# taz.de -- Chilenin Camila Vallejo: Die Eine aus einer Million | |
> Die Medien haben Camila Vallejo zum Gesicht der Studentenproteste in | |
> Chile gemacht. Sie sträubt sich gegen die Ehre und zeigt sich doch | |
> wortgewandt und mutig. | |
Bild: "Die Chilenen haben ihre Angst verloren", sagt Camila Vallejo. | |
Sie begeistert. Oder wird gehasst. Für die Rechte in Chile ist die | |
23-jährige Kommunistin Camila Vallejo ein rotes Tuch. Eine Hündin, die man | |
töten sollte, nannte sie eine Regierungsbeamtin. Denn für jene, denen | |
Chiles neoliberales Modell wenig Platz zum Leben lässt, verkörpert sie die | |
Hoffnung auf etwas anderes als ein Leben auf Kredit und im Schatten der | |
offiziell längst besiegten Militärdiktatur. | |
Also wird sie gefeiert, auch in Deutschland. Auf ihrer gerade beendeten | |
Rundreise jubelten ihr junge Studenten und ältere Exilchilenen zu. Sie | |
rufen Sätze wie: "Das Volk wird nicht zu besiegen sein, wenn es | |
zusammensteht." Da betritt sie gerade den überfüllten Saal der Berliner | |
Humboldt-Universität - es wird diskutiert, wie die Welt zu verändern sei. | |
Später wird sie eine halbe Stunde für Fotos belagert. Sie lächelt geduldig, | |
wirkt unnahbar, sie will das hier nicht. | |
"Die Chilenen haben ihre Angst verloren. Sie glauben wieder an kollektive | |
Handlungen. Das lässt sich nicht zurückdrehen", sagt Vallejo. Sie ist der | |
beste Beweis für die Entschlossenheit, mit der viele Chilenen seit Frühjahr | |
2011 für mehr öffentliche, kostenlose Schulen und Universitäten auf die | |
Straßen gehen. | |
Im Fernsehen, wenn sie Moderatorinnen oder Politiker attackieren, bleibt | |
die junge Frau erstaunlich gelassen. Der kommunistische Jugendverband war | |
der Geografiestudentin offenbar eine gute Schule im Debattieren. Als der | |
chilenische Präsident Sebastián Piñera sich weigerte, die Privatisierung | |
der Schulen und Unis zurückzufahren, beschied sie dem Milliardär, der sein | |
Vermögen während der Pinochet-Diktatur angehäuft hat, er mache einen großen | |
Fehler. Die Studenten brachen die Gespräche mehrfach ab. | |
## Projektionsfläche für die Medien | |
Bis Dezember 2011 war Vallejo Sprecherin des Confech, des landesweiten | |
Dachverbandes der Universitäten in Chile, heute ist sie Vizesprecherin der | |
Studenten einer großen Universität in Santiago. Confech hatte die | |
Bildungsproteste vorangetrieben. Arbeiter und Professoren, Künstler und | |
Menschenrechtler gingen auf die Straße, der Gewerkschaftsverband CUT rief | |
zum Generalstreik auf. Über eine Million Menschen demonstrierten in einem | |
Land, das 17 Millionen Einwohner hat. | |
Längst geht es nicht mehr nur um Bildung. "Wir wollen eine Steuerreform, | |
damit auch die Reichen zahlen, wir verlangen die erneute Verstaatlichung | |
des Kupferabbaus, eine Verfassungsreform", sagt Vallejo. Das jetzige System | |
nutze nur der Elite. | |
Auch Vallejos Eltern sind Kommunisten. Sie habe sich aber erst während des | |
Studiums politisiert. Kommunismus, das heißt für sie eine "wirkliche | |
Demokratie und soziale Umverteilung". Sie sagt das auch so vage, um der | |
Rechten wenig Angriffsfläche zu bieten. Denn die versuche über ihre Person | |
den Protest zu desavouieren. | |
Dass sie zum Gesicht der Proteste wurde, versteht man schnell. Sie ist die | |
ideale Projektionsfläche für die Medien: Ausgesprochen hübsch mit ihren | |
grünen Augen und langen braunen Haaren. Als Confech-Sprecherin musste sie | |
ein Jahr lang öffentlich die Forderungen der Studenten verteidigen und | |
zeigte ihr rhetorisches Talent. Vor Hunderttausenden Demonstranten spricht | |
sie minutenlang frei, mit Ernst und Leidenschaft zugleich. | |
Ihre Beschreibungen der chilenischen Gesellschaft sind scharf und präzise, | |
ihre Forderungen deutlich. Sie macht Mut, ohne zu viel versprechen. "Wir | |
erleben einen historischen Moment, euer Durchhaltevermögen im Angesicht von | |
