| # taz.de -- Der Krieg in Syrien hat den Libanon erreicht: Alter Hass und neuer … | |
| > Sunniten und Alawiten schießen aufeinander, wie damals in den 80er | |
| > Jahren. Der Aufstand in Syrien greift auf den Libanon über. Die Alte | |
| > Fehden brechen wieder auf. | |
| Bild: Tripoli: Eine Granate hat bei Kämpfen zwischen Anti- und prosyrischen Gr… | |
| TRIPOLI taz | Glasscherben liegen neben rosa Plüschtieren auf dem Teppich | |
| verstreut, in den Wänden klaffen tennisballgroße Einschusslöcher. "Es ist | |
| immer das Gleiche", murmelt Ali Tita. Splitter knirschen unter seinen | |
| Sohlen, als er aus dem Kinderzimmer auf den Balkon tritt. Draußen hängt ein | |
| blassgrauer Himmel über Tripoli, der 500.000-Einwohner-Stadt im | |
| Nordlibanon. Unten breitet sich das sunnitische Elendsviertel Bab | |
| al-Tabbana aus, Wohnblocks aus fleckigem Rohbeton, buckelige Moscheen, hier | |
| und dort ausgebombte, verkohlte Ruinen aus den Bürgerkriegsjahren 1975 bis | |
| 1990 oder einem der zahllosen Konflikte seither. | |
| Gleich daneben erhebt sich ein kleiner Hügel, auf dessen Hang sich die | |
| Häuser des Viertels Dschebel Mohsen stapeln. Dort leben die rund 50.000 | |
| Alawiten von Tripoli. Ali Tita, mit kurzem grauen Bart und Karohemd, starrt | |
| ausdruckslos über die Straßenschluchten. Sein rechtes Auge ist nur ein | |
| schmaler, tief liegender Schlitz, mit dem er nichts sieht. Eine alte | |
| Verletzung aus dem Jahr 1985. | |
| Damals waren syrische Besatzungstruppen in Tripoli eingerückt. Gemeinsam | |
| mit ihren alawitischen Verbündeten führten sie einen blutigen Feldzug gegen | |
| örtliche Islamistenmilizen. Hunderte von Sunniten wurden dabei getötet, die | |
| meisten davon in Bab al-Tabbana. | |
| Und jetzt kämpfen die Sunniten und Alawiten in Tripoli wieder | |
| gegeneinander. Der Aufstand in Syrien hat die alte Nachbarschaftsfehde neu | |
| entfacht. Denn die Alawiten von Dschebel Mohsen gehören demselben Zweig des | |
| schiitischen Islam an wie der Assad-Clan und stehen Syrien traditionell | |
| nahe. In Bab al-Tabbana sitzt der Hass auf das Regime in Damaskus tief. | |
| "Solange dieses Regime an der Macht ist", sagt Ali Tita, "müssen wir Angst | |
| haben." Vor anderthalb Wochen sind die Spannungen zwischen den beiden | |
| rivalisierenden Vierteln zuletzt eskaliert. Über 24 Stunden feuerten die | |
| Milizionäre mit Granaten und Maschinengewehren in die Siedlungen der | |
| jeweils anderen Seite. | |
| Als die Armee die Kämpfe beendete, waren drei Menschen tot und etwa 20 | |
| verletzt. Ali Tita, 39 Jahre alt, verdient mit der Reparatur von | |
| Klimaanlagen ein karges Einkommen. Er lebt mit seiner Frau und zehn Kindern | |
| direkt an der Frontlinie, der Syrienstraße, die Dschebel Mohsen und Bab | |
| al-Tabbana voneinander trennt. | |
| ## Flucht in der Feuerpause | |
| Während der jüngsten Gefechte kauerten sie einen halben Tag lang in einer | |
| Ecke, bis ihnen eine Feuerpause die Flucht ermöglichte. "Wir sind diese | |
| Situation gewohnt", sagt Tita. Wegen ihrer Lage wird seine Wohnung jedes | |
| Mal verwüstet, wenn Gefechte zwischen Dschebel Mohsen und Bab al-Tabbana | |
| ausbrechen. | |
| Aus dem Halbdunkel des Wohnzimmers nähert sich ein Mann mit buschigem Bart, | |
