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# taz.de -- Ausschreitungen in ägyptischem Stadion: Die tolerierte Schlacht
> Nach den Krawallen am Rand eines Fußballspiels sehen viele die Fans als
> Opfer des entmachteten Militärs. Vielen gelten sie in Ägypten als Helden
> der Revolution.
Bild: Beten für die getöteten Fußballfans.
KAIRO taz | Bei den mindestens 74 Toten der Krawalle rund um das
Erstligaspiels in Port Said zwischen dem lokalen Fußballclubs al-Masry und
der Kairoer Mannschaft al-Ahly geht es um Politik. Was die Ägypter im
Stadion von Port Said erlebt haben, ist die Auflösung des Staates -
ausgerechnet durch jene, die an der Macht sind.
Kaum jemand glaubt an eine zufällige Eskalation im Stadion. Die
Ausschreitungen wurden von den Sicherheitskräften zugelassen oder gar
angezettelt, lautet der Vorwurf. Dieser lässt sich leicht durch die Bilder
des ägyptischen Fernsehens belegen. Auf den sozialen Medien kursieren
Bilder von Polizeibeamten, die das Geschehen auf ihren Handys festhalten,
ohne einzugreifen.
Viele in Ägypten erinnern sich an das Mantra des vor einem Jahr gestürzten
Diktators Husni Mubarak: "Wenn ich nicht mehr bin, kommt das Chaos."
Absichtlich hatten dessen Schergen rund um seinen Sturz dieses Chaos
geschürt. Um diesem Marketingkonzept des Diktators Nachdruck zu verleihen,
hatten sie die Gefängnisse geöffnet und bezahlte Schläger losgeschickt.
Nun, sagen viele, benutzt das Militär die gleiche Strategie, schürt Chaos,
um sich dann als Ordnungsmacht an der Spitze des Staates zu halten. Port
Said ist das Hauptquartier der 1. Ägyptischen Armee.
## Revolutionäre Schlachtrufe der Ultras
Die Fans des Kairoer Clubs Ahly, die Ultras, die die meisten Toten in Port
Said zu verzeichnen haben, sehen sich als gezielte Opfer. Vielen gelten sie
in Ägypten als Helden der Revolution. Sie waren an all den 18 Tagen des
Aufstandes gegen Mubarak an vorderster Front.
Sie stürmten später die Gebäude der Staatssicherheit, belagerten die
israelische Botschaft und lieferten sich Ende 2011 tagelange
Straßenschlachten mit Polizei und Militär. Schon seit dem Sommer lautet
einer der Schlachtrufe der Ultras: "Stürzt den obersten Militärrat!" Viele
Mächtige haben mit den Ultras eine Rechnung offen.
Als am Donnerstagmorgen der Zug mit den Fans aus Port Said im Kairoer
Hauptbahnhof einfuhr, gab es emotionale Szenen. Familien und Freunde
warteten auf dem Bahnsteig, bangten, wer tot oder verletzt in Port Said
zurückgeblieben war. Die Trauer mündete in Wut gegen den obersten
Militärrat. "Nieder mit der Militärherrschaft", "wir fordern den Kopf des
Feldmarschalls Tantawi", hallte es.
Auch einige der Parlamentarier, wie der liberale Abgeordnete Amr Hamzawi,
der einst in Berlin studiert hat, nahmen kein Blatt vor den Mund. "Das war
organisiertes Chaos, um die Lebensdauer des Militärrates an der Macht zu
verlängern, nachdem die Straße dessen Sturz fordert", erklärte er vor einer
Sondersitzung des Parlaments.
## Muslimbrüder zwischen zwei Stühlen
Die begann turbulent mit dem Sprecher des Parlaments, dem Muslimbruder
Muhammad Katatni, der zu Beginn der Sitzung deren Liveaustrahlung verbieten
lassen wollte. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte allerdings gegen den
Antrag. Es ist der erste große Test für das mehrheitlich von den Islamisten
geführte Parlament.
Die Muslimbrüder sitzen derzeit zwischen den Stühlen: Militärrat und
Straße. Sie versuchen zwischen beiden zu balancieren, während der Druck der
Straße auch am Donnerstag mit einer Demonstration vor dem Parlament
zunimmt. In einer ersten Erklärung der Muslimbruderschaft in Port Said
drückt diese den Opfern ihr Beileid aus und erklärt: "Was hier geschehen
ist, ist mehr als der Enthusiasmus und Intoleranz der Fans, die
durchgedreht sind. Es war ein absichtlicher Versuch, jetzt Zwietracht zu
sähen und Ägypten an den Rand des Abgrunds zu bringen."
Inzwischen hat der vom Militärrat bestimmte Premierminister Kamal
El-Ganzouri den Rücktritt des Gouverneurs von Port Said akzeptiert. Draußen
auf der Straße fordern die Demonstranten unterdessen auch den Rücktritt
El-Ganzouris und seines gesamten Kabinetts.
Außerdem sollen die Präsidentschaftswahlen vorgezogen werden, nachdem das
Militär laut Plan seine Exekutivmacht an einen zivilen Präsidenten
übergeben soll. Für den späten Nachmittag haben die Ultras einen Marsch auf
das Innenministerium in Kairo unweit des Tahrirplatzes angekündigt.
2 Feb 2012
## AUTOREN
Karim Gawhary
Karim El-Gawhary
## TAGS
Port Said
Ägypten
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