# taz.de -- Betreuungsgeld in Skandinavien: Die Sache mit der Wahlfreiheit | |
> In den skandinavischen Ländern gibt es das Betreuungsgeld längst. Auch, | |
> wenn es als kontraproduktiv bewertet wird, wird es in Anspruch genommen – | |
> oft notgedrungen. | |
Bild: Lieber zu Hause betreuen oder doch in die Kita? | |
BERLIN taz | Über 90 Prozent von ihnen sind Frauen. Viele der | |
Betreuungsgeld-BezieherInnen haben einen Migrationshintergrund, viele | |
Kinder, geringe Bildung und ein niedriges Einkommen. All das „vererben“ die | |
Mütter an ihre Kinder: Ihre Töchter und Söhne, die länger zu Hause betreut | |
werden, haben einen Bildungsnachteil gegenüber Kindern, die den Tag in | |
staatlichen Einrichtungen verbringen. | |
Das sind, grob zusammengefasst, die Folgen des Betreuungsgeldes in | |
Finnland. Eine von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Auftrag | |
gegebene Studie hat sie untersucht. Die der taz vorliegende Expertise, die | |
an diesem Mittwoch veröffentlicht wird, richtet den Blick auch nach | |
Schweden und Norwegen. In Finnland wurde das Betreuungsgeld schon 1985 | |
eingeführt. Auch in Norwegen, Schweden, Dänemark und Island gibt es diese | |
staatliche Leistung für Eltern, die ihre kleinen Kinder nicht in eine Kita | |
bringen. | |
Die skandinavischen Länder gelten als bildungs- und familienpolitische | |
Vorreiter. Aber das Betreuungsgeld, das zumindest in Finnland Mitte der | |
achtziger Jahre als zeitgemäß galt, wird heute in Skandinavien vielfach als | |
kontraproduktiv bewertet. Ähnlich wie derzeit in Deutschland drängten in | |
den drei untersuchten Ländern konservative und christdemokratische Parteien | |
darauf, das Betreuungsgeld mit dem Argument einzuführen, es sorge für | |
Wahlfreiheit. | |
Das mit der Wahlfreiheit ist allerdings so eine Sache. In Finnland greifen | |
Eltern notgedrungen zum „Kotihoidontuki“, weil sie keinen Kita-Platz und | |
Mütter oft keinen Job haben. Nur 30 Prozent der finnischen Einjährigen | |
werden in einer Kita angemeldet. Unabhängig davon jedoch ist der Zuspruch | |
zum Betreuungsgeld bis heute generell hoch. Nicht zuletzt, weil es diese | |
Art Verlängerung der Elternzeit schon so lange gibt und sie das | |
Haushaltseinkommen aufbessert. Das sorgt für einen weiteren Effekt: Fast | |
jedes dritte finnische Kind zwischen drei und fünf Jahren geht nicht in | |
eine Kita. | |
## Kitas ausgebaut | |
Anders sieht es in Schweden aus. Dort wurde das „Vårdnadsbidrag“ erst 2008 | |
eingeführt. Zu jener Zeit wirkten zahlreiche sozial- und familienpolitische | |
Maßnahmen positiv auf die Geschlechtergerechtigkeit: 80 Prozent der Frauen | |
zwischen 20 und 64 Jahren sind erwerbstätig, sie verdienen fast so viel wie | |
Männer, Mütter und Väter teilen sich die Elternzeit, Kitas für Vier- und | |
Fünfjährige sind kostenlos. 2011 haben nicht einmal 5 Prozent der | |
Berechtigten Betreuungsgeld bezogen, Einwanderer waren überrepräsentiert. | |
Als 1998 in Norwegen das „Konstatstøtte“ eingeführt wurde, war der Zuspru… | |
zunächst sehr hoch. 1999 erhielten drei Viertel aller Eltern für ihre | |
Kinder die staatliche Subvention. Im vergangenen Jahr war es nur noch ein | |