| randloser Brille und kahl geschorenem Kopf. Sheikh Aiman Karma deutet auf | |
| Ali Tita und sagt: "Die Menschen in Bab al-Tabbana haben furchtbar unter | |
| der Tyrannei Syriens gelitten. Und nun kommen diese Leute, deren Loyalität | |
| Syrien gilt, und bringen die Erinnerungen an den Bürgerkrieg zurück." | |
| Sheikh Aiman Karma hängt dem Salafismus an, einer fundamentalistischen | |
| Strömung des Islam. Radikale Geistliche wie er haben viel Einfluss in Bab | |
| al-Tabbana. | |
| ## Schüsse nach dem Freitagsgebet | |
| Kurz vor den Kämpfen im Februar hatten salafistische Geistliche eine | |
| Demonstration gegen das syrische Regime organisiert. Nach dem Freitagsgebet | |
| strömten die Gläubigen aus den Moscheen auf die Plätze von Tripoli. | |
| Es dauerte nicht lange, bis Schüsse fielen. Sheikh Aiman Karma lässt seinen | |
| Blick auf den Siedlungen von Dschebel Mohsen ruhen. "Die Alawiten führen | |
| Anweisungen aus Damaskus aus", sagt er. "Sie säen Chaos, um davon | |
| abzulenken, was in Syrien passiert." | |
| Es ist nicht mehr zu ermitteln, welche Seite das Feuer eröffnet hat. Die | |
| Anwohner der beiden rivalisierenden Viertel geben sich gegenseitig die | |
| Schuld. "Wir sind mental völlig ausgelaugt", sagt Khaled Shadi Suleiman, | |
| der Inhaber eines Lebensmittelgeschäfts in Dschebel Mohsen, "einen Tag gibt | |
| es Kämpfe, am nächsten Tag konfessionelle Provokationen. Wir sind eine | |
| Minderheit, wir haben kein Interesse an dieser Eskalation." | |
| Durch die Glasfront des Ladens zeichnet sich eine schmale Gasse ab. An den | |
| Laternenpfählen hängen syrische Flaggen und riesige Porträtposter von | |
| Präsident Assad. | |
| ## Von Sunniten umringt | |
| An diesem Tag ist alles ruhig auf den Straßen von Tripoli. Doch je brutaler | |
| das Assad-Regime die Proteste in Syrien niederschlägt, umso mehr verhärten | |
| sich die Fronten zwischen Bab al-Tabbana und Schebel Mohsen. "Wir | |
| unterstützen das Regime, weil es sich Israel und den USA entgegenstellt", | |
| sagt Khaled Shadi Suleiman. | |
| Er schweigt kurz, dann setzt er noch, leiser, "und weil es die Garantie für | |
| unser Überleben ist." Der Hügel, auf dem die Alawiten leben, ist rundum von | |
| sunnitischen Siedlungen umgeben. Viele hier glauben, dass sie nur der | |
| Schutz von Damaskus vor der Auslöschung bewahrt. | |
| ## Verschwörungstheorien | |
| Die Furcht lässt keinen Raum für Zweifel an der Propaganda des Regimes. "Im | |
| Moment passiert in Syrien eine Verschwörung ungeheuren Ausmaßes", sagt der | |
| Ladeninhaber. Jeden Abend schaut er die Nachrichten auf dem | |
| Hisbollah-Sender al-Manar oder dem staatlich kontrollierten syrischen Kanal | |
| al-Dunia. | |
| Er ist überzeugt, dass er dort die Wahrheit erfährt: Terroristen aus den | |
| Nachbarländern haben Syrien infiltriert und ihre Waffen gegen den Staat | |
| erhoben, erklärt Suleiman. Neben ihm, in einen Sessel versunken, sitzt ein | |
| Mitarbeiter und nickt düster: "Und jetzt, wo die syrische Armee gegen die | |
| Terroristen vorgeht, versuchen sie eine weitere Front im Libanon eröffnen." | |
| Dort, wo Dschebel Mohsen und Bab al-Tabbana aufeinander stoßen, parkt eine | |
| Reihe Panzer. Etwa drei Dutzend Soldaten dösen in der Nachmittagssonne. Sie | |
| ziehen an ihren Zigaretten und werfen träge Blicke entlang der | |
