# taz.de -- US-Rüstungsexperte Seay über Atomwaffen: „Politisch eine schlec… | |
> Der Rüstungsexperte Edward Seay erklärt den geringen militärischen Nutzen | |
> der in Europa stationierten US-Atomwaffen. Und sagt, warum sie trotzdem | |
> nicht abgezogen werden. | |
Bild: Die Ramstein Air Base in der Pfalz. Hier lagern Atomwaffen. Noch. | |
taz: Herr Seay, rund 180 taktische Atomwaffen der USA sind in fünf | |
europäischen NATO-Ländern stationiert: In Deutschland, Belgien, Italien, | |
den Niederlanden und der Türkei. Warum noch immer? | |
Ted Seay: Sie sind ein Überbleibsel des Kalten Krieges. Ihre Präsenz in | |
Europa hat mehr mit Schwerfälligkeit als mit militärischem Nutzen zu tun. | |
Die Nato ist durch ihr Wachstum eine enorm konservative Institution | |
geworden. Es war schon schwer, einen Konsens zu finden, als sie acht, zwölf | |
und sechzehn Mitglieder hatte. Aber jetzt müssten sich alle 28 Alliierten | |
auf einen Abzug einigen. | |
Die Länder, auf deren Territorium die Waffen stationiert sind, wollen sie | |
loswerden. | |
Das zeigen Meinungsumfragen aus allen fünf Ländern, wo sie stationiert | |
sind. Deutschland hat das aktenkundig gemacht. Es sieht so aus, als ob die | |
Niederlande demnächst folgen könnten. Und wenn Belgien eine Regierung | |
hätte, wäre deren Position wahrscheinlich sehr ähnlich. Nach meinem | |
Eindruck sind diese Waffen auch in Italien und der Türkei nicht besonders | |
populär. | |
In der Nato heißt es, die taktischen Atomwaffen seien antiquiert und | |
militärisch überholt. Stimmt das? | |
Gegenwärtig sind das Abwurfbomben, die von relativ kleinen Kampf-Flugzeugen | |
zum Ziel getragen werden. Aber niemand glaubt ernsthaft, dass es | |
militärisch ein guter Weg wäre, eine Atombombe mit einem Tornado oder einer | |
F-16 zu befördern. Denn jedes potenzielle Angriffsziel hat eine | |
Luftverteidigung. Wenn Sie sicher gehen wollen, dass die Bombe überhaupt | |
bis zum Angriffsziel kommt, müssen Sie vorher die Luftverteidigung mit | |
konventioneller Luftwaffe zerstören. Das bedeutet: es ist ein | |
konventioneller Krieg nötig, bevor es möglich ist, eine Atombombe | |
abzuwerfen. | |
Sie haben von einer neuen Eskalation bei den taktischen Atomwaffen | |
gesprochen. Worin besteht die? | |
Die USA wollen die Abwurfbomben sicherer und schwerer erkennbar machen und | |
gleichzeitig eine Präzisionsführung installieren. Außerdem sollen die alten | |
Tornados und F-16-Flugzeuge in den nächsten Jahren ersetzt werden. Als | |
einziges Ersatz-Flugzeug ist dafür die F-35 im Gespräch. Die F-35 ist ein | |
Tarnkappenbomber. Sie hat eine Chance, unentdeckt durch eine feindliche | |
Luftverteidigung zu fliegen. | |
Soll die Modernisierung den Abzug der taktischen Atomwaffen aus Europa | |
verhindern? | |
So sagt das niemand. Aber das Problem ist, dass die Atomwaffen der Nato | |
sowohl politisch als auch militärisch eine schlechte Idee sind. Mit der | |
Modernisierung verändert sich die Situation insofern, als es möglich wird, | |
den militärischen Einsatz dieser Waffen zumindest zu erwägen. Aber | |
politisch bleiben sie eine schlechte Idee. Es gibt so viele andere | |
Möglichkeiten, mit einer Krise umzugehen, als eine Atombombe in ein | |
Nato-Flugzeug zu laden und zu einem Ziel zu fliegen. | |
Die Vertreter eines Verbleibs der taktischen US-Atombomben in Europa sagen, | |
sie könnten nützlich sein, um mit Russland zu verhandeln. | |