Viertel. Grund: Kitas wurden massiv ausgebaut, vor allem für unter | |
Dreijährige, die Gebühren gesenkt. Ein norwegisches Phänomen: Viele Eltern | |
beantragen das Betreuungsgeld als Überbrückungsleistung, während sie auf | |
einen Kita-Platz warten. In dem Land werden Kinder nur einmal im Jahr – im | |
Herbst – in die Kita aufgenommen. So erhalten zwei von fünf Familien für | |
zehn und weniger Monate das Betreuungsgeld. | |
„Die skandinavischen Erfahrungen sind zum Teil problematisch und durchaus | |
mit den Befürchtungen in Deutschland vergleichbar“, sagt Christina | |
Schildmann, FES-Referentin für Familien und Gleichstellungspolitik. Die | |
Stiftung steht dem Betreuungsgeld kritisch gegenüber. | |
So sei das finnische Modell ein Beleg dafür, dass das Betreuungsgeld als | |
„Kompensation für fehlende Kita-Plätze gehandelt“ werden könne. „Das w… | |
für Deutschland der komplett falsche Ansatz.“ Auch in der norwegischen | |
„Überbrückungsvariante“ sieht Schildmann einen falschen Anreiz: „Ich ha… | |
nichts von Provisorien. Sind die einmal installiert, werden daraus rasch | |
feste Leistungen.“ | |
18 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nach dem Zusammenbruch in Island: Der demokratische Weg als Rettung | |
Im Herbst 2008 kollabierten die Banken in Island. Jetzt hat sich das Land | |
wieder erholt. Die Krone ist stabil, das Wirtschaftswachstum von 3 Prozent | |
liegt über dem der Eurozone. | |
Geplantes Betreuungsgeld: Keine Herdprämie für arme Eltern | |
Die schwarz-gelbe Koalition will Hartz-IV-Bezieher vom geplanten | |
Betreuungsgeld ausschließen. Die 150 Euro sollen von den Bezügen abgezogen | |
werden. Die SPD findet die Idee „absurd“. | |
Union streitet um das Betreuungsgeld: Mehr Rente für ein Ja zur Herdprämie | |
Die CDU will den Streit ums Betreuungsgeld befrieden und einigen Eltern 50 | |
Euro mehr Rente zahlen. Damit sollen Kritiker in der Partei umgestimmt | |
werden. | |
Zoff ums Betreuungsgeld: SPD droht mit Verfassungsklage | |
Sobald der Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld vorliegt, will die SPD | |
möglicherweise in Karlsruhe dagegen klagen. CSU-Chef Horst Seehofer sieht | |
wegen des Themas gar die Koalition gefährdet. | |
Kommentar Betreuungsgeld: Vorsätzlich unmoderne Herdprämie | |
In Schweden ist niemand mehr für ein Betreuungsgeld. Da wirkt es seltsam, | |
dass die Bayern diesen Fehler so unbedingt wiederholen wollen. | |
Kommentar Betreuungsgeld: Dem Regierungschaos sei Dank | |
Die „Herdprämie“ könnte sich bald erledigt haben. Das wäre großartig. A… | |
der Kulturkampf um ein Familienleitbild in Deutschland wird trotzdem | |
weitergehen. | |
Streit um die „Herdprämie“: Die Union ist betreuungsbedürftig | |
Der Streit über die Subvention für daheim erziehende Eltern wird heftiger. | |
CDU-Wirtschaftspolitiker sind gegen das Betreuungsgeld, die CSU will es | |
unbedingt durchsetzen. | |
Christine Lieberknecht über Familienpolitik: „Das hat etwas von einem Kultur… | |
Viele CDU-Politiker wollen kein Betreuungsgeld für Eltern. Doch Thüringens | |
Ministerpräsidentin Lieberknecht ist dafür: Die Debatte hält sie für | |
emotional und überhitzt. |