Staatsterrorismus und Verfolgung ist bewundernswert, aber unser Kampf ist | |
nicht einfach, er wird nicht nur ein Jahr lang gehen", ruft sie Studenten | |
und Schülern, die 2011 Unis besetzten, zu. Sieht sie Gemeinsamkeiten mit | |
der Occupy-Bewegung? | |
## "Schocktherapie" Militärdiktatur | |
"Wir sind viel weiter als die "Empörten" in Spanien", sagt sie, "denn wir | |
wissen, welche Veränderungen wir wollen." Chiles Studiengebühren gehörten | |
zu den höchsten der Welt, "Bildung ist bei uns kein Recht, es ist eine | |
Ware. Kinder aus armen Familien verschulden sich für Jahrzehnte mit | |
Krediten, um studieren zu können." Nur noch rund ein Viertel der | |
Bildungseinrichtungen sind öffentlich. | |
Die Weichen dafür stellte Pinochet. Die Auswirkungen der "Schocktherapie" | |
Militärdiktatur (Naomi Klein) kann man bis heute beobachten. Chile gehört | |
zu den Ländern mit der größten Ungleichheit weltweit, fast alles ist | |
privatisiert: Straßen, die Wasserversorgung, das Gesundheitssystem. Große | |
Teile der Verfassung, auch das Wahlsystem, das kleinere Parteien | |
benachteiligt, stammen aus der Diktatur. | |
Mit Gewalt machte Pinochet Chile zu einem wirtschaftsliberalen | |
Laboratorium, sekundiert vom verstorbenen Nobelpreisträger und Ökonomen | |
Milton Friedman. Der gab dem General Ratschläge, wo zu kürzen, zu entlassen | |
und zu privatisieren sei. Die Kosten des Experiments: 200.000 Chilenen im | |
Exil, rund 37.000 politische Gefangene und Gefolterte, über 3.000 Ermordete | |
und Verschwundene. | |
"2011 ist etwas aufgebrochen, was schon lange gärte", sagt Vallejo. Es ist | |
die Folge der großen Unzufriedenheit mit der paktierenden Demokratie nach | |
1990, in der die Militärs mit Drohungen größere Reformen unterbanden, die | |
Frucht auch von konkreter Hilfe. "Wir Studenten sind nach dem Erdbeben 2010 | |
in die verwüsteten Gebiete gefahren und haben mit aufgeräumt", sagt | |
Vallejo. So wurden Strukturen wiederbelebt, welche die Diktatur zerschlagen | |
hatte: Heute debattieren landesweit Stadtteil- und Bürgerversammlungen über | |
Politik. "Wir haben unsere Nachbarn wieder getroffen", sagt Vallejo. | |
## Keine Angst vor Repression | |
Auch der Wahlsieg des rechten Präsidenten 2010 machte die Fronten klar. Auf | |
der anderen Seite stehen Politiker, die den Begriff Militärdiktatur aus den | |
Geschichtsbüchern entsorgen wollen, Ehrenakte für verurteilte Folterer | |
abhalten und ein besetztes Mädcheninternat als "Bordell" beschimpfen. | |
"Das zeigt, wie verzweifelt sie sind. Mit Argumenten kommen sie gegen die | |
Bewegung nicht mehr an", sagt Vallejo. Aber mit Repression. Noch im März | |
soll ein neues "Anti-Besetzer-Gesetz" in Kraft treten, das das Grundrecht | |
auf Versammlungsfreiheit drastisch einschränken würde. Derzeit werden | |
Hunderte von Jugendlichen von Schulen geschmissen, Vallejo selbst erhält | |
Morddrohungen. | |
Diese machten ihr keine Angst, sagt sie. Aber die starke Personifizierung | |
der Proteste: "Anführer sind notwendig, um die Ideen einer Bewegung zu | |
übermitteln. Aber die starke Personifizierung ist funktional für die | |
Rechte. Es wird so viel leichter, Informationen zu manipulieren." In Chile | |
geht das so weit, dass sie immer wieder gefragt wird, ob sie nicht | |
Präsidentin werden wolle. Vallejo fürchtet, man baue sie auf, um später | |
Zwietracht zu säen, ihr Egoismus vorzuhalten, die Proteste über Dinge zu | |
diskreditieren, die man über sie herausfindet oder ihr andichtet. Also | |
blockt sie viele persönliche Fragen ab, kam mit zwei weiteren Aktivisten | |
nach Deutschland, pocht auf Interviewtermine nur zu dritt. Doch auch in | |
Deutschland hätten sich viele Medien nur auf sie gestürzt. | |
"Aber die Bewegung hat nicht mit mir angefangen, sie wird auch nicht | |
beendet sein, wenn ich weg bin." | |
14 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
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