| # taz.de -- Thessalonikis Bürgermeister wagt Neues: „Das Schlimmste kommt no… | |
| > Thessaloniki braucht Geld. Bürgermeister Yiannis Boutaris im Gespräch | |
| > über korrupte Politiker, Tabubrüche im Tourismus und die Kraft großer | |
| > Lügen. | |
| Bild: Und es wird noch schlimmer: Thessaloniki. | |
| taz: Herr Boutaris, Sie gelten als einer der wenigen Reformer in | |
| Griechenland. Denn Sie gehören keiner der großen Parteien an. Trotzdem | |
| wurden Sie vor einem Jahr zum Bürgermeister von Thessaloniki gewählt. | |
| Yiannis Boutaris: Aber es war knapp. Ich hatte nur 350 Stimmen Vorsprung. | |
| Eigentlich sind Sie Winzer, inzwischen 71 Jahre alt. Warum wird man dann | |
| noch Bürgermeister? | |
| Im Jahre 2002 habe ich das Weingut an meine Kinder übergeben. Es war die | |
| Idee meiner verstorbenen Frau, dass ich in die Politik gehen sollte. Denn | |
| ich habe mich immer ehrenamtlich engagiert. Zum Beispiel habe ich einen | |
| Umweltschutzverband gegründet und mich für den Erhalt der Altstadt von | |
| Thessaloniki eingesetzt. | |
| Ihr Weingut ist in ganz Griechenland bekannt. Hat das geholfen? | |
| In der griechischen Politik hilft es immer, reich zu sein. | |
| Was wollen Sie anders machen? | |
| Mein Vorgänger hat zugelassen, dass 51,4 Millionen Euro veruntreut wurden, | |
| die einfach aus der Stadtkasse verschwunden sind. Aber das wird nun | |
| juristisch aufgeklärt. | |
| Ihr Vorgänger gehörte der konservativen Nea Dimokratia an. Genau wie die | |
| sozialistische Pasok neigte sie dazu, Gefolgsleute mit Posten zu belohnen, | |
| den Staatsdienst aufzublähen. Was bedeutete das für Thessaloniki? | |
| Das Rathaus beschäftigt ungefähr 5.000 Leute. Davon bräuchte ich aber | |
| höchstens 3.000. Allein in der Müllabfuhr sind bereits 1.500 Menschen | |
| tätig. | |
| Dabei gab es bei Ihrem Amtsantritt weniger als 20 funktionstüchtige | |
| Müllfahrzeuge. Das macht umgerechnet 75 Angestellte pro Wagen. | |
| So können Sie das nicht rechnen. Manche Angestellte fegen auch die Straßen | |
| oder reparieren die Fahrzeuge. Aber es ist wahr, dass man die Müllabfuhr | |
| dringend reformieren muss. | |
| Heißt das Entlassungen? | |
| Nein. Jetzt wäre das zu grausam. Wir haben eine Arbeitslosigkeit von rund | |
| 25 Prozent in Thessaloniki. | |
| Aber die Kassen sind leer. Der Staat hat die Zuschüsse für griechische | |
| Gemeinden um 55 Prozent gekürzt. | |
| Statt Leute zu entlassen, kürzen wir die Löhne. Sie sind schon um 20 bis 30 | |
| Prozent gesunken. Und im Juni, nach den Parlamentswahlen, wird es noch | |
| einmal eine landesweite Kürzung geben. Der Mindestlohn wird dann so niedrig | |
| liegen wie in Portugal, bei 585 Euro im Monat. Auch bezahlen wir die | |
| fiktiven Überstunden nicht mehr, die Angestellte früher einfach | |
| aufgeschrieben haben, ohne sie zu leisten. Wir sind jetzt die erste | |
| griechische Gemeinde, die eine moderne Buchführung hat und ihre Ausgaben | |
| kontrolliert. | |
| Sinkende Löhne, steigende Arbeitslosigkeit: Wie viele Familien in | |
| Thessaloniki sind schon so arm, dass sie allein nicht mehr überleben | |
| können? | |
| Zurzeit müssen wir nur etwa 300 Familien regelmäßig mit Nahrungsmitteln und | |
| Kleidung unterstützen. Weitere 50 Hilfspakete gehen regelmäßig an | |
| Migranten. Aber es gehört zu den Problemen unseres Sozialsystems, das wir | |
