# taz.de -- Indien-Klischees im Wandel der Zeit: An der Grenze des Vorstellbaren | |
> In Bombay ist man vor Durchfallgeschichten, Ausraubgeschichten und | |
> Mitleidsgeschichten nie sicher. Die Stadt ist eine der aufregendsten der | |
> Welt. | |
Bild: 5.000 Menschen, die sich in einen Zug für 1.752 quetschen: S-Bahnen in B… | |
Reisende, die in der nächtlichen Hitze Bombays am internationalen Airport | |
ankommen, schwören sich oft schon, kurz bevor die „Fasten seatbelt“-Zeichen | |
erloschen sind und das Flugzeug die endgültige Parkposition erreicht hat, | |
diesen 18-Millionen-Moloch so schnell wie möglich zu verlassen. In Bombay, | |
oder Mumbai, wie es seit Mitte der 1990er richtig heißt, erkennen sie den | |
Vorhof zur Hölle. Denn wie sonst sollte man die indische Metropole | |
bezeichnen? Eine Stadt, die an einer wunderschönen, weiten Bucht liegt, | |
diese jedoch seit Jahrzehnten gewissenlos verdreckt? | |
Was ist von einem Flecken Erde zu halten, der eines der berüchtigtsten | |
Rotlichtviertel der Welt beherbergt, aber verbieten möchte, dass | |
Schaufensterpuppen mit Unterwäsche ausgestellt werden – zum Schutze der | |
Frauen vor sexuellen Übergriffen? Die einen eigenen Eintrag in der „Danger | |
and Annoyances“-Liste des Lonely Planets verdient und wo die auf den | |
Straßen operierenden Bettler oft noch keinen Meter hoch sind. Nicht viel, | |
sollte man meinen. Also schnallen sich die Reisenden den Rucksack auf und | |
rollen per Zug oder Bus schnell ins „wahre“ Indien. | |
Aber halt! Alles, was der Reisende sucht, man kann es auch in Bombay | |
finden, der großartigsten Stadt der Welt. Ein kleines Fischerdorf, uralte | |
Kirchen, eine hellblaue Synagoge, Tempel und eine ins Meer gebaute Moschee, | |
es ist alles da. Sowie das beste und vielfältigste Essen im Land, vom | |
einfachen Pani-Puri-Stand bis zum supermodernen Brauhaus, das mexikanisch | |
angehauchtes Essen serviert. | |
Dauernd findet irgendwo eine Lesung, eine Modenschau oder | |
Ausstellungseröffnung statt. Es gibt dunklen, indischen Old-Monk-Rum, | |
französischen Champagner, aber auch eine Polizei, die mal eine hochkarätig | |
besuchte Party hopsnimmt. Angeblich, weil die Gäste sich nicht an ein | |
uraltes, noch zu Kolonialzeiten erlassenes und inzwischen vergessenes | |
Gesetz halten, wonach jeder Konsument eine „Permit“, also eine Genehmigung, | |
bei sich führen muss. | |
## Reich oder weise | |
Sowieso ist man hier vor Polizeigeschichten, Durchfallgeschichten, | |
Ausraubgeschichten und Mitleidsgeschichten nie sicher, und doch erlebt man | |
nirgendwo intensiver, was es heißt, in diesem Land zu leben. Man sollte | |
vorher versuchen, über Facebook oder Bekannte von Bekannten, Menschen | |
kennenzulernen, die einen mitnehmen zur Hochzeit eines Freundes oder | |
einfach nur zu einem entspannten Tag an der Rennbahn, die es gibt in einer | |
Stadt, in der über die Hälfte der Menschen im Slum lebt. | |
Schon im neunten Jahrhundert, so stellt Walter Leifer in „Indien und die | |
Deutschen“ fest, prägte Rabanus Maurus dieses zweipolige Image von Indien | |
in Deutschland. Einerseits rief der Mainzer Erzbischof, Dichter und | |
Vorreiter der karolingischen Renaissance ein Bild des mit Gold und | |
Edelsteinen gesegneten Inders hervor, doch ergänzte dies zugleich mit | |
Askese und Weisheit. 1.200 Jahre später gilt dieses Leitmotiv noch immer. | |
Inder sind in hiesiger Wahrnehmung entweder wahnsinnig reich oder | |
wahnsinnig weise, dann aber arm. | |
