# taz.de -- Proteste in Chile: "Es öffnen sich die Alleen" | |
> Vor 38 Jahren putschte sich Pinochet an die Macht. Diesmal war der 11. | |
> September in Chile ein Tag der Aktivisten. "Die Chilenen sind | |
> aufgewacht", sagt eine Menschenrechtlerin. | |
Bild: Linke und Menschenrechtler, Studenten und Umweltschützer - alle vereint … | |
SANTIAGO taz | Sonntag, halb zehn Uhr morgens: Die Alameda, jene | |
Prachtstraße, die von Santiagos Zentrum nach Westen führt, ist noch wie | |
ausgestorben. Nur die Polizei hat bereits Stellung bezogen, darunter | |
Spezialtruppen in Kampfmontur: Wie an jedem 11. September haben | |
Menschenrechtsgruppen zu einem Gedenkmarsch bis zum Zentralfriedhof | |
aufgerufen. Vor 38 Jahren putschten sich die Generäle unter Führung von | |
Augusto Pinochet an die Macht. | |
Auf der Südseite der Alameda füllt ein prächtiges, gelb getünchtes Gebäude | |
einen ganzen Straßenblock aus. "Es ist der Kampf der ganzen Gesellschaft - | |
alle für kostenlose Bildung" prangt in riesigen weißen Lettern auf einem | |
schwarzen Transparent, dazwischen ein roter Stern. Es ist das Hauptgebäude | |
der staatlichen Universidad de Chile, Herzstück der chilenischen | |
StudentInnenbewegung. Seit drei Monaten ist es besetzt, nachts halten etwa | |
30 Studierende halten die Stellung. | |
Während sich die ersten Marschierer sammeln, gibt Cristóbal Rojas, einer | |
der Besetzer, Auskunft: "Das hier ist die Fortsetzung der Bewegung der | |
Pinguine aus dem Jahr 2006", sagt der 20-jährige Student des | |
Ingenieurwesens mit Brille und langen, tiefschwarzen Haaren. Wie oft er in | |
den vergangenen Jahren seine Schule mitbesetzt hat, kann er nur noch | |
schätzen: "70-mal vielleicht?" | |
Nun hält er seit zwei Monaten im Uni-Hauptgebäude die Stellung, sortiert am | |
Eingang die Ausweise der Besucher in eine Schublade und kümmert sich um die | |
Einhaltung der Hausordnung: "Kein Alkohol, kein Rauchen." Genächtigt wird | |
im "Ehrensaal", der jetzt "Revolutionssaal" heißt. | |
## Mörderische Kontinuität | |
Nun werden zwei große Transparente ausgerollt, eines mit Hunderten | |
Schwarz-Weiß-Porträts - von Studierenden, die in den 17 Jahren | |
Pinochet-Diktatur ermordet wurden. Auf dem zweiten prangen die Namen von 60 | |
Toten in 21 Jahren Demokratie, ebenfalls alles Studenten. Es ist eine jener | |
unheimlichen, aber kaum bekannten Kontinuitäten, die so gar nicht zum | |
angeblichen demokratischen Musterland Chile passen wollen. Vor gut zwei | |
Wochen war das letzte Opfer der Polizeigewalt zu beklagen: In einem | |
Außenbezirk Santiagos wurde der 16-Jährige Schüler Manuel Gutiérrez | |
erschossen. | |
Eine Stunde später setzt sich ein bunter Demonstrationszug in Richtung | |
Norden in Bewegung. Linke AktivistInnen und Menschenrechtler dominieren die | |
Szene, aber auch Umweltschützer, Schwule und Feministinnen marschieren mit. | |
Rote, schwarze und viele rot-blau-weiße Landesfahnen werden geschwenkt. | |
Auch der Metallgewerkschafter Luis Carreño von der chilenischen Versammlung | |
für die Menschenrechte ist wieder dabei. "Während der Diktatur sind zehn | |
meiner Freunde ermordet worden", berichtet er. Die Aufarbeitung der | |
Menschenrechtsverletzungen gehe immer noch sehr schleppend und | |
unvollständig voran, viele Folterer wohnten in Luxusgefängnissen. "Aber die | |
Stimmung ist diesmal anders", sagt der ergraute Aktivist: "Heute spüre ich, | |
dass sich die Alleen wieder öffnen, wie es Präsident Allende vorhergesagt | |
hat." | |
Unübersehbar sind die Blocks von SchülerInnen, StudentInnen und | |
organisierten LehrerInnen. Sprechchöre schallen rhythmisch durch | |
Häuserschluchten: "Sie wird fallen, sie wird fallen, die Pinochet-Bildung!" | |
Seit Mai sind im ganzen Land immer wieder Hunderttausende für ein besseres | |
und kostenloses Bildungswesen auf die Straße gegangen, vor zehn Tagen hat | |
der rechte Milliardär Präsident Sebastián Piñera erstmals die | |
Studentensprecher im Präsidentenpalast empfangen. | |
