# taz.de -- Kulturaustausch in Indien: Im Zentrum der Welt | |
> Die Kulturszene in Indien hat Oberwasser. Galerien, Bollywood und | |
> Subkulturen boomen. Besonders beeindruckend ist aber der alltägliche | |
> Culture Clash in Mumbai. | |
Bild: In Mumbai werden 200 Sprachen gesprochen. | |
MUMBAI taz | In Mumbai lässt sich definitiv eine Menge über Kulturaustausch | |
erfahren. Aber zunächst anders, als man es sich von Deutschland aus | |
vielleicht immer noch vorstellt. Seit Jahrhunderten ist diese | |
18-Millionen-Einwohner-Metropole (im Jahr 2020 werden es 28 Millionen sein) | |
ein Schmelztiegel der indischen Ethnien, Sprachen, Religionen. | |
Der innerindische Kulturaustausch erscheint einem da zunächst massiver als | |
der zwischen Indien und dem Westen. Auch wenn die Galerienszene wächst und | |
gedeiht, ein Symphonieorchester im Aufbau ist, die Subkulturen boomen und | |
Bollywood sowieso Filme en masse auswirft: Die Kulturszene im engeren Sinne | |
ist umgeben von einem beeindruckenden Culture Clash, der sich alltäglich | |
auf den Straßen abspielt. | |
Wer in Indien der heimatlichen Sozialkontrolle entfliehen wollte, der kam | |
schon seit Jahrhunderten hierher, in die Hafenstadt und | |
Wirtschaftsmetropole. Daraus erwächst ein Sozialdruck, der Mumbai teilweise | |
zu einer Gotham City werden lässt. Der eine Teil der Zuziehenden wird reich | |
oder arbeitet sich wenigstens in die Mittelklasse hinein. | |
Der andere Teil landet in den Slums, den größten Asien, in denen bis zu | |
300.000 Menschen auf einem Quadratkilometer leben (Berlin: 3.800 Menschen | |
pro Quadratkilometer). "Die größte Angst eines jeden Einwohners von Mumbai | |
ist es, auf dem Bürgersteig zu landen", schreibt Suketu Mehta in seinem so | |
interessanten wie stellenweise erschreckenden Buch "Bombay - Maximum City". | |
Und während man beim Überqueren einer Straße über buchstäblich im Rinnstein | |
schlafende Menschen steigen muss, möchte man Frank Sinatra widersprechen: | |
Wenn du es in New York schaffen kannst, kannst du es noch lange nicht in | |
Mumbai schaffen. | |
## Unentwegt Menschen fotografieren | |
Die lichte Seite dieser innerindischen Migrationsströme ist aber: Mumbai | |
ist eine Stadt, in der man unentwegt Menschen fotografieren möchte. Viele | |
Gebäude sind eindrucksvoll. Victoria Station, malerisch verfallene Villen | |
im Kolonialstil, wuchernde Hochhaus-Skylines, postmoderne Hotelfassaden. | |
Aber wer hier nur durch die Straßen läuft, kann sich mit der Diversität der | |
Welt aufladen. So viele Gesichtsformen, modische Zeichensysteme, | |
Kopfbedeckungen! 200 Sprachen werden in Mumbai gesprochen. Das Erste, was | |
man also bei so einer Reise auf Einladung des Goethe-Instituts anschaulich | |
präsentiert bekommt, ist, dass die Rede von einem Austausch mit der | |
indischen Kultur, na ja, Blödsinn ist. | |
Sobald man nur die Hotellobby verlassen hat, raunt dir in Mumbai alles zu: | |
Es gibt viele Indien. Die Zeiten sind vorbei, in denen man diese Buntheit | |
allein als folkloristische Bereicherung begreifen konnte oder als Anlass, | |
für ein paar Wochen aus dem durchrationalisierten Angestelltentrott des | |
Westens auszusteigen. | |
Es schwant einem halt inzwischen, dass in solchen Megastädten wie Mumbai | |
über die Zukunft der Welt mindestens ebenso sehr entschieden wird wie in | |
Washington, Brüssel, Tokio oder Moskau. Nach Vorarbeiten in der Kulturszene | |
und angetrieben von wirtschaftlicher Suche nach neuen Märkten ist diese | |
Ahnung auch in der offiziellen Politik angekommen. | |
