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# taz.de -- Entführungen in Mexiko: Trau keinem über den Weg
> Padre Solalinde betreibt eine Herberge an der Zugstrecke der „Bestie“,
> die Migranten in die USA bringt. Er bietet Schutz vor Erpressung und
> Entführung.
Bild: Wer in der „Bestie“ Richtung USA reist, ist der Mafia besonders schut…
IXTEPEC / MEXIKO STADT taz | Er schaut nach links, nach rechts und dann
noch um die Ecke des Gebäudes, wo gerade ein Pärchen im Schatten eines
Baumes Platz genommen hat. Seine Augen blinzeln, die Arme kann er kaum
stillhalten. „Lass uns lieber ein paar Meter gehen“, sagt der junge
Guatemalteke, der sicherheitshalber Francisco Martínez heißt.
Er traut keinem über den Weg. Auch hier nicht, in dieser scheinbar sicheren
Migrantenunterkunft in der südmexikanischen Kleinstadt Ixtepec. „Die Zetas
sind überall“, flüstert er. „Viele arbeiten für die Mafia und geben
Informationen weiter.“
Martínez kennt sich aus. Im letzten Frühjahr haben ihn Kriminelle entführt.
Er hatte es schon beinahe geschafft. Nur noch wenige Kilometer trennten ihn
von seinem Ziel, als kurz vor der US-amerikanischen Grenze bewaffnete
Männer auf das Dach des Waggons sprangen, auf dem er mit zehn anderen
Migranten gen Norden reiste. „Absteigen“, schrien die Männer und
gestikulierten mit ihren Waffen. Dann brachten sie die Reisenden mit
Pick-ups in eines jener klandestinen Häuser, die die Zetas entlang der
Bahnroute von Zentralamerika in die USA unterhalten.
Martínez hatte Glück. Der 25-Jährige konnte seinen Entführern die
Telefonnummer von Angehörigen in den USA geben. Seine Mutter brachte 5.000
Dollar auf, dann ließ man ihn frei. Einige Mitgefangene seien jedoch
gefoltert worden, andere spurlos verschwunden. Was mit ihnen passiert ist?
„Keine Ahnung.“ Martínez wirkt abwesend, seine Sätze klingen monoton, so
als solle eine vermeintliche Gleichgültigkeit vergessen machen, was er
nicht vergessen kann.
## In Stücke schneiden und ab in den Fluss
„Wenn die Typen auf Drogen sind und nicht die Wahrheit aus dir herausholen
können oder du keine Familie hast, kann es sein, dass sie dich in Stücke
schneiden und in den Fluss werfen.“ Der junge Guatemalteke ist schon länger
in der Herberge „Brüder auf dem Weg“, die direkt an den Gleisen liegt. Nach
seiner Freilassung war er von Grenzbeamten aufgegriffen und nach Guatemala
abgeschoben worden, nun versucht er erneut sein Glück. Doch die meisten der
50 Reisenden, die sich an diesem Morgen in der Unterkunft aufhalten, hat
die „Bestie“, wie alle den Güterzug nennen, erst in der letzten Nacht
hierher gebracht.
Einige nehmen gerade an einer Messe von Padre Alejandro Solalinde teil,
andere notieren sich wichtige Informationen von einem Plakat: Wo wird am
häufigsten kontrolliert? Welche Kleidung braucht man, um im Winter durch
die Wüste zu kommen? Für den Padre sind solche Hinweise mehr als ein
christlicher Auftrag der Nächstenliebe. „Jesus war ein hundertprozentiger
Migrant. Einer, der ständig unterwegs war“, erklärt er in einem der wenigen
Momente, in denen sein Handy Ruhe gibt.
Seit 2007 betreibt der 66-Jährige die Herberge. Er organisiert
Bettgestelle, kümmert sich um günstige Kartoffeln, Hühnchen oder Kaffee und
streitet mit den Behörden. Immer wieder haben korrupte Politiker,
Polizisten und Migrationsbeamte versucht, den lästigen Pfaffen loszuwerden.
Schlägertrupps kamen, um die Gebäude niederzubrennen. Solalindes Einsatz
stört. „An keinem Ort kann man bessere Geschäfte mit der Ausbeutung der
Migranten machen“, sagt er. Einheimische Kriminelle und Beamte würden
gemeinsam die Reisenden erpressen. Nur wer zahlt, darf weiterfahren, die
anderen werden abgeschoben.
## Die Entführung der Migranten
Noch gefährlicher ist es geworden, seit die Zetas begonnen haben,
Migrantinnen und Migranten zu entführen. Solalinde musste mit ansehen, wie
sich die Mafia-Organisation im Bundesstaat Oaxaca unter dem Schutz des
Gouverneurs und der Polizei breitgemacht hat. Als letztes Jahr
Wanderarbeiter in der Region verschleppt wurden, erstattete der Geistliche
Anzeige – gegen die Zetas. Ja, im ersten Moment habe er Angst gehabt,
bekennt der offensichtlich immer gut gelaunte Katholik.
„Ich dachte, jetzt brechen meine letzten Tage an“, erinnert er sich.
