| # taz.de -- Pro & Contra Piratenpartei: Eine politische Eintagsfliege? | |
| > Die Piratenpartei sitzt in zwei Landtagen und könnte es auch im Bund | |
| > schaffen. Ihre Kritiker nennen sie weiter "Ein-Themen-Partei". Beginnt | |
| > bald der Niedergang? Ein Pro und Contra. | |
| Bild: Krawatten tragen sie auch schon. | |
| ## Pro | |
| Zwei Gefühle blähen derzeit die Segel der Piraten: Wut und Eitelkeit. Wut | |
| auf die etablierten Parteien und deren Repräsentanten, die in ihrer | |
| Gesamtheit von einem beständig wachsenden Teil der Bevölkerung als | |
| inkompetent, als egoistisch, als fantasielos, als weit entfernt vom Leben | |
| der Durchschnittsbürger gesehen werden. Und die Eitelkeit, klüger zu sein | |
| als frühere Generationen, also keinesfalls den Fehler wiederholen zu | |
| wollen, den die Großeltern im Hinblick auf die Grünen gemacht haben. | |
| Die hatten vor gut 30 Jahren der damals neuen Partei herablassend erklärt, | |
| dass und warum sie nicht ernst zu nehmen sei. Um dann über Jahre hinweg | |
| jeden Wahlerfolg als Betriebsunfall zu werten, der von den Erwachsenen | |
| schnell korrigiert werden würde. Wie wir heute wissen, zeugte das von | |
| historischer Bewusstlosigkeit. | |
| Das soll nicht noch einmal passieren. Derart spießig und engstirnig wie | |
| frühere Generationen will niemand sein. Seit Jahrzehnten kann sich deshalb | |
| eine neue Partei oder eine Bewegung gar nicht so blöd anstellen, dass sie | |
| nicht vom ersten Wahlerfolg an ehrfürchtig als Botschafterin einer | |
| vielversprechenden Zukunft betrachtet werden würde. Davon hat zu Beginn des | |
| Jahrtausends sogar eine so unsägliche Zusammenrottung wie die des | |
| Rechtspopulisten Ronald Schill in Hamburg profitiert. | |
| Nun besteht die Piratenpartei weder aus Rechtspopulisten noch gar aus | |
| Idioten. Im Gegenteil: Immer mal wieder veröffentlichen Leute, von denen | |
| man noch nie gehört hat, aber gerne mehr hören würde, ausgesprochen kluge | |
| Texte. Beispielsweise zu der bedrohlichen Machtkonzentration, die | |
| gigantische Informationskonzerne wie Google, Amazon und Apple auf sich | |
| vereinigen und mit der sie immer größere Lebensbereiche der Bevölkerung | |
| beherrschen. Dass derlei Themen von den Altparteien sträflich | |
| vernachlässigt worden sind, ist unbestreitbar. Hinweise darauf, dass sich | |
| einzelne Fraktionskollegen doch schon lange mit Netzpolitik befasst hätten | |
| und die Bedeutung des Internets erkannt sei, klingen bestenfalls hilflos. | |
| Und wenn Peter Altmaier von der CDU die Öffentlichkeit daran teilhaben | |
| lässt, wie er das Twittern entdeckt, dann wird es sogar lustig. | |
| Aber ein Zusammenschluss kluger Fachleute mit demselben Spezialinteresse | |
| ist eben noch keine Partei. Aus keinem einzelnen Anliegen heraus lässt sich | |
| ein übergreifendes Gesellschaftsbild erarbeiten – und sei das Anliegen noch | |
| so wichtig. Wer von Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Rechtspolitik | |
| nichts versteht, wird weder erfolgreich gegen Militarisierung der | |
| Außenpolitik noch für soziale Gerechtigkeit oder wirksamen Umweltschutz | |
| kämpfen können. Um einige andere Kernthemen zu nennen. Was für diese gilt, | |
| gilt auch für Netzpolitik. | |
| Nun bestreiten die Piraten das ja gar nicht, und sie zeigen sich durchaus | |
