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# taz.de -- Bildungsstreik in Chile: 100.000 StudentInnen in Innenstadt
> Die Protestbewegung gegen das chilenische Bildungssystem geht in die
> Offensive. Hunderttausende demonstrieren in ganzen Land. Die Regierung
> antwortet mit Härte.
Bild: Gewaltsame Proteste in Valparaiso, 120 Kilometer nördlich von Santiago.
PORTO ALEGRE taz | Es war der bislang wohl schwierigste Test für Chiles
bunte Bildungsbewegung: Wieviele Menschen würde sie am Donnerstag auf die
Straße bringen, nachdem die Regierung von Präsident Sebastián Piñera im
September wieder Oberwasser bekommen hatte? Es waren wohl Hunderttausende
im ganzen Land – Prüfung bravourös bestanden!
Allein in der Hauptstadt Santiago zogen weit über 100.000 SchülerInnen,
StudentenInnen und LehrerInnen durch die Innenstadt – auch wenn
Gouverneurin Cecilia Pérez am Abend erklärte, es seien nur 60.000 gewesen.
Auch in vielen anderen Städten wurde gegen das Bildungssystem demonstriert,
das auf die Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) zurückgeht. Das schon
traditionelle Töpfeschlagen rundete den Protesttag ab.
Es war die weitaus größte Kundgebung in Santiago in diesem Monat, seit dem
Beginn der Proteste Ende April die viertgrößte. "Die Bewegung hält stärker
zusammen, unsere Überzeugungen sind fester sind denn je", sagte
Studentensprecher Giorgio Jackson von der Katholischen Universität, das
neben der Kommunistin Camila Vallejo bekannteste Gesicht der Bewegung.
Der Politologe Marco Moreno von der Zentraluniversität sprach von einem
"Wendepunkt" und "neuem Auftrieb" für Schüler und Studenten. Wegen eines
Flugzeugsabsturzes am 2. September, bei dem mehrere Prominente umkamen,
waren die Straßenkundgebungen in den letzten Wochen abgeflaut, ein Dialog
kam nicht zustande. Ganz offensichtlich spielte Piñera auf Zeit.
Doch Anfang der Woche goss er mit der Ankündigung, mindestens 70.000
Schüler müssten das Schuljahr wiederholen, wieder Öl ins Feuer – für die
frühere Bildungsministerin Mariana Alwyn war diese Ankündigung, die der
Staatschef zwei Tage später wieder zurücknahm, "äußerst ungeschickt".
"Die Schlacht um die Zukunft müssen wir in den Klassenzimmern gewinnen",
tönte Piñera auf der UN-Vollversammlung in New York, zeitgleich zum
Protestmarsch in Santiago. Tausende junger Chilenen gingen für eine "edle,
wunderbare und legitime Sache" auf die Straße, sagte er und kündigte eine
"wirkliche Revolution" im chilenischen Bildungswesen an, darunter
"kostenlose Bildung für alle, die es brauchen, und adäquate Finanzierung
für alle anderen".
## Regierung unterschätzt Protestbewegung
"Unter dem Druck der Bewegung beginnt die Regierung, zurückzurudern", meint
der Politologe Moreno: Er bescheinigt dem Staatschef aber auch "fehlende
Kohärenz, und das nicht zum ersten Mal". Regierungssprecher André Chadwick
räumte ein: "Es war ein Fehler, von einem Verschleiß der Bewegung zu
reden".
Woche für Woche gehen Schüler, Studenten und Lehrer für ein hochwertiges
und kostenloses Bildungssystem auf die Straße, hunderte von Schulen und
Fakultäten sind seit Juni besetzt. Mit ihren Forderungen sympathisieren
vier Fünftel der Bevölkerung, der Rückhalt für Piñera lag zuletzt nur noch
bei 27 Prozent.
Für die Schulbildung ist seit der Pinochet-Diktatur nicht mehr der
Zentralstaat verantwortlich, sondern die oft verarmten Kommunen. Zudem
werden viele Privatschulen staatlich subventioniert, doch die Kontrollen
sind mangelhaft: Allzuoft bereichern sich die privaten Träger, weshalb die
Forderung "Keine Profite mehr in der Bildung" besonders populär ist.
Privat sind bereits 60 Prozent der Schulen und Universitäten. Insgesamt
wird nur ein Viertel des Bildungswesens vom Staat finanziert, drei Viertel
müssen die Schüler und Studenten aufbringen.Viele Studierende starten
deshalb mit einem hohen Schuldenberg ins Berufsleben.
## Hühnerhaufen Regierung
Je länger die Proteste anhalten, desto weniger verfängt auch die
Öffentlichkeitsstrategie der Regierung: Um Gewaltbilder und -nachrichten zu
produzieren, schlug die Polizei auch gestern unvermittelt mit Wasserwerfern
und Tränengas los, weil die Abschlusskundgebung nur bis 14 Uhr genehmigt
war. So konnte Gouverneurin Pérez 24 verletzte Polizisten beklagen: "Das
ist sehr bedauerlich, dahinter gibt es Gesichter und Namen".
50 Menschen, darunter 27 Minderjährige, seien verhaftet worden, sagte
Piñeras Parteifreundin, die meisten von ihnen, weil sie angeblich
randaliert, Polizisten verletzt oder Brandwaffen wie Molotovcocktails bei
sich gehabt hätten. Ihr Fazit: "Wir brauchen die Studenten nicht auf den
Straßen, sondern an einem Gesprächstisch". "Wir hoffen, dass die Regierung
ihren Hühnerhaufen in Ordnung bringt und dann den Dialog ermöglicht",
meinte Studentensprecher Giorgio Jackson gelassen. Am 29. September soll
wieder demonstriert werden.
23 Sep 2011
## AUTOREN
Gerhard Dilger
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