# taz.de -- Streitgespräch Piraten und Linke: Die Frage ist, wer entscheidet | |
> Lassen die Piraten die noch junge Linkspartei alt aussehen? Und trägt ihr | |
> Politikkonzept? Ein Streitgespräch mit Piratenchef Sebastian Nerz und | |
> Linken-Chef Klaus Ernst. | |
Bild: Die Piraten finden sich auch ein bisschen revolutionär. | |
taz: Bevor wir uns zu diesem Gespräch getroffen haben, haben wir | |
getwittert. Herr Ernst, machen Sie das selbst – oder Ihr Büro? | |
Klaus Ernst: Sowohl als auch. | |
Mit wem genau habe ich dann vorhin getwittert? | |
Ernst: Mit meinem Büro. | |
Und wissen Sie worüber? | |
Ernst: Um ehrlich zu sein: Nee. | |
Ein User schrieb, Ihre Partei sei „altbacken“. Sind die Piraten die | |
frischeren Linken? | |
Ernst: Nein. Der Erfolg, der heute den Piraten zufliegt, hat eine andere | |
Ursache. Im Moment bekommt jede basisdemokratische Bewegung, die sich zur | |
Partei mausern kann, Vorschusslorbeeren – auch wenn sie nicht sagen kann, | |
was sie eigentlich will. Das war bei uns auch so als wir die WASG | |
gründeten. | |
Heute gehört die Linkspartei zu den Etablierten. Sie hat ihren | |
Erneuerungsprozess verschlafen. | |
Ernst: Das stimmt nicht. Dass wir mit den Mehrheitsverhältnissen im | |
Bundestag unsere Ziele nicht wie gewünscht umsetzen können, mag bei manchen | |
zwar zu Frustrationen führen, aber es gehört zur Politik. | |
Einst strömten Studierende zur Linkspartei. Jetzt finden sich viele | |
Uni-Streik-Aktivisten unter den Piraten. Herr Ernst, was ist Ihr Problem? | |
Ernst: Ich sehe gar kein so großes. Wenn im Moment einer ein Problem hat, | |
dann ist das doch wohl eher die FDP. Auch die Piraten werden bald ein | |
Problem bekommen, wenn sie nicht deutlicher machen, was sie wollen. | |
Herr Nerz, was wollen Sie? | |
Sebastian Nerz: Uns geht es darum, eine neue Form dafür zu finden, wie | |
Parteien mit Politikern und wie Bürger mit Abgeordneten reden können, wie | |
man ein ständiges Feedback etablieren kann. Wir wollen keinen Abgeordneten | |
mehr zuschauen, die alle vier Jahre gewählt werden und dazwischen nur nach | |
Parteikalkül und parlamentarischen Zwängen entscheiden. | |
Das ist das Prinzip des Parlamentarismus. | |
Nerz: Richtig. Es muss aber auch die Möglichkeit geben, Politiker innerhalb | |
einer Legislaturperiode besser mit der Bevölkerung in Kontakt zu bringen. | |
Dazu müssen wir neue Instrumente entwickeln, und das tun wir gerade. Ich | |
glaube, dass Politik nicht in erster Linie die Aufgabe hat, Gesellschaft zu | |
verändern, sondern Gesellschaft zu repräsentieren. Wie die Gesellschaft zu | |
verändern ist, ist eine philosophische oder theologische Frage. Politik | |
muss dies aufgreifen und nach dem Willen der Bevölkerung abbilden. | |
Ernst: Ihr Engagement in Ehren. Aber wichtig ist doch nicht nur, wie etwas | |
zustande kommt, sondern vor allem, was hinten dabei rauskommt. Da hatte | |
Helmut Kohl schon recht. | |
Nerz: Ich sehe das anders. Es gibt eine Mehrheit in der Bevölkerung, die | |
für die Eurorettung ist. Es gibt aber trotzdem keine Akzeptanz der teuren | |
Rettungsmaßnahmen. Warum? Weil sie nicht erklärt werden, nicht zu verstehen | |
sind und dauernd geändert werden. Politiker sind nicht unbeliebt, weil sie | |
unbeliebte Gesetze verabschieden, sondern weil die Gesetze nicht | |
