| # taz.de -- Fahnder bei Krankenkassen: Gier frisst Hirn | |
| > Erst jagte er als Polizist die RAF, dann heuerte Frank Keller bei einer | |
| > Krankenkasse an, um nach Betrügern zu fahnden. Den kleinen, wie den | |
| > großen Fischen ist vieles gemein. | |
| Bild: Erst jagte er die RAF, jetzt die Krankenkassenbetrüger: Der Fahnder Fran… | |
| HAMBURG taz | An diesem Morgen hat Frank Keller die Hebamme Susi im Visier. | |
| Susi ist bloß der Deckname und zudem ein leichter Fall, Keller braucht | |
| keine SoKo dafür, ihm reichen ein Flipchart und ein Edding in seinem | |
| Hamburger Büro. Der große Kreis, den er gerade in die Mitte des Blattes | |
| zeichnet, ist eine mittelgroße Stadt in Norddeutschland, die kleinen Kreise | |
| daneben, angeordnet wie Satelliten, sind die Dörfer drum herum. Hier leben | |
| die Schwangeren und die jungen Mütter, die Susi häuslich betreut. Die | |
| Hebamme selbst wohnt in einer Gemeinde südwestlich der Stadt. | |
| „Schauen wir uns nun Susis Bewegungsmuster an“, sagt Keller. Der Edding | |
| zieht einen Pfeil von Susis Heimatdorf weiter zum nächstgelegenen Dorf | |
| westlich der Stadt und zum dann folgenden nordwestlich, es ist eine Reise | |
| im Uhrzeigersinn, und Keller sagt: „So jedenfalls wäre es logisch.“ Die | |
| Route, die die Hebamme der Techniker Krankenkasse (TK) in Hamburg, Kellers | |
| Arbeitgeber, zwecks Abrechnung präsentiert hat, dagegen sieht anders aus: | |
| zickzackig. | |
| Danach ist sie nach jedem Hausbesuch zunächst zu sich nach Hause | |
| zurückgekehrt und anschließend wieder losgefahren. Die Kilometerzahl, die | |
| so im Monatsmittel zustande kam, war so beachtlich viel höher als die | |
| Entfernungen, die Hebammen durchschnittlich in Deutschland zurücklegen und | |
| sich sodann von den Krankenkassen erstatten lassen, dass Keller stutzig | |
| wurde. Stutzig werden musste, es ist schließlich sein Job: Frank Keller, 52 | |
| Jahre alt, leitet bei der TK die „Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten | |
| im Gesundheitswesen“. | |
| ## Vom Bundespolizisten zum Kassenfahnder | |
| Seine Aufgabe ist es, Hinweisen auf Falschabrechnungen, Betrug, Bestechung, | |
| Fangprämien oder Schmiergeldzahlungen nachzugehen. Anhand der | |
| kasseninternen Daten prüft Keller, ob sich ein Korruptionsverdacht erhärtet | |
| und er die Staatsanwaltschaft einschalten muss. | |
| Im Fall Susi war dies Handwerk für einen, der Profile und Raster für | |
| Menschen von anderem Kaliber und, nun ja, höherer krimineller Intelligenz | |
| erstellt hat: Frank Keller ist Bundespolizist gewesen, er hat für das BKA | |
| gearbeitet und RAF-Terroristen nachgestellt, unter Kollegen galt er als | |
| Spezialist für Fahndung, Observation und Telefonüberwachung. Bald zwei | |
| Jahrzehnte war er im Auftrag des Staates menschlichen Abgründen auf der | |
| Spur. | |
| Dann fiel die Mauer, und der Bundespolizist Frank Keller, Beamteneid, | |
| verheiratet, vier Kinder, wohnhaft in Lüneburg, eingesetzt im Grenzgebiet, | |
| erlebte, was passieren kann, wenn eine Grenze sich plötzlich 500 Kilometer | |
| nach Osten verschiebt und eine Familie sich den neuen geopolitischen | |
| Gegebenheiten verweigert: Er stieg aus. Heuerte bei verschiedenen privaten | |
