# taz.de -- Quizsieger in Indien fürchtet Erpressung: Land der begrenzten Mög… | |
> Bei der indischen TV-Serie "Wer wird Millionär?" hat erstmals ein | |
> Kandidat alle Fragen richtig beantwortet. Nach Hause fährt er aber nicht | |
> - aus Angst vor Entführung. | |
Bild: Zwiespältiges Glück: Sushil Kumar nach dem Sieg bei "Wer wird Millionä… | |
DELHI taz | Es war eine tolle Geschichte. Die ganze Welt war begeistert. | |
Man schrieb das Krisenjahr 2009, doch aus Indien kam die Botschaft: Wir | |
träumen weiter - vom großen Geld! | |
Die Geschichte hieß "Slumdog Millionär" und erzählte von dem jungen | |
Slumbewohner Jamal Malik, der bei der indischen Ausgabe des Fernsehquiz | |
"Wer wird Millionär?" alles richtig macht und das große Los zieht. Im Film | |
ist sein Quizsieg ein nationales Ereignis - ganz Indien schaut zu und | |
bejubelt die Geschichte eines unwahrscheinlichen plötzlichen sozialen | |
Aufstiegs. Diese sehr amerikanische Erzählung wurde mit acht Oscars | |
ausgezeichnet. | |
Doch was, wenn der Hollywood-Traum wahr wird? Wenn die Geschichte wirklich | |
passiert? Oh, wie langweilig ist das Leben! Keine Schlagzeilen, kein | |
kollektiver Traum, nur Kurzmeldungen in den Gazetten - das war die bittere | |
Erfahrung, nachdem jetzt wirklich zum ersten Mal ein kleiner Mann aus der | |
indischen Provinz den Millionen-Jackpot jener Fernsehsendung ergatterte, | |
die für "Slumdog Millionär" Pate gestanden hatte. | |
Dabei passte der Gewinner wunderbar zur Beschreibung des armen indischen | |
Außenseiters: Sushil Kumar ist gerade 25 Jahre alt und Lehrer - in Indien | |
ohnehin ein Armutsjob, in Bihar, einer der ärmsten Provinzen des Landes. | |
Gut, immerhin rief ihn der Ministerpräsident von Bihar auf dem Handy an, | |
als er vor den Kameras seinen Millionenscheck präsentierte. Und Fotos mit | |
dem Showmaster gab es auch. Der graumelierte Amitabh Bachchan ist in Indien | |
auch einer der größten Bollywoodstars. | |
Doch es war am Ende ein Fernsehabend wie jeder andere: Bachchan umarmte den | |
aufgeregten Gewinner großzügig, dann schob er ihn beiseite. Und Lehrer | |
Kumar erzählte später brav, dass er bei dem Fernsehspiel eigentlich nur das | |
Geld für die Reparatur seiner baufälligen Hütte in der ostindischen | |
Kleinstadt Motihari gewinnen wollte. | |
## Zwangsteilung in der armen Provinz | |
Statt von einer großen Party berichtete die Times Of India, die größte | |
englischsprachige Tageszeitung der Welt, am nächsten Tag auf einer ihrer | |
letzten Seiten unter der Rubrik Vermischtes von den Sorgen der Familie | |
Kumars. Die fürchtete nämlich bereits die Entführung ihres Gewinners und | |
ließ wissen, er solle vorerst nicht nach Hause kommen. | |
Das versteht sich nämlich in einer Armutsgegend in Bihar von selbst: Wer | |
dort auf einmal viel Geld hat und das vor den anderen nicht verheimlichen | |
kann, läuft Gefahr, erpresst oder entführt zu werden. Zwangsteilung könnte | |
man das nennen. | |
Um dem zumindest vorerst zu entkommen und den Gewinn zu realisieren, blieb | |
Sushil Kumar auch erst einmal in Mumbai, wo er die Show gewonnen hatte. Er | |
ist der dritte von fünf Brüdern und sagte, nun müsse er allen | |
Familienmitgliedern helfen und für jeden seiner Brüder ein Unternehmen | |
beschaffen. Das klang eher besorgt als freudig. | |
Damit aber zeigt sich nun im echten Leben, warum "Slumdog Millionär" so ein | |
großer Hit in den Kinos des Westens war - und in Indien floppte. Man will | |
hier eben nichts vom amerikanischen Traum wissen. Dass man sich aus der | |
Unterschicht heraus das große Glück selbst erarbeiten kann - so einfach | |
geht das in Indien nicht. Zwischen dem Lehrer Kumar und seinem Glück stehen | |
die Familie, die teilhaben will, die Politik, die seinen Fall nun | |
schonungslos ausbeuten wird, und die Götter, denen sich Kumar stärker | |
verpflichtet fühlt als seinem persönlichen Glück. | |
"Welche Kolonialmacht beendete ihr Engagement in Indien mit dem Verkauf der | |
Nicobar-Inseln an die Briten am 16. Oktober 1868?" So lautete die letzte, | |
entscheidende Quizfrage. Kumar wusste die Antwort: "Dänemark." Doch er | |
ahnte nicht, dass er damit eine der größten Hollywood-Lügen der letzten | |
Jahre entlarven würde. Indien ist für Kumar auch heute noch kein Land der | |
unbegrenzten Möglichkeiten. Genau das aber suggerierte "Slumdog Millionär" | |
2009, als der Westen sich mit diesem Märchen von der eigenen Krise | |
ablenkte. | |
4 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
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