ausreichend begründet werden. | |
Ernst: Ach was. Hungerlöhne werden nicht dadurch besser, dass man sie den | |
Leuten besser erklärt. Beim Mindestlohn wissen wir genau, wie es zustande | |
kommt, dass wir ihn nicht haben: Die SPD hat in der letzten Legislatur | |
dagegen gestimmt, obwohl es im Bundestag eine Mehrheit dafür gegeben hätte. | |
Die Bürger verstehen sehr gut, dass sich nicht ihre Interessen durchsetzen, | |
wenn die Menschen mit 67 Jahren noch arbeiten gehen sollen, obwohl es die | |
Jobs dafür nicht gibt und obwohl von den 64-Jährigen nur noch 10 Prozent | |
Arbeit haben. Auch wenn es um die Regulierung der Banken geht – da hilft | |
kein Reden, da helfen nur Gesetze. | |
Sind die Piraten nur Volksmoderatoren? | |
Nerz: Richtig ist, dass wir noch nicht zu allen Themen ein politisches | |
Programm haben. Das ist aber auch gar nicht nötig. Wir gehen mit unseren | |
offenen Fragen auch offen um. Die Menschen können sich bei uns selbst | |
einbringen. Eine Partei muss klar sagen, in welche Richtung es gehen soll, | |
aber sie muss nicht sofort zu jedem Spezifikum eine Position beziehen. | |
„Fragend schreiten wir voran“, das ist ein Leitspruch der zapatistischen | |
Bewegung in Chiapas, eher ein linkes Projekt. | |
Nerz: Um das mal klarzustellen: Jeder weiß, dass wir uns intensiv mit | |
Netzthemen und Bürgerrechten und daneben mit vielen anderen Fragen | |
beschäftigen. In der Piratenpartei existieren derzeit über 200 politische | |
Arbeitsgruppen, die zu verschiedensten Themen arbeiten. Bei den vergangenen | |
Landtagswahlen gehörten wir immer zu den Parteien mit dem ausführlichsten | |
Bildungsprogramm. | |
Die Piraten sind radikal basisdemokratisch und haben große Nähen zu | |
sozialen Bewegungen. Sind die Piraten die freieren Linken? | |
Nerz: Wir lassen uns nicht im klassischen Rechts-links-Schema verorten. Wir | |
sind aus der Netzgemeinde entstanden. Das ist eine heterogene Gruppe von | |
Menschen, die – anders als es damals bei den Grünen und der | |
Friedensbewegung der Fall war – nicht notwendigerweise an einem | |
inhaltlichen Strang zieht. Aber es gibt viele ähnliche inhaltliche | |
Vorstellungen, die wir derzeit zusammenbringen. | |
Ernst: Ihre Ausgangsfrage ist ja wichtig: Wie haben Menschen die | |
Möglichkeit, die Gesellschaft und die Parteien mit ihren Mitteln zu | |
verändern? Die Piraten bieten da einen richtigen Ansatz, die neuen Medien | |
in den Fokus zu nehmen. Aber sie dürfen nicht auf einem Auge blind sein: | |
Bei den unteren Einkommen haben große Teile der Bevölkerung keinen Zugang | |
zum Internet. | |
Nerz: Richtig, der Zugang zum Netz hängt enorm vom Einkommen, mehr aber | |
noch vom Bildungsstand ab. Deshalb muss der Staat genau das verändern und | |
gerade jenen Menschen Zugang garantieren, die jetzt durch das | |
Hartz-IV-System abgehängt werden. Wenn Sie unsere Forderungen lesen, finden | |
Sie das. Ehrlich gesagt höre ich da von anderen Parteien wenig Antworten. | |
Da können die großen Parteien von uns viel lernen. Wir sagen: Bindet die | |
Leute endlich ein. | |
Herr Ernst, hätte das nicht die Kernaufgabe Ihrer Partei sein müssen? | |
Ernst: Schon recht: Wir brauchen organisierte Formen von Bürgern, die | |