| Syrienstraße, wo die Spuren vergangener Konflikte einander in verschiedenen | |
| Schichten überlagern. | |
| ## Plakat mit Kinderleichen | |
| Nahe dem Markt hängen Plakate mit den Leichen von Kindern aus der syrischen | |
| Protesthochburg Homs. "Mörder", steht in Rot neben einem durchgestrichenen | |
| Bild von Baschar al-Assad. Plötzlich quietschen Reifen, eine Hupe heult | |
| auf. Zwei junge Männer springen aus ihren Wagen. Sie schreien; ihre Stimmen | |
| überschlagen sich vor Zorn. Weitere junge Männer strömen aus den | |
| Seitengassen hinzu und heben die Fäuste. Einer zieht eine Pistole aus | |
| seinem Hosenbund. | |
| Ein rundlicher Mann stürzt aus dem Eingang eines nahe gelegenen Minimarktes | |
| auf die Streitenden zu. Er nimmt den Fahrer mit der Waffe in den | |
| Schwitzkasten und zerrt ihn, den Kopf in seinen Ellenbogen geklemmt, aus | |
| dem Getümmel. | |
| "Seht nur, die Alawiten", brüllt er, "die gucken hier runter und lachen | |
| sich schief über uns." Mohammed Khalaf, 38, ist Lokalpolitiker der | |
| Moustaqbal-Partei. Es dauert eine Weile, bis er die Männer beschwichtigt | |
| hat. Schließlich setzen sich die Männer in ihre Autos und fahren davon. | |
| ## Polarisierte Stadt | |
| Es war nur ein Streit um die Vorfahrt. Doch die kleine Szene macht | |
| deutlich, wie leicht auf den Straßen von Bab al-Tabbana der Griff zur Waffe | |
| geht. Mohammed Khalaf zupft seinen Pulli zurecht und bittet in seinen | |
| Minimarkt. | |
| Er hat ein selbst gemaltes Schild auf das Regal mit den Nüssen gestellt: | |
| "Was ist der Unterschied zwischen Homs und Gaza? Der Scharon der Araber." | |
| Mohammed Khalaf lässt keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er steht. | |
| Doch er ist kein Eiferer. Seines Erachtens geht es bei der syrischen | |
| Revolte um Würde, den Kampf gegen Ungerechtigkeit. Doch er weiß, dass es in | |
| Tripoli immer auch um das geht, was in den 80er Jahren geschah. "Die | |
| Menschen sind sehr zornig." | |
| Es kümmert ihn, wie der Konflikt die alten Gräben in Tripoli aufbricht. Die | |
| Schuld gibt er den Politikern in Beirut, die die Polarisierung der Stadt | |
| mit Hetzreden forcieren. Die prosyrische Regierungskoalition, die von der | |
| Hisbollah geführt wird, ebenso wie das antisyrische Oppositionsbündnis, dem | |
| seine Partei angehört. | |
| ## Zum Kämpfen bereit | |
| "Sie spannen die Revolution für ihre Zwecke ein", sagt er, "und benutzen | |
| die Frontlinie zwischen Dschebel Mohsen und Bab al-Tabbana als Briefkasten, | |
| um Botschaften an das syrische Regime zu schicken." | |
| Der Junge, der bei ihm als Verkäufer arbeitet, zieht sein Handy aus der | |
| Hosentasche. Er mag 16 Jahre alt sein, schlaksig, mit gegelten Haaren. Er | |
| lächelt linkisch und zeigt ein Video, das er während der jüngsten Gefechte | |
| aufgenommen hat. "Ich bin bereit, wann immer es neue Kämpfe gibt", sagt er. | |
| Auf den verwackelten Aufnahmen hält der junge Verkäufer ein Maschinengewehr | |
| im Arm, um den Oberkörper ist ein Patronengurt gewickelt. Er rennt durch | |
| die Stadt, legt die Waffe an. Ringsum peitschen Schüsse durch die | |
| Dunkelheit. | |
| 21 Feb 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriela M. Keller | |
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