| lernwillig. Möglicherweise sind sie auch lernfähig. Aber wenn sie erst | |
| einmal denen ähneln, von denen sie sich jetzt zu unterscheiden wünschen, | |
| dann sind sie für ihre bisherigen Anhänger nicht mehr attraktiv. Vermutlich | |
| gewinnen sie in Nordrhein-Westfalen, vielleicht reicht es auch noch für den | |
| Einzug in den nächsten Bundestag. Sollten sie dort jedoch konstruktiv | |
| mitarbeiten, dann werden sie schnell als Verräter gelten. | |
| Denn die Wählerinnen und Wähler der Piratenpartei sind bislang vor allem | |
| Protestwähler. Die Stimmen kommen von Erstwählern, von vormaligen | |
| Nichtwählern – und außerdem aus den Lagern aller etablierten Parteien. | |
| Glaubt irgendjemand, dass diese bunte Mischung vor allem die Sehnsucht | |
| eint, dem Urheberrecht zu Leibe zu rücken? Ach, Unfug. Denen „da oben“ will | |
| man es zeigen, wie und womit auch immer. Für diesen Wunsch bieten die | |
| Piraten nur so lange ein Ventil, wie sie nicht verdächtigt werden, mit den | |
| Herrschenden gemeinsame Sache zu machen. | |
| Das ist alarmierend. Es ist eine Binsenweisheit, dass nicht etwa | |
| Oppositionsparteien gewählt, sondern Regierungen abgewählt werden. Jeder | |
| Regierungswechsel ist immer auch eine Protestwahl. Wenn aber der Punkt | |
| erreicht ist, an dem das Establishment als Ganzes von einem nennenswerten | |
| Teil der Bevölkerung nur noch verachtet wird, dann bedroht jede Anpassung | |
| an eingespielte Regeln eine neue Partei in ihrer Existenz, und die Schlange | |
| beißt sich in den Schwanz. Anders ausgedrückt: Gerade der Erfolg der | |
| Piraten zeigt, wie schwer es eine neue Partei – jede neue Partei – | |
| langfristig haben wird. | |
| (Bettina Gaus) | |
| ## Contra | |
| Wer nach ihrem Einzug ins zweite Landesparlament noch glaubt, die Piraten | |
| seien eine Eintagsfliege, der verkennt die Grundlage ihres Erfolgs. Und wer | |
| weiter meint, das sei eine Einthemenpartei, die für „irgendwas mit | |
| Internet“ stehe, zeigt nur, dass er sich bisher nicht ernsthaft mit den | |
| Piraten beschäftigt hat. Dafür ist es jetzt Zeit, bevor sie auch in Kiel | |
| und Düsseldorf ins Parlament einziehen – und nächstes Jahr in den | |
| Bundestag. | |
| Der Erfolg der Piraten beruht darauf, dass sie radikale, im besten Sinne | |
| sozialliberale Forderungen mit neuen Politikformen – direkter Demokratie | |
| und Onlinekommunikation – verbinden. Das mag die zeitgemäße Form sein, die | |
| sie für viele jüngere Wähler attraktiv macht. Aber ohne das Bündel an | |
| politischen Ideen, mit dem die Piraten neue Farbe ins grau gewordene | |
| Parteienspektrum bringen, ist ihr Erfolg nicht zu erklären. | |
| Allen Zweiflern zum Trotz, die den Piraten eine diffuse Programmatik | |
| unterstellen, vertreten sie bei einer ganze Reihe von Themen klare | |
| Positionen. In Berlin und im Saarland waren sie sogar die einzige Partei, | |
| die auf ihren cleveren Plakaten konkrete Ziele formulierte. Während die | |
| anderen Köpfe plakatierten, setzten die Piraten ganz altmodisch auf Inhalte | |
| – und zeigten damit, dass sie ihre Wähler ernst nehmen, statt sie als | |
| Zielgruppe für oberflächliche Werbebotschaften zu missbrauchen. Genau dafür | |
| wurden sie belohnt. | |
| Zu den Forderungen der Piraten gehört nicht nur ihr zentrales Anliegen, | |