Wenn sie keins von beiden sind, können es auch keine echten Inder sein, | |
sondern gelten in unseren Augen als „verwestlicht“. Dass der Franzose | |
Jean-Baptiste Travienier im 17. Jahrhundert von seinen Indienreisen riesige | |
Diamanten mitbrachte, festigte dieses Bild von einem Land voller prächtiger | |
Paläste, in deren Gärten bunte Pfauen umherstolzieren. Heute kann jeder, | |
der möchte, in einem dieser Häuser absteigen, nicht wenige ehemalige | |
Adelsfamilien betreiben in ihrem Besitz Luxushotels. | |
In ihrem Dunstkreis, aber auch nahe Backpacker-Absteigen, locken Händler | |
Touristen mit dem Versprechen auf Reichtum. Alles was sie tun müssten, ist, | |
ein paar Edelsteine per Post in ihr Heimatland zu schicken. Der Händler | |
könne dadurch so viel an Einfuhrzöllen sparen, dass der Tourist ein paar | |
Wochen sorgenfrei durchs Land reisen könne. Es sei davor gewarnt, bei | |
diesem Arrangement mitzumachen, denn am Ende profitiert nur einer: | |
angebliche Betrüger. | |
## Prunk und Elend | |
Die Weisheit der Sadhus, also der Mönche und Gelehrten, zieht noch immer | |
diejenigen an, die nach Erleuchtung suchen. Als der Weg über Land noch frei | |
und offen war, lag Indien in den 60ern und 70ern am Ende des Hippie-Trails. | |
Mit Bussen oder auch Moped pilgerten junge Menschen zum Taj Mahal, und ihre | |
Reise endete nicht selten im Rausch am Anjuna Beach. Seitdem das Fliegen | |
erschwinglich geworden ist, kommen die Reisenden mit dem Rucksack über die | |
großen Städte wie Kalkutta, Delhi oder Mumbai ins Land, setzten sich | |
während des kurzen Stop-overs in Yoga-House an der Old Chimbai Road oder | |
ins Café Mondegar nahe dem Taj Mahal Hotel, wo sie am Macbook den Rest | |
ihrer Tour planen. | |
Dadurch dass die Stadt weder Elend noch Prunk verbirgt, wird sie zur | |
Maximum City wie von Suketu Mehta in „Bombay Lost and Found“ beschrieben. | |
Der Stadtbiograf Naresh Fernandes, Herausgeber der Anthologie „Mumbai – | |
Meri Jaan“ und Autor des Buches „Taj Mahal Foxtrott“, kennt die Gründe, | |
weshalb man sich in Bombay unters Volk mischen sollte. Weil man verwundert | |
zusehen kann, wie die Bewohner mit viel Geschick Not und Elend bekämpfen | |
und trotzdem so tun, als hätten sie eine gute Zeit, zumindest keine richtig | |
schlechte. | |
Wer seinen Rucksack in Bombay niederlegt, sagt er, kann am Gleis der | |
Churchgate Station sehen, wie 5.000 Menschen sich einen Zug quetschen, der | |
für 1.752 ausgelegt. Sie wissen, dass sie 90 Minuten Fahrt vor sich haben, | |
und sind trotzdem fähig, einem Alten ihren Platz anzubieten. Wer in Bombay | |
bleibt, kann sehen, wie die Menschen an den kleinen Dingen große Freude | |
finden, dem frischen Seewind am Abend oder dem Wiedersehen mit Freunden auf | |
dem Weg zur Arbeit und im Glauben daran, dass das Morgen immer auch einen | |
Neubeginn versprechen könnte. | |
Spätestens aber, wenn einmal auffällt, dass alles in der Stadt nach dem | |
Marathenkönig Chhatrapati Shivaji benannt wurde, Flughafen, Bahnhof, | |
Straßen, und man diesen Namen auch flüssig aussprechen kann, entlässt einen | |
die Stadt für ein paar Tage an die Strände Goas. Doch dazu braucht man | |
keinen Rucksack, für die kurze Reise reicht eine kleine Reisetasche. | |
Natalie Tenberg, „Bollywood und Rübenkraut. Geschichten von meiner | |
deutsch-indischen Familie“, Heyne Verlag, München, 224 Seiten, 8,99 Euro. | |
21 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Natalie Tenberg | |
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