Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Proteste in Rumänien: Korruption, Hunger und Zorn
> Ecaterina Gheorghe isst oft nur noch Brot mit Essig und Salz. Jetzt
> protestiert sie mit Tausenden Rumänen und fordert den Rücktritt der
> Regierung.
Bild: Sie wollen mehr Rente und mehr Respekt: Demonstranten auf dem Universitä…
BUKAREST taz | In der Innenstadt, nahe der Prachtallee Calea Victoriei mit
ihren Luxusläden, steht die 72-jährige Ecaterina Gheorghe täglich zehn oder
sogar elf Stunden, um den Autofahrern beim Einparken zu helfen. Ein bis
zwei Leu, etwa 20 bis 40 Cent, geben ihr die Autofahrer dafür, oder etwas
zu essen.
Gheorghe kennen alle in der Gegend. Ein Leben lang hat sie sich als
Tellerwäscherin verdingt und Straßen gekehrt. Ihren Besen trägt sie heute
noch bei sich. Jetzt erhält sie monatlich 500 Lei Rente, etwa 116 Euro.
Eine Summe, die in Bukarest nicht zum Leben reicht, auch wenn sie über der
Mindestrente von 81 Euro liegt.
Die Rentnerin kann damit nicht einmal die Nebenkosten für ihr inzwischen
verfallenes Haus zahlen, das sie wie die meisten Rumänen gleich nach der
Wende gekauft hat. Deshalb steht sie täglich bis zum Abend auf der Straße.
Der Eingang ihres Hauses hat weder Türen noch Fenster. Durch die Dunkelheit
- Glühlampen gibt es keine und Strom ist teuer - steigt sie schwer atmend
die zwanzig Stufen hinauf. In ihrem schmalen Wohnzimmer hat sie einen Ofen,
auf dem Tisch liegt ein Wachstuch, darauf ein halbvolles Glas mit sauren
Gurken. Außer einem kleinen Schlafzimmer nebenan ist das alles, was sie im
Haus noch besitzt.
## Nahrung oder Seife
Ecaterina Gheorghe setzt sich auf einen kleinen Stuhl und ordnet schnell
ihr Kopftuch, die Mütze darunter, die zwei Pullover, ihren Rock und die
Schürze mit den kleinen blauen Blumen. "Sehen Sie, ich bin sauber. Manchmal
ess ich den ganzen Tag nichts, um Seife und Waschpulver kaufen zu können."
Ecaterina schaut traurig durchs Fenster auf die anderen Häuser, in denen
betuchte Leute wohnen. "Manchmal gehe ich für meine Nachbarinnen einkaufen.
Sie geben mir Geld dafür."
Rettung in letzter Not ist für sie oft der "Verein für gegenseitige Hilfe",
eine Art Kreditinstitut für Rentner. Sie borgt sich dort 50 Lei, kaum 12
Euro. Gewöhnlich macht sie das zu Weihnachten und zu Ostern. Auch im
Herbst, um Gurken und Weißkohl zu kaufen, um sie einzulegen und lange davon
zu zehren. "Die Regierung bringt uns Rentner aufs Sterbebett", sagt
Gheorghe. "Ich weiß, dass ich nur eine einfache Putzfrau war, die über
dreißig Jahre für den Staat gearbeitet hat, aber auch ich bräuchte eine
Rente, mit der ich überleben kann."
Heute hat Ecaterina lediglich Brot im Haus, denn sie musste Medikamente und
den Strom bezahlen. "Ich tunke mein Brot in Essig mit Wasser und Salz und
schon vergeht mir der Hunger", sagt die Rentnerin, die auch am
Universitätsplatz protestiert hat.
Ecaterina Gheorghe ist kein Einzelfall. 4 Millionen der 22 Millionen
Rumänen sind Rentner. Die Durchschnittsrente liegt bei 760 Lei, etwa 170
Euro. "Schon damit leben die meisten in bitterer Armut, nicht zu reden von
denen, die darunter liegen", sagt der 81-jährige Dumitru Cojanu, Leiter
eines Rentnervereins in Bukarest. Cojanus Büro liegt am Nordbahnhof. Ein
Tisch mit Stuhl, ein altes Radio, an der Tür ein Vorhang, der die Risse
verdeckt, an der Wand ein Kalender, darauf ein Lamm, daneben steht
geschrieben: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln."