| gar nicht die richtigen Statistiken haben. Jeder Monat ist anders. Nur so | |
| viel wissen wir: Das Schlimmste wird noch kommen. | |
| Traditionell ist Thessaloniki eine Industriestadt. Doch die Firmen wandern | |
| nach Bulgarien ab. | |
| Ja, aber dieser Trend ist nicht neu, er hat schon vor 20 Jahren begonnen, | |
| weil dort die Löhne niedriger sind. Ein Unternehmer hat kein Vaterland, | |
| seine einzige Heimat ist der Profit. | |
| Und wie soll Thessaloniki wieder aus der Krise herauskommen? | |
| Sehr wichtig ist der Tourismus. Allerdings ist Thessaloniki eine Stadt, die | |
| keiner kennt. Daher werben wir vor allem um die Türken und die Israelis. | |
| Bis 1912 gehörte Thessaloniki zum Osmanischen Reich. Türken, Griechen und | |
| Juden haben hier 500 Jahre lang friedlich zusammengelebt. Kemal Atatürk | |
| wurde in Thessaloniki geboren. Diese Tatsache wollen wir keineswegs | |
| verstecken, sondern in der Türkei promoten. | |
| Was halten die Menschen in Thessaloniki davon? | |
| Es war ein Tabu, um Türken und Israelis zu werben. Die Türkei gilt immer | |
| noch als ein verfeindeter Staat, und die Vernichtung der Juden wurde lange | |
| verdrängt. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Thessaloniki 50.000 Juden, | |
| das waren damals fast die Hälfte aller Einwohner. Nur 1.500 dieser Juden | |
| sind dem Holocaust entkommen, doch niemand hat sich je um sie gekümmert. | |
| Jetzt leben nur noch 29. Die haben wir nun geehrt. Ich bin da durchaus | |
| zynisch: Wir wollen, dass die Juden auf der ganzen Welt auf Thessaloniki | |
| aufmerksam werden. | |
| Wie haben Ihre Zielgruppen in der Türkei und in Israel reagiert? | |
| 2011 sind 70.000 jüdische Besucher gekommen. Viermal mehr als früher. | |
| Gleichzeitig waren 50.000 Türken hier. Sonst kamen maximal 10.000. | |
| Das wird aber nicht reichen, um eine Stadt wie Thessaloniki zu finanzieren, | |
| die über 300.000 Einwohner hat. | |
| Wir bemühen uns auch um EU-Hilfen. Allein 2011 haben wir Anträge für 25 | |
| Programme eingereicht, die einen Wert von insgesamt 40 Millionen Euro | |
| haben. Dazu gehört unter anderem auch eine neue Flotte von Müllfahrzeugen, | |
| die dem neuesten ökologischen Standard entsprechen. Zudem haben wir | |
| erreicht, dass wir 2014 die europäische Jugendhauptstadt sind. Außerdem | |
| sind wir für 2014 noch im Rennen um den Titel der Umwelthauptstadt Europas | |
| Wenn man sich umhört, dann sind viele Wähler enttäuscht von Ihnen. | |
| Es ist nicht einfach. Niemand traut dem griechischen Staat, niemand traut | |
| den Politikern. Jeder hält jeden für korrupt. Wir versuchen den Leuten zu | |
| sagen, dass wir etwas Neues beginnen wollen. Aber sie glauben es nicht. | |
| Am 6. Mai wird in Griechenland gewählt. Was ist Ihre Prognose? | |
| Die Wahlen werden nur den Egoismus des konservativen Parteiführers Antonis | |
| Samaras befriedigen. Aber er wird keine stabile Regierung mehr bilden | |
| können. In den nächsten sechs Monaten kommt es dann zu neuen Wahlen. | |
| Legen die rechten Parteien zu? | |
| Das ist wahrscheinlich. In einer so großen Krise glauben die Menschen nur | |
| noch große Lügen, keine kleinen. | |
| 5 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| U. Herrmann | |
| I. Pohl | |
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