| Sicherheitsdiensten an. Und verließ sie wieder. Dann, 1999, wurde Keller | |
| Kassenfahnder. | |
| Er war damals ein Pionier; die Politik erkannte Fehlverhalten im | |
| Gesundheitswesen erst Jahre später als generelles und systemisches Problem; | |
| es dauerte bis 2004, bis die Krankenkassen sowie die Kassenärztlichen | |
| Vereinigungen in Deutschland gesetzlich dazu verpflichtet wurden, | |
| entsprechende Task Forces einzurichten. | |
| ## Den Rechtsstaat im Herzen | |
| Es ist schwer, herauszufinden, ob und wie schwer Frank Keller dieser | |
| Wechsel gefallen ist. Zumindest klingt es nicht wehmütig, wenn er sagt: | |
| „Ich stehe auch heute für die Rechtsstaatlichkeit ein.“ | |
| Und nun gleicht Frank Keller für die Techniker Krankenkasse Fahrzeiten mit | |
| Kilometerangaben mit Anzahl von Hausbesuchen ab und kommt zu dem Schluss: | |
| Stimmen die Angaben der Hebamme, dann müsste ihr Arbeitstag 19 Stunden oder | |
| länger sein. „Abrechnungsbetrug“, stellt Keller fest, „und ein typischer | |
| Anfängerfehler.“ Er klingt beinahe nachsichtig. „Hätte sie nur ein | |
| bisschen, aber eben nicht so maßlos übertrieben, es wäre vermutlich keinem | |
| aufgefallen.“ | |
| Frank Keller lächelt. Er mag diesen Fall. Sicher, schön ist er nicht für | |
| das System, dieses kompliziert organisierte Gesundheitswesen in | |
| Deutschland, das jährlich Milliardenbeträge im dreistelligen Bereich bewegt | |
| und dabei weitgehend auf Selbstverwaltung und Vertrauen basiert. Doch der | |
| Schaden ist überschaubar. | |
| ## Gefälligkeiten und Schmiergelder | |
| Er belastet die Ausgaben und damit die Gemeinschaft der Versicherten, keine | |
| Frage. Aber er gefährdet nicht die Sicherheit und Gesundheit von Patienten. | |
| Im Gegensatz zu so mancher Krebstherapie, mit der Keller sich schon | |
| auseinandersetzen musste, weil er den Verdacht hatte, die Therapie sei vom | |
| verordnenden Arzt vielleicht nicht ausschließlich aufgrund der | |
| medizinischen Erfordernis ausgewählt worden, sondern vor allem aus | |
| Gefälligkeit, als Gegenleistung etwa für eine Schmiergeldzahlung des | |
| Pharmaherstellers. | |
| Die Waffen, die dem Kassenfahnder für derlei Ermittlungen zur Verfügung | |
| stehen, sind freilich bescheiden: „Wir können lediglich anhand der | |
| Papierlage, also der Verordnungen und Abrechnungen prüfen. Gibt es da | |
| Auffälligkeiten, versuchen wir, die Tätervorgehensweisen systematisch zu | |
| erkennen.“ Keller wählt seine Worte mit Bedacht, er will sichergehen, | |
| verstanden zu werden: „Ein Täter, der Erfolg hat, agiert immer wieder nach | |
| demselben Muster.“ | |
| 2,9 Millionen Verordnungen gehen allein bei der TK jährlich ein; rund 35 | |
| Millionen sind es bundesweit bei den gesetzlichen Krankenkassen pro Jahr. | |
| Eine Datenflut, der selbst exzellente EDV-Systeme kaum gewachsen sind. Dazu | |
| kommt, dass Betrug oder Bestechung nicht per Mausklick herauszufiltern | |
| sind. „Es handelt sich um Kontrolldelikte“, sagt Keller. Soll heißen: | |
| Solange niemand aktiv sucht, findet sich auch nichts. | |
| ## Milliardenschäden durch Korruption | |
| Suchen kann aber nur, wer über entsprechende Manpower und Ressourcen | |