## Nicht mal Respekt kriegen die Rentner
"Den Rentner, die ein ganzes Leben gearbeitet haben, fehlt vieles", sagt
Cojanu, "doch vor allem vermissen sie Respekt bei den Regierenden." Cojanu
hat Briefe an drei aufeinanderfolgende Arbeitsminister geschickt, in denen
er die Lage der Rentner geschildert hat. "Eine Antwort habe ich von keinem
bekommen." Jetzt bereitet Cojanu eine Protestveranstaltung für Rentner vor.
"So geht's nicht weiter."
Die Renten wurden 2009 eingefroren, doch die Inflationsrate von mehr als 3
Prozent kommt einer Rentenkürzung gleich, zudem wurde die Mehrwertsteuer
von 19 auf 24 Prozent erhöht. Aber nicht nur Rentner spüren die Krise, die
Beamtengehälter wurden um ein Viertel gekürzt und etwa 200.000 Stellen im
öffentlichen Dienst abgebaut.
Aus Ärger über die sozialen Einschnitte und die Korruption gehen seit Mitte
Januar Tausende Menschen auf den Universitätsplatz. Sie rufen "Freiheit",
skandieren "Wir wollen keine Vetternwirtschaft mehr und keine Korruption".
Auf einem Transparent steht: "Wir produzieren nicht so viel, wie ihr
stehlt! Rumänien, erhebe dich!" Auf einem anderen: "Hunger und Armut haben
Rumänien im Griff".
Die Proteste ausgelöst hat ein Gesetz, das unter anderem die Privatisierung
eines landesweiten staatlichen Rettungsdienstes vorsah. Viele fürchteten,
dass die Rettungswagen künftig nur noch für reiche Leute fahren. Wenig
später ruderte die Regierung zurück, die Proteste aber blieben.
Unweit vom Universitätsplatz liegt die Zentrale des Rettungsdienstes
S.A.B.IF. Angesichts der Sparmaßnahmen bräuchte der Dienst selbst Hilfe.
Die Gehälter wurden um ein Viertel gekürzt. Zehntausende Mediziner haben
das Land verlassen und arbeiten jetzt in Italien, Spanien, Großbritannien,
auch in Deutschland.
## Seit elf Jahren Sanitäter
Mihai Moraru ist 39 Jahre alt und seit mehr als elf Jahren Sanitäter. Im
Krankenwagen, der durch Bukarest saust, bereitet er sich auf einen Notfall
vor. Im Rettungswagen, ausgestattet mit deutscher Medizintechnik, ist jedes
Schlagloch zu spüren. "Ich hätte die Möglichkeit, in Frankreich zu
arbeiten, habe mich aber entschlossen, hier zu bleiben. Rumänien ist mein
Zuhause", sagt Moraru. "Wir sind hier beim Rettungsdienst mit ganzem Herzen
dabei, auch wenn die Gehälter klein sind." Ein Sanitäter verdient zwischen
900 und 1.800 Lei, etwa 210 bis 420 Euro.
Cristian Grasu, der Leiter des Rettungsdienstes, klagt über fehlendes
Personal. Nicht nur dass viele ins Ausland gegangen sind, er darf wegen des
kleinen Budgets auch kein neuen Mitarbeiter einstellen. Grasu, ein Mann mit
weißgrauem Bart, arbeitet seit fast 37 Jahren für den Rettungsdienst.
"Sollte der Rettungsdienst privatisiert werden, dann würden wir nicht gegen
eine ehrliche Konkurrenz kämpfen. Denn dann gebe es auf der einen Seite uns
als Staatsangestellte mit gekürzten Gehältern, und auf der anderen Seite
andere Privatfirmen, die ihre eigene Lohnpolitik betreiben."
Trotzdem zeigt sich Grasu optimistisch. "Das Rettungssystem funktioniert in
Rumänien seit 106 Jahren. Es hat im Kommunismus funktioniert und jetzt im
Kapitalismus. Den Rettungsdienst wird es auch weiterhin geben."
"Basescu heißt Armut, Arbeitslosigkeit und Schulden!", rufen derweil die
Menschen auf dem Universitätsplatz, sie fordern den Rücktritt von Präsident
Basescu. Viele haben die Korruption satt. Im Gesundheitssystem haben sie
die meisten schon gespürt: "Jeder Rumäne weiß, dass theoretisch die
Versorgung in den staatlichen Krankenhäusern kostenlos ist, doch machen die
meisten Ärzte keinen Finger krumm, wenn man kein Schmiergeld zahlt",
erzählt eine Frau.