Dennoch setzt er auf die Ratio seiner Gegner. „Der politische Preis wäre
sehr hoch.“ Angst? Wovor sollte Javier Sicilia noch Angst haben? Etwa 800
Kilometer von Ixtepec entfernt sitzt der Dichter im Innenhof der
zivilgesellschaftlichen Organisation Cencos in der Roma, einem der
angesagten Viertel im Herzen von Mexiko-Stadt. Dem grauhaarigen
Mittfünfziger ist bereits das Schlimmste passiert, was einem Menschen
widerfahren kann: Vor einem Jahr wurde sein Sohn Juan Francisco von Killern
eines Kartells ermordet.
## Proteste gegen omnipräsente Gewalt
Sicilia stellte daraufhin das Schreiben ein. Erst auf der verzweifelten
Suche nach Wegen, dem Tod seines Sohnes einen Sinn zu verleihen, fand er
die Sprache wieder. In einem öffentlichen Brief erklärte er den „Herren
Kriminellen“ und „Herren Politikern“: „Estamos hasta la madre“ („Wi…
die Schnauze voll“).
Menschen in ganz Mexiko griffen die Parole auf. Die Bewegung für Frieden in
Gerechtigkeit und Würde entstand. Studenten mobilisierten, die indigenen
Zapatisten gingen auf die Straße, und auch Angehörige von Ermordeten und
„Verschwundenen“ folgten dem Aufruf. Sie alle hatten „die Schnauze voll“
von der Mafia und dem von Präsident Felipe Calderón erklärten Krieg gegen
die Kartelle, in dem seit Ende 2006 mindestens 60.000 Menschen gestorben
und 10.000 „verschwunden“ sind.
Die Parole wurde zum Fanal gegen die omnipräsente Gewalt, der die Menschen
im Land ausgesetzt sind: gegen die Angriffe der Uniformierten auf die
Zivilbevölkerung, gegen die allgegenwärtigen Bilder grausam zugerichteter
Leichen und nicht zuletzt gegen die Angst, selbst den Polizisten, Soldaten
oder Killern der Kartelle zum Opfer zu fallen.
Mit zwei Karawanen zogen deshalb Aktivistinnen und Aktivisten bis an die
US-Grenze und in den tiefen Süden. Dorthin, wo der Terror der Mafia und die
Einsätze des Militärs die meisten Opfer fordern. Auf ihrem Weg lag auch die
Herberge von Sicilias Mitstreiter Solalinde. „Wir helfen uns gegenseitig“,
sagt der Pfarrer. Dann spricht er vom letzten gemeinsamen Treffen mit
Javier Sicilia: „Er wirkte sehr erschöpft.“ Der Tod seines Sohnes, die
Angriffe auf Aktivisten und die Dauerüberlastung haben den 55-Jährigen
gezeichnet. Auch sein ruhiges, väterliches Auftreten kann nicht darüber
hinwegtäuschen.
Und nun auch noch die Wahlen. Der Schriftsteller schüttelt den Kopf. Seine
libertär und befreiungstheologisch inspirierte Philosophie spricht Christen
und Konservative ebenso an wie Säkulare und Linke, selbst mit Calderón ist
er ins Gespräch gekommen. Aber die Wahlen, durch die am 1. Juli ein neuer
Präsident und ein neues Parlament bestimmt werden sollen, will er
boykottieren. „Sie verschleiern nur die Wirklichkeit“, sagt er in seinem
nachdenklichen Tonfall. „Ich habe noch kein Land gesehen, in dem auf
demokratische Weise Wahlen stattfinden, während zugleich Krieg herrscht.“
## Die Bewegung wird selbst zum Ziel
Dieser Krieg fordert auch in den Reihen der Bewegung seine Opfer. Aus dem
nordmexikanischen Bundesstaat Sonora war Nepomuceno Moreno oft zu den
Versammlungen bei Cencos gekommen. „Don Nepu“ war zum engagierten
Mitstreiter der Bewegung geworden. Er hatte gehofft, so seinen 2010
entführten Sohn wiederzufinden. Auf einem Treffen mit Calderón hatte er den
Präsidenten darum gebeten, für seinen Schutz zu sorgen, er werde bedroht.
Vergeblich. Unbekannte erschossen den 56-Jährigen im letzten November auf
offener Straße.
Zwei weitere Mitarbeiter starben in den letzten Monaten. Norma Andrade, die
sich für die Aufklärung der unzähligen Frauenmorde in der nordmexikanischen
Grenzstadt Ciudad Juárez einsetzt, überlebte durch Glück zwei
Mordanschläge.
Padre Solalinde vertraut trotz aller Zuversicht nicht mehr nur auf sein
politisches Gespür. Ihn schützen jetzt vier bewaffnete Leibwächter.
Verlässt er das eingezäunte Gelände der Herberge, folgen sie ihm auf
Schritt und Tritt. So auch an diesem Abend. Als der Güterzug mit einem
lauten Signalton sein Kommen ankündigt, begleitet er die Migranten zu den
Gleisen. Auch Martínez würde gerne weiterreisen. Doch ihm fehlt das Geld.
„Die Polizei hat mich in betrunkenem Zustand festgenommen und mir alles
abgenommen“, berichtet er. Nun muss er erst Arbeit finden, Geld verdienen.
Aber bald, da ist sich der junge Guatemalteke sicher, wird auch ihn die
Bestie in die USA bringen. Und dieses Mal, so hofft er, werden ihm die
Zetas keinen Strich durch die Rechnung machen.
15 Mar 2012
## AUTOREN
Wolf-Dieter Vogel
## TAGS
Zapatisten
Frauenmord
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