| verfügt. Keller hat 15 Leute in seinem Team. Er sagt, dass seine | |
| Personallage vergleichsweise sehr gut sei. Dass die Kassen untereinander ja | |
| auch kooperierten. Dass es mit ein bisschen Glück bald | |
| Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Korruption im Gesundheitswesen geben | |
| könnte. Die dann tatsächlich und endlich die Brisanz vieler Fälle erkennen, | |
| die Keller und seine Kollegen ihnen vorlegen. | |
| Nach Schätzung des European Healthcare Fraud and Corruption Network | |
| betragen die korruptionsbedingten Verluste europaweit zwischen 3 und 10 | |
| Prozent der Gesundheitsausgaben. Das wären in Deutschland allein bei den | |
| gesetzlichen Krankenkassen zwischen 5 und 18 Milliarden Euro pro Jahr. | |
| Natürlich wird die Hebamme Susi das zu viel abkassierte Geld zurückzahlen. | |
| Manchmal ruft Keller in solchen Fällen persönlich an. Oder er bittet die | |
| Betroffenen zu sich und hält ihnen einen Vortrag über den dünnen Boden der | |
| Rechtsstaatlichkeit. Meistens, sagt er, wirkt das nachhaltiger als | |
| irgendein Strafbescheid. Allein: Fälle, die so klar gelagert und | |
| vergleichsweise harmlos sind, bestimmen immer seltener seinen Berufsalltag. | |
| Ansonsten würde sich eine Krankenkasse wohl kaum einen Top-Fahnder wie | |
| Keller leisten. Der sagt: „Wir haben es zunehmend mit vernetzten Strukturen | |
| zu tun.“ | |
| ## Schmerzmittel für den Schwarzmarkt | |
| Zuletzt gab es da diese Bande Kleinkrimineller. Niedergelassenen Ärzten | |
| klauten sie Blanko-Rezeptblöcke oder fälschten die Kassenrezepte gleich | |
| selbst. Dann zogen sie damit durch die Apotheken quer durch die Republik, | |
| besorgten opioidhaltige Schmerzmittel – eigentlich für Krebspatienten | |
| konzipiert – und vertickten diese dann auf dem Schwarzmarkt für Modedrogen | |
| an Jugendliche. | |
| Oder der Apotheker aus Berlin, er ist einer von Kellers Lieblingsfällen, | |
| der die prekäre Lage einer Afrikanerin ohne Papiere so unglaublich | |
| geschickt auszunutzen wusste: Mit einer gestohlenen Versichertenkarte und | |
| erfundenen Krankheiten schickte er die Frau zu 87 verschiedenen Ärzten und | |
| ließ sie Rezepte holen. Rezepte, die nie eingelöst, dafür aber von dem | |
| Apotheker gegenüber den Kassen abgerechnet wurden. Was für ein Geschäft! | |
| Als Dankeschön zahlte er der Frau ein kleines Taschengeld. | |
| Und vermutlich würde er sich dieses lukrativen Deals noch heute erfreuen, | |
| hätte der Apotheker nicht eines Tages alle Regeln der Vorsicht missachtet | |
| und dreist bei einem der Ärzte angerufen, um zu fragen, ob er, der | |
| Pharmazeut, die vom Arzt verordnete Packungsgröße ändern dürfe – in eine | |
| sehr viel größere. | |
| „Gier frisst Hirn!“ Keller lacht jetzt laut, es wundert ihn, welch banale | |
| Fehler intelligenten Menschen mitunter unterlaufen. Der Arzt jedenfalls | |
| wurde misstrauisch, ließ das Rezept sperren. Und weil die gestohlene | |
| Versichertenkarte einer TK-Versicherten gehörte, landete der Fall | |
| schließlich bei Frank Keller. | |
| 27 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Korruption | |
| Diagnose | |
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