Doch tags zuvor kamen bei einem Flugzeugabsturz im Pazifik 21 Menschen um, | |
darunter ein beliebter Fernsehmoderator. Seither ist es der Regierung mit | |
tatkräftiger Hilfe der tonangebenden Medien gelungen, die Bewegung in die | |
Defensive zu drängen. Nur noch jeweils einige Tausend kamen letzte Woche zu | |
den Donnerstagskundgebungen in der Hauptstadt, mit Wasserwerfern und | |
Tränengas löste die Polizei den nicht genehmigten Schülerprotest auf. | |
Auf dem abendlichen "Schweigemarsch" der Studierenden gab es zwar Kerzen | |
für die Toten des Flugzeugunglücks, aber Sprechchöre gegen Polizei und | |
Regierung dominierten dennoch. Während der Marsch vor dem Uni-Hauptgebäude | |
endete, rangen Studentenvertreter aus dem ganzen Land in der | |
Provinzhauptstadt Talca um eine gemeinsame Position. | |
Camila Vallejo von der Universidad de Chile, die prominenteste von ihnen, | |
hatte Tage zuvor die Donnerstagsdemos abgesagt, war dann aber wieder | |
zurückgerudert. Nicht sie verkündete nun die Marschroute, sondern ihr | |
Kollege Giorgio Jackson von der katholischen Universität: Bevor es einem | |
"fruchtbaren und verantwortungsvollen Dialog" geben könne, müsse die | |
Regierung die aktuellen Bewerbungsfristen für Bildungskredite und | |
Stipendien verlängern sowie ihre Gesetzentwürfe zur Bildungsfrage im | |
Parlament zurückziehen. Am Montag sollte der Regierung ein detaillierter | |
Gegenvorschlag überreicht werden. | |
## "Nichts ist umsonst" | |
Es wird ein langes Tauziehen. Bildungsminister Felipe Bulnes hielt dagegen: | |
"Wir können nicht allen Chilenen eine kostenlose Ausbildung geben", sagte | |
er. "Nicht ist umsonst in diesem Leben", hatte Präsident Piñera bereits vor | |
Wochen verkündet. | |
Das weiß auch Matilde Méndez. Am Samstagvormittag ist die 20-jährige | |
Jurastudentin mit den langen, hennaroten Haaren auf einer Podiumsdiskussion | |
im "Revolutionssaal" eingesprungen, nachmittags büffelt sie im Innenhof des | |
Hauptgebäudes für die Prüfungen der nächsten Wochen. | |
"Letzte Woche hat unsere Fakultätsversammlung knapp für die Aufhebung | |
unseres Streiks gestimmt, damit wir an den Examina teilnehmen können", | |
erklärt die Studentin im 3. Semester, die nicht nur von Beginn an bei der | |
Besetzung des Hauptgebäudes dabei ist, sondern sich auch in der | |
Presseabteilung der Studentenschaft engagiert. | |
Die achtjährige Primarstufe absolvierte sie in einer staatlich | |
subventionierten Privatschule in Südchile, die vierjährige Sekundarstufe in | |
einer "schlechten" öffentlichen Hauptstadtschule. "Ich habe als Einzige | |
meines 280-köpfigen Jahrgangs die Zulassungsprüfung zur Universidad de | |
Chile geschafft", erzählt sie fast beiläufig. Deshalb und weil sie zu den | |
"ärmsten 40 Prozent" gehört, wurden ihr die Studiengebühren von knapp 5.000 | |
Euro im Jahr erlassen - sie bekommt ein staatliches Stipendium und einen | |
Zuschuss von der Uni. | |
Über den Gedenkmarsch, an dem Matilde wegen der Prüfungsvorbereitungen | |
nicht teilnimmt, sagt sie: "Diesmal geht es nicht nur gegen Pinochet, | |
sondern auch gegen Piñera. Es ist viel politischer als früher." Wie Camila | |
Vallejo gehört sie der Kommunistischen Jugend an, doch Parteipolitik spielt | |
bei den Protesten nur eine Nebenrolle. Viele SchülerInnen und StudentInnen | |
lehnen sämtliche Parteien ab und achten sehr genau darauf, dass sich die | |
Geschichte von 2006 nicht wiederholt, als die Schüler von der | |
Mitte-links-Regierung unter Michelle Bachelet mit vielen Versprechungen | |
über den Tisch gezogen wurden. Geändert hat sich damals an dem | |
profitorientierten, ausgrenzenden System aber schließlich kaum etwas. | |
Piñeras Popularität liegt nach anderthalb Jahren Regierungszeit bei 27 | |
Prozent, aber auch das diskreditierte Parteienbündnis zwischen Christ- und | |
Sozialdemokraten profitiert von der sozialen Protestwelle nicht und steht | |
nun vor dem endgültigen Bruch. Mehr als 4 Millionen Erwachsene sind nicht | |
