat
DPI lockt auch Verwertungsgesellschaften und Copyright-Eigentümer an, die
den „illegalen“ Peer-to-Peer-Austausch von Dateien oder Downloadsites wie
Megaupload bekämpfen wollen, auf denen Nutzer Dateien hochladen und als
Link zum Herunterladen wieder verschicken können. Um herauszubekommen,
welcher Internetnutzer welchen Film oder welche Musik herunterladen möchte,
und ihm dann seinen Zugang zu blockieren, braucht man auch eine verschärfte
Überwachung an allen Datenaustauschpunkten, also bei den Providern.
Ein anderer Markt von DPI betrifft die legale Überwachung, wenn
beispielsweise im Rahmen polizeilicher Ermittlungen Telefonverbindungen
abgehört und aufgezeichnet werden. Das geschieht in den westlichen
Demokratien unter richterlicher Kontrolle und ist natürlich kein
attraktiver Massenmarkt. Solange also bei den Budgets für die
Terrorbekämpfung keine gigantischen Erhöhungen in Aussicht stehen,
empfiehlt es sich für die Unternehmen, sich auf die Suche nach anderen
Absatzmärkten zu machen.
Hier treten die Regierungen von Polizeistaaten auf den Plan, die am
liebsten ihre gesamte Bevölkerung abhören würden. In solchen Ländern kann
die Überwachungssoftware ihren Praxistest durchlaufen. Große Rabatte bekam
Ben Alis Tunesien für Systeme, in denen noch Softwarefehler steckten. Für
Amesys bot sich Libyen zum Praxistest an, um herauszufinden, was mit seinem
Vorzeigeprodukt, der Software Eagle Glint(,8) möglich ist und was nicht. So
ging auch Alcatel in Birma vor.(9) Selbstverständlich vereinfacht die
Auswertung der mittels DPI gesammelten Daten, Oppositionelle zu verhaften.
Den Rest erledigt die Folter, hier bleiben die Schergen bei den bewährten
Methoden, die immer Ergebnisse bringen.
Das Europaparlament hat offenbar mit Erschrecken die massive Präsenz
europäischer Unternehmen in Unrechtsstaaten zur Kenntnis genommen und eine
Resolution verabschiedet. Sie will den Verkauf von Überwachungssystemen für
Telefongespräche und SMS beziehungsweise von Systemen, die eine gezielte
Überwachung im Internet ermöglichen, künftig nur noch zulassen, wenn sie
weder gegen demokratische Prinzipien verstoßen noch die Menschenrechte oder
die Redefreiheit missachten.(10 )
Am 1. Dezember 2011 hat der Rat der Europäischen Union mit der Verschärfung
der Sanktionen gegen das syrische Regime „den Export von Anlagen und
Software für die Überwachung von Internet und Telefongesprächen“ verboten.
Aber der Export von Abhörtechnologie bleibt eine juristische Grauzone. Es
ist immer noch leicht für die Hersteller, zwischen den Maschen
hindurchzuschlüpfen, zumal die Gesetze von Land zu Land unterschiedlich
sind. Hinzu kommt, dass die von den Regierungen erteilten Genehmigungen
nicht veröffentlicht werden – und dass Software nicht in einem engeren
Sinne als Waffe gilt.
Fußnoten:
(1) Paul Sonne und Margaret Coker, „Firms Aided Libyan Spies“, The Wall
Street Journal, New York, 30. August 2011.
(2) „Des experts des services secrets français ont aidé Kadhafi à espionner
les Libyens“, "Le Canard enchaîné, Paris, 7. September 2011, sowie „Secret
militaire sur le soutien à Kadhafi“, Le Canard enchaîné, Paris, 12. Oktober
2011.
(3) Jonathan Zittrain, „The Web as random acts of kindness“, TED-Konferenz,
Juli 2009.
(4) „Syria Crackdown Gets Italy Firm’s Aid With U.S.-Europe Spy Gear“,
Bloomberg, 3. November 2011.
(5) Wikileaks, „The Spy Files“, 1. Dezember 2011;
[1][wikileaks.org/The-Spyfiles].
(6) Jennifer Valentino-Devries, Julia Angwin und Steve Stecklow, „Document
Trove Exposes Surveillance Methods“, The Wall Street Journal, 19. November
2011.
(7) Timothy Karr, „One U.S. Corporation’s Role in Egypt’s Brutal
Crackdown“, The Huffington Post, 28. Januar 2011.
(8) Siehe Amesys-Dossier auf [2][Reflets.info].
(9) Diane Lisarelli und Géraldine de Margerie, „Comment Alcatel se connecte
à la junte birmane“, Les Inrockuptibles, Paris, 26. März 2010.
(10) „Le Parlement européen interdit la vente de technologies de
surveillance aux dictatures“, 11. Oktober 2011: [3][www.fhimt.com].
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
aus [4][Le Monde diplomatique] vom 13.1.2012
22 Jan 2012
## LINKS
[1] http://wikileaks.org/The-Spyfiles
[2] http://reflets.info/
[3] http://www.fhimt.com/
[4] http://www.monde-diplomatique.de
## AUTOREN
Antoine Champagne
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
Investigativer Journalismus
Trojaner
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