## Selbstverständlich globalisierte Hotels | |
"Die neuen Gestaltungsmächte" - so wird Indien in Hintergrundgesprächen im | |
deutschen Außenministerium inzwischen genannt, neben China und Brasilien. | |
Hans-Georg Knopp hat diese Verschiebung begleitet. Der 67-jährige | |
scheidende Generalsekretär des Goethe-Instituts und studierte Indologe | |
sitzt im Taj Mahal beim vormittäglichen Masala-Tee. | |
Das Taj ist eins dieser so selbstverständlich globalisierten Hotels, wie | |
man sie in Europa höchstens in London oder Paris findet: die Gäste eine | |
illustre Mischung aus Chinesen, Amerikanern, Europäern, Indern. Mumbai | |
bedeutet Knopps letzte Auslandsreise als Generalsekretär. Heute wird er in | |
der Münchner Zentrale des Instituts verabschiedet, sein Nachfolger Johannes | |
Ebert tritt zum März sein Amt an. Das Reiseziel ist bewusst gewählt. | |
Von 1975 bis 1981 war Knopp als Programmreferent in Mumbai, erste | |
Auslandsstation seiner Karriere. Seitdem hat sich Mumbai verändert - "die | |
Slums sind deutlich größer geworden", sagt Knopp -, vor allem aber auch die | |
Einstellung des Westens gegenüber Indien. | |
Knopp: "Ich muss gestehen, als ich hier anfing, hatte ich eine richtig | |
koloniale Attitüde. Ich dachte, den Indern muss ich etwas beibringen." Fast | |
kopfschüttelnd blickt Hans-Georg Knopp auf die Zeit zurück, als das die | |
Haltung des gesamten Westens war: "Die chinesische und die indische Kultur | |
versinken. Das war der Stand damals." Gerade einmal eine Generation ist das | |
her. | |
## Neue Weltordnung | |
Und man bekommt im Gespräch eine Ahnung davon, was für eine | |
gesellschaftliche Arbeit es bedeutet, sich auf die neue Weltordnung | |
einzustellen, in der Indien und China als Player auftreten. Auf seinen | |
beiden nächsten Stationen - Singapur und Djakarta - hat dann, so Knopp, | |
sein Unbehagen an der westzentrierten Sicht der Welt deutlich angefangen. | |
Artikulieren konnte er es aber erst, als er, nächste Station, in Chicago | |
den postkolonialen Theoretikern Homi Bhabha, Edward Said und Arjun | |
Appadurai begegnete (sowohl Bhabha als auch Appadurai wurden übrigens in | |
Mumbai geboren). Das muss in etwa der Moment gewesen sein, als der | |
inzwischen zur Floskel geronnene Begriff "auf Augenhöhe" geprägt wurde. | |
Man muss die konstruktivistischen Voraussetzungen insbesondere Bhabhas und | |
Saids nicht teilen, aber ihre Kritik eines westlichen Kulturbegriffs, der | |
auf Hierarchisierung und Ausgrenzung setzt, bleibt wichtig. "Man kommt | |
nicht mehr darum herum, anzuerkennen, dass es verschiedene Wege in eine | |
eigene Moderne gibt", sagt Knopp. Um dem Vorwurf des Kulturrelativismus | |
vorzubeugen, setzt er gleich hinzu: "Das bedeutet noch lange nicht, dass | |
man seine eigene Position aufgibt. | |
Aber man muss nach Wegen suchen, sich von gleich zu gleich zu verständigen | |
und Konflikte auszuhandeln." Erst als Leiter des Berliner Hauses der | |
Kulturen der Welt und dann, seit 2005, als Generalsekretär des | |
Goethe-Instituts hat Knopp versucht, diese Ansätze in Strukturen zu | |
übersetzen - und ist dabei auf institutionelle Widerstände gestoßen. | |
## "Third Space" | |
"Meine eher synkretistischen Gedanken waren im Goethe-Institut zunächst | |
umstritten", sagt er. Und er sorgt sich, dass die auswärtige Kulturpolitik | |
allein zur Imageförderung für die deutsche Wirtschaft gebraucht werden | |
könnte. Stattdessen glaubt Knopp, während es im Taj Mahal dem Mittag | |
zugeht, an die Möglichkeit eines "Third Space", eines vom Goethe-Institut | |
geschützten Raumes innerhalb der Gastkulturen, in dem sich Künstler und | |