Einfluss nehmen auf alles, was außerparlamentarisch beeinflussbar ist. Dazu | |
gehört aber nicht nur das Netz, sondern auch die außerparlamentarische | |
Opposition auf der Straße. Daneben brauchen Parteien aber zweitens | |
unterscheidbare Grundpositionen. Und drittens brauchen wir | |
Entscheidungsprozesse, die innerhalb der Parteien mehr Mitsprache | |
ermöglichen. Ich will gerne zugeben: Im letzten Punkt haben die Piraten | |
Pionierarbeit geleistet. Aber was ist ihre Antwort auf die soziale Frage? | |
Die Piratenpartei fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen. Laut den | |
„Sozialpiraten“, einer Gruppe in der Partei, soll der Satz bei 440 Euro | |
liegen. Herr Nerz, ist das nicht eine Hartz-IV-Flatrate? | |
Nerz: Zunächst steht es nicht für die ganze Partei, was eine einzelne | |
Gruppe ausarbeitet. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine Forderung | |
aus unserem Grundsatzprogramm. Wir haben aber bewusst gesagt, dass wir die | |
Höhe noch nicht näher beziffern wollen. Selbst wenn wir eine Mehrheit im | |
Bundestag hätten, wäre es sicher keine verfassungsändernde Mehrheit. Daher | |
ist jede Summe, die wir jetzt festschreiben, zum Zeitpunkt, an dem wir | |
etwas ändern können, schon überholt. Über die Höhe eines bedingungslosen | |
Grundeinkommens müsste aus meiner Sicht schlussendlich das Volk | |
entscheiden. | |
Herr Ernst, ist das keine Antwort auf die soziale Frage? | |
Ernst: Klar, aber 440 Euro sind mit Sicherheit die falsche Antwort. | |
Nerz: Selbst ein niedriges Grundeinkommen von 440 Euro pro Person wäre etwa | |
für Familien oder Alleinerziehende bereits eine massive Entlastung. Der | |
große Vorteil des bedingungslosen Grundeinkommens ist, dass Menschen aus | |
der Abhängigkeit der Behörden herauskommen, dass sie vor dem Staat nicht | |
mehr rechenschafts- und residenzpflichtig sind. All die unwürdigen | |
Einschränkungen, die für Hartz-IV-Empfänger gelten, würden wegfallen. | |
Allein das wäre doch bereits ein Riesenschritt. | |
Die Linkspartei hat das bedingungslose Grundeinkommen nicht einmal im | |
Programm. | |
Ernst: Bei uns gibt es keine Mehrheit dafür. Mit guten Gründen. Wer, wie | |
ich zum Beispiel, eigenes Geld verdient, braucht kein bedingungsloses | |
Grundeinkommen. Der Sozialstaat muss denen helfen, die wirklich Hilfe | |
brauchen. 440 Euro Grundeinkommen wäre für die Erwerbslosen eine | |
Verschlechterung. Das ist als Größenordnung für die Existenzsicherung | |
einfach lächerlich. Wir haben eine andere, bessere Antwort darauf, wie wir | |
das Hartz-System überwinden: Mindestlohn, Mindestsicherung und | |
Mindestrente. | |
Herr Ernst, was können Sie von den Piraten lernen? | |
Ernst: Ihr Einsatz für mehr Transparenz ist sicher vorbildlich. Trotzdem | |
müssen sie aufpassen, dass sie nicht zur Politikverdrossenheit beitragen. | |
Es ist eine Illusion, wenn sie als Kernforderung den Bürgern versprechen, | |
dass alle immer überall mitreden können. Am Ende entscheidet in einer | |
repräsentativen Demokratie der Politiker unter der Kuppel im Bundestag. Ich | |
sage noch mal, sie müssen da inhaltlich ran. Bald werden sie sich breit | |
positionieren müssen. Und dann: Viel Spaß! | |
5 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
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