"Jeder kennt die Preise", sagt sie. "Zwei Euro muss man der
Krankenschwester zahlen, damit sie einen überhaupt beachtet, und einen Euro
der Putzfrau, damit sie frische Bettwäsche bringt. Vom Geld für eine
Operation ganz zu schweigen". Das liegt in der Regel zwischen 125 Euro und
500 Euro.
Wie marode inzwischen die Verhältnisse sind, zeigt ein Brand im August
2010. In der renommierten Bukarester Giulesti-Geburtenklinik kamen sechs
Frühchen ums Leben, weitere sechs erlitten schwere Verletzungen.
Brandursache war eine provisorisch verlegte Stromleitung. Möglicherweise
hätte die Tragödie verhindert werden können, wenn die zuständige
Krankenschwester bei Ausbruch des Feuers auf Station gewesen wäre. Sie war
jedoch auf einer Geburtstagsparty, die auf dem Klinikgelände gefeiert
wurde.
## Sechs tote Frühchen
Der Prozess, den Eltern gegen die Klinik anstrengt haben, läuft noch. "Wir
gehörten damals zu denjenigen, die noch Glück hatten", sagt Alin Cornean.
Der 30-Jährige ist Vater eines Kindes, das überlebt hat, allerdings mit
dauerhaften Folgeschäden. Die Frühchenstation wurde inzwischen renoviert,
die beschuldigte Krankenschwester saß zeitweilig in Haft, inzwischen
arbeitet sie wieder in der Klinik.
"Es hat sich nichts Grundsätzliches geändert. Die Menschen sind die
gleichen geblieben", sagt Cornean. "Wenn du den Ärzten kein Schmiergeld
gibst, behandeln sie dich genauso miserabel wie vorher." Er solidarisiert
sich mit den Demonstranten vom Universitätsplatz, obwohl er keine Zeit hat,
sich unter sie zu mischen. An ihren Erfolg glaubt er aber nicht: "Gut, die
Regierung soll gehen, aber wer soll stattdessen kommen? Ich sehe keine
bessere."
1 Feb 2012
## AUTOREN
Magda Crisan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Europa und die Demokratie: „Eine Frage der Glaubwürdigkeit“
Der Fall Rumänien zeigt, dass Europa neue Regeln braucht, sagt EU-Expertin
Corina Stratulat. Alle EU-Mitglieder sollten kontinuierlich überprüft
werden – nicht nur die Beitrittskandidaten.
Absetzung des Präsidenten in Rumänien: Furcht vor Palastrevolte
Die Absetzung von Präsident Basescu löst in der EU heftige Debatten aus. Ob
der Konservative endgültig gehen muss, entscheidet sich in einer
Volksabstimmung.
Regierungswechsel in Rumänien: Geheimdienstchef wird Ministerpräsident
Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Emil Boc hat der Geheimdienstchef
Mihai Razvan Ungureanu den Auftrag bekommen, eine neue Regierung zu bilden.
Rücktritt der rumänischen Regierung: Die Menschen sind müde und erschöpft
Rumänien ist kein Einzelfall in Mittel- und Südosteuropa. Die harte
Reformpolitik führt zu Demokratieskepsis und Distanz zum einst vergötterten
Westen.
Regierung tritt zurück: Rumänien hat keinen Boc mehr
Die rumänische Regierung hat am Montag ihren Rücktritt bekanntgegeben. Sie
reagiert damit auf die heftigen Proteste gegen Kürzungen im Sozialbereich.
Leben in Ungarn: Ein Becher Kaffee für 3 Euro
Wirtschaftlich geht es den meisten Ungarn schlecht. Die Schuld suchen sie
gern bei anderen. Solange es sie sich leisten können, zählt für viele vor
allem eines: Konsum.
Die rumänische Gesundheitsmisere: "Gott sei Dank nicht mehr in die Klinik"
Ohne Bestechung ist in Rumänien keine gute Behandlung mehr zu bekommen.
Denn die Ärzte verlassen das Land. Inzwischen fehlen rund 40.000 Mediziner.
Kommentar Sozialprotest in Rumänien: Gegen das Klüngelsystem der Regierung
Die Sparpläne wurden autokratisch festgesetzt. Dadurch öffnet sich die
Schere zwischen den wenigen Neureichen und den vielen Unterprivilegierten.
Sozialproteste in Rumänien: Die Plünderung des Sozialstaats
Landesweit wird gegen die Sparpolitik der Regierung demonstriert. Die
Einschnitte würden die Unterprivilegierten treffen. Es geht auch um
Privatisierung staatlicher Einrichtungen.
Proteste in Rumänien: Anti-Spar-Krawalle in Bukarest
Seit Tagen protestieren Rumänen gegen die Sparpolitik der Regierung, die
versucht, die Auflagen des IWF zu erfüllen. Als sich Hooligans den
Demonstranten anschlossen, kam es zu Krawallen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.