einmal als Wähler registriert, das Panorama für den Wahlkampf in zwei | |
Jahren ist völlig unklar. "Das politische System ist eine | |
Vererbungsdemokratie, die Presse eine geschlossene Veranstaltung, und die | |
Kluft zwischen Zivilgesellschaft und Politik ist enorm", sagt Albrecht | |
Koschützke von der Friedrich-Ebert-Stiftung, die die Tagung im Hauptgebäude | |
sponsert. | |
Der Titel "Kongress der Zivilgesellschaft" wirkt etwas großspurig, denn | |
Matilde Méndez ist die einzige Studentin im Saal. Ein paar Dutzend | |
gestandene NGO-Vertreter und Akademiker bleiben weitgehend unter sich und | |
debattieren darüber, wie aus dem sozialen Aufbruch ein politischer werden | |
könnte. Klug analysieren sie die derzeitige Stagnation, loben die Studenten | |
für ihre monatelangen Kundgebungen und beschwören eine politisch-soziale | |
Bewegung für eine neuen Verfassung. | |
## Pinochets Erbe | |
Auf der Straße ist die Allianz zwischen den Aktivisten der verschiedenen | |
Generationen schon eher spürbar, etwa bei dem Marsch zum Zentralfriedhof, | |
wo die Schlusskundgebung von den schon traditionellen Scharmützeln zwischen | |
Vermummten und der Polizei begleitet wird. "Die Chilenen sind aufgewacht", | |
ruft die Menschenrechtlerin Lorena Pizarro, und die Studentensprecherin | |
Camila Donato, Enkelin zweier "Verschwundener", sagt: "Von Pinochet haben | |
wir nicht nur das Bildungssystem geerbt, sondern auch die Verfassung, auch | |
Gesundheit und Wohnungsbau sind privatisiert". | |
Oder bei einer Gedenkveranstaltung für Salvador Allende, dem linken | |
Staatschef, der am 11. September 1973 bombardiert und eingekesselt wurde | |
und sich anschließend das Leben nahm. Am Donnerstag wurden seine | |
sterblichen Überreste zum dritten Mal bestattet, nach einer Exhumierung | |
wurde die Selbstmordthese zweifelsfrei bestätigt. | |
Daraufhin trafen sich Allende-Anhänger aller Generationen zu einem Konzert | |
vor dem Denkmal des Sozialisten seitlich des Präsidentenpalasts. Auf der | |
Rückseite ist das berühmte Zitat aus seiner letzten Rundfunkansprache | |
eingraviert: "Bald werden sich wieder die großen Alleen öffnen, auf denen | |
der freie Mensch geht, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen." | |
13 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Studentenproteste in Chile: Festnahmen und Verletzte | |
Nach dem Abbruch der Gespräche mit der chilenischen Regierung sind bei | |
Studentendemonstrationen über 130 Menschen festgenommen worden. 30 Menschen | |
wurden verletzt. | |
Studentenproteste in Chile: Gespräche mit Regierung abgebrochen | |
Die Verhandlungen mit der Regierung ergäben keinen Sinn, sagte die | |
chilenische Studentenführerin Camila Vallejo. Sie kündigte weitere | |
Demonstrationen an. | |
Schülerproteste in Chile: Keine Annäherung | |
Gespräche zwischen Minister, Studenten und Schülern bringen keine | |
Annäherung in Sachen Bildungsreform. Ein weiteres Treffen ist für kommende | |
Woche geplant. | |
Bildungsstreik in Chile: 100.000 StudentInnen in Innenstadt | |
Die Protestbewegung gegen das chilenische Bildungssystem geht in die | |
Offensive. Hunderttausende demonstrieren in ganzen Land. Die Regierung | |
antwortet mit Härte. | |
Vorbild Schülerproteste in Chile: Proteste schwappen nach Brasilien | |
Auch in Brasilien gehen die Studenten jetzt auf die Straße und fordern mehr | |
Geld für Bildung. In Chile haben Schüler und Studenten für zwei Stunden das | |
Erziehungsministerium besetzt. | |
Fitte Studentensprecherin aus Chile: Subcomandante Camila | |
Sie ist 23 Jahre und bringt eine Million Menschen auf die Straße. Dabei ist | |
Camila Vallejo nur Studentensprecherin und fordert eine bessere Bildung. | |
Pinochets Erben sind alarmiert. | |
Generalstreik in Chile: Protest gegen Piñera weitet sich aus | |
Die Gewerkschaft rief zu einem zweitägigen Generalstreik gegen die | |
Rechtsregierung auf. Die Regierung sagt, das war ein Flop, die Funktionäre | |
hingegen sind zufrieden. |