Intellektuelle unabhängig von den Bedingungen und gegebenenfalls | |
Repressionen ihrer Heimatländer begegnen können. Im Goethe-Institut von | |
Kairo, das, wie der Zufall es will, direkt am Tahrirplatz liegt, habe das | |
bei den Ereignissen im Arabischen Frühling gut funktioniert. | |
Dann gibt es auf dieser Reise noch einen weiteren Aspekt des | |
Kulturaustauschs kennenzulernen: wie viel Glück, Geschick, Kenntnis und | |
Engagements es bedarf, um ihn konkret in die Tat umzusetzen. Das | |
Goethe-Institut präsentiert im National Centre of Performing Arts in Mumbai | |
eines der Highlights des gegenwärtigen Deutschlandjahres in Indien: Das | |
Filmorchester Babelsberg spielt Melodien des in Chennai, Indien, geborenen | |
und längst zum Weltstar aufgestiegenen Filmkomponisten A. R. Rahman. | |
Er schrieb die Musik für Dutzende Bollywoodfilme sowie unter anderem für | |
"Elisabeth" und "Slumdog Millionär". Das Konzert haut voll rein. Der | |
Bigger-than-life-Wirkungswille Bollywoods - live vorgetragen in der Breite | |
eines europäischen Symphonieorchesters, zwischendrin eine Sitareinlage - | |
ist keine Erkundung gemeinsamen musikalischen Terrains, sondern, vom | |
britischen Dirigenten und Arrangeur Matt Dunkley (mit dem Rahman seit | |
langem zusammenarbeitet) leicht "andrew-lloyd-webbert", wie er am Vorabend | |
beim Dinner sagte, eher der Versuch, sich in einer Überwältigungsästhetik | |
zu treffen; darin aber wirklich großes Kino. | |
"Eine neue Erfahrung für das indische Publikum", sagt netterweise die | |
Schwester des in Indien offenbar wie hierzulande einst Michael Jackson | |
verehrten A. R. Rahman, der wir in der Pause vorgestellt werden. Und zum | |
Teil auch eine neue Erfahrung für die deutschen Musiker, das merkt man an | |
der halb irritierten, halb beeindruckten Art und Weise, wie sie über ihre | |
Geigen gucken, wenn das indische Publikum eine der Kinohymnen Rahmans | |
wiedererkennt und darüber in Jubel ausbricht. | |
## "Bach von Bollywood" | |
Angesichts solcher Szenen kann man es auch verschmerzen, dass der deutsche | |
Botschafter A. R. Rahman zur Begrüßung von der Bühne herab etwas zu | |
beflissen zum "Bach von Bollywood" ausruft. Überwogen wird das vom | |
gegenseitigen Anerkennungstransfer, der bei dieser Gelegenheit stattfindet, | |
in der zum ersten Mal überhaupt ein indischer Komponist von einem | |
europäischen Orchester in Indien aufgeführt wird. | |
Wichtig ist noch, was Marla Stukenberg erzählt. Sie ist die Leiterin des | |
Goethe-Instituts in Mumbai, sie hatte die Idee zur Tour und hat mit ihrem | |
Team die gigantische Organisation gestemmt (3.500 Kilogramm wiegen allein | |
die Instrumente). Sie erzählt, dass A. R. Rahman auf ein Honorar verzichtet | |
habe. Stukenberg: "Wir hätten ihn sowieso nicht bezahlen können." Rahman | |
ist einer der höchstbezahlten Filmkomponisten der Welt. | |
Zugestimmt habe er vielmehr, weil Mitglieder des Babelsberg-Orchesters mit | |
dem von ihm gegründeten Ausbildungszentrum für klassische Musik, dem KM | |
Music Conservatory in Chennai, zusammenarbeiten werden. Wer zudem weiß, | |
dass, wie der indische Filmhistoriker Amrit Gangar in einer | |
Begleitbroschüre erläutert, kulturelle Beziehungen zwischen dem Filmstudio | |
Babelsberg und der Filmindustrie von Mumbai seit hundert Jahren existieren, | |
gewinnt den Eindruck, dass Kulturaustausch manchmal erfreulich langfristig | |
angelegt werden kann. | |
25 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
## TAGS | |
Mumbai | |
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