| „Netze in Nutzerhand“, sondern auch der Ruf nach mehr direkter Demokratie, | |
| mehr Partizipationsmöglichkeiten, mehr Transparenz. Hinzu kommt der Wunsch | |
| nach einer anderen Bildungspolitik, der vollen rechtlichen Gleichstellung | |
| von sexuellen Minderheiten und Einwanderern sowie der Herabsetzung des | |
| Wahlalters auf 16 Jahre. Sie spiegeln damit das urbane Lebensgefühl eines | |
| Milieus wider, das sich bisher bei Grünen oder Linkspartei zu Hause fühlte. | |
| Aber die Piraten gehen in vielen Punkten weiter, als diese sich das heute | |
| trauen würden – etwa mit ihren Forderungen nach einem bedingungslosen | |
| Grundeinkommen, der Legalisierung weicher Drogen, einer strikteren Trennung | |
| von Staat und Religion sowie kostenlosem Nahverkehr. | |
| Weil die Piraten keine Angst haben, mögliche Mehrheiten zu verprellen, | |
| erlauben sie sich den Luxus, Maximalforderungen zu erheben – und bringen | |
| damit ein utopisches Element in die Politik zurück, das bei den anderen | |
| Parteien längst verloren gegangen ist. Ihr Selbstbewusstsein kommt nicht | |
| von ungefähr: Wer gesehen hat, wie das Internet die Welt zusammengerückt | |
| hat, wie Revolutionen durch soziale Netzwerke ausgelöst und Regime zum | |
| Einsturz gebracht werden, der lässt sich eben nicht mehr jeden lauwarmen | |
| Kompromiss als „alternativlos“ verkaufen. | |
| Es ist lustig, zu sehen, wie die etablierten Parteien – Grüne und Linke | |
| inklusive – darauf mit den gleichen Reflexen und Vorbehalten reagieren, wie | |
| einst auf Grüne und Linke reagiert wurde: Das ist doch bloß eine | |
| Protestpartei! Diesen Kindergarten kann man nicht ernst nehmen! Die wollen | |
| doch bloß spielen! | |
| Dieses Unverständnis erinnert an die Reaktionen der Live-Rock’-n’-Roller | |
| und Punks, als in den 1990ern Techno aufkam: Ist das überhaupt Musik? Das | |
| hört sich doch alles gleich an! Wo bleibt da die Rebellion? Trotzdem haben | |
| elektronische Klänge die Musikwelt revolutioniert – genauso wie der Erfolg | |
| der Piraten bereits jetzt die etablierte Politik verändert. Das erkennt man | |
| nicht nur daran, dass immer mehr Politiker twittern und auch Angela Merkel | |
| auf Video-Podcasts und „Bürgerdialog“ setzt, sondern auch an dem neuen | |
| Schwung in den Debatten über Datenschutz und Copyright. | |
| Dass ausgerechnet Grüne die Piraten heute auf ein bloßes Abfallprodukt | |
| neuer Kommunikationstechnologien reduzieren wollen, zeugt von | |
| Vergesslichkeit. Schließlich hatte auch die Alternativbewegung, aus der die | |
| Grünen hervorgingen, ihr Aufblühen in den 1980er Jahren nicht zuletzt dem | |
| technischen Fortschritt zu verdanken: Fotokopierer machten es möglich, | |
| Flugblätter und Szenehefte leicht und billig zu vervielfältigen, durch | |
| freie Radios und eigene Zeitungen wie die taz entstand eine | |
| „Gegenöffentlichkeit“. Nicht anders artikuliert sich die | |
| „Schwarmintelligenz“, der die Piraten heute eine Stimme geben, in neuen | |
| Kanälen und sozialen Netzwerken. Bislang formulieren die Piraten nicht viel | |
| mehr als ein Versprechen. Aber: Sie sind gekommen, um zu bleiben. | |
| (Daniel Bax) | |
| 29 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| B. Gaus | |
| D. Bax | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Überwachung | |
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