In der Kategorie, in der sich die 180 taktischen Atomwaffen der Nato | |
befinden, hat Russland ungefähr 2.000 Waffen – Kurzstreckenraketen, | |
Abwurfbomben oder andere sogenannte Nicht-strategische Atomwaffen. Das ist | |
ein riesiges Ungleichgewicht. Wie würden wir die Russische Föderation dazu | |
kriegen, zu sagen: wir schaffen 10 oder 20 für jede einzelne von euren ab? | |
Ist vom Nato-Gipfel in Chicago irgendeine Veränderung in Sachen taktische | |
Atomwaffen zu erwarten? | |
Nein. Es gibt bloß die Möglichkeit, dass die Allianz die Politik im Umgang | |
mit diesen Waffen etwas transparenter macht. Aber sämtliche Gelegenheiten, | |
die Zahl der Waffen oder die Zahl der Länder, wo sie stationiert sind, zu | |
reduzieren, sind verpasst. Wir haben eine Blockade in der Allianz. Da ist | |
erst ein Ereignis nötig, um eine Veränderung zu erzwingen. | |
Könnte die Ankunft des neuen französischen Präsidenten ein solches | |
veränderndes Ereignis sein? | |
Danach sieht es nicht aus. Die Nato-Atomwaffen haben zwar direkt nichts mit | |
der unabhängigen Force de Frappe, der französischen Atomstreitmacht, zu | |
tun. Frankreich sitzt nicht einmal in den Nato-Gremien, in denen die USA | |
und die fünf Stationierungsländer entscheiden. Aber das hindert Frankreich | |
nicht daran, jede Nato-Debatte über eine Reduzierung der taktischen | |
Atomwaffen der USA in Europa zu verhindern. | |
Warum blockieren die Franzosen? | |
Sie befürchten, dass es ein getarnter Versuch ist, auch sie zu einer | |
Reduzierung oder Abschaffung ihrer Atomwaffen zu bringen. | |
Gibt es bilaterale Möglichkeiten, die Atombomben loszuwerden? | |
Ja. Natürlich. | |
Was müsste die Bundesregierung tun? | |
Der Prozess ist sehr einfach. Wenn die deutsche Regierung diese Waffen | |
nicht länger beherbergen will, muss sie eine diplomatische Erklärung an die | |
US-Regierung schicken. Die US-Regierung hat zwar gesagt, erklärt, dass sie | |
diese Waffen nur abziehen wird, wenn Konsens rund um Nato-Tisch herrscht. | |
Aber gegenüber einer solchen Entscheidung in Berlin wäre sie machtlos. Die | |
Bomben-Stationierung basiert auf bilateralen Abmachungen zwischen den USA | |
und den fünf europäischen Alliierten. | |
Geht die Mitbenutzung – das „Sharing“ – der taktischen Atomwaffen für … | |
Krisenfall konform mit dem Atomwaffensperrvertrag (NPT)? | |
Rechtlich stehen die taktischen Atomwaffen unter US-Kontrolle. Aber das | |
gilt nur so lange bis sie nicht mehr unter US-Kontrolle sind. Wenn es | |
nämlich zu einer Krise kommt. In dem Fall übergeben wir sie den fünf | |
Alliierten, auf deren Boden sie stationiert sind. Wäre die sowjetische | |
Armee im Kalten Krieg westwärts marschiert, hätten wir einige oder alle | |
Bomben der italienischen, niederländischen, belgischen, türkischen und | |
deutschen Luftwaffe übergeben, um sie zu stoppen. An dem Punkt hätten wir | |
den NPT verletzt. Aber dann hätten wir gesagt: Okay. Es ist Krieg. Und es | |
ist egal. | |
Das ist Vorgeschichte. Wer ist im Jahr 2012 der Feind? | |
Es fällt mir sehr schwer, diese Frage zu beantworten. Der Feind ist ganz | |
gewiss nicht die russische Föderation. Ganz gewiss planen wir auch nicht, | |
diese Waffen außerhalb Europas, etwa gegen den Iran, einzusetzen. Es gibt | |
kein Szenario, in dem diese Waffen militärisch glaubwürdig und nützlich | |
eingesetzt werden könnten. Das sind politische Waffen. Sie beruhigen | |
bestimmte Alliierte, dass wir es mit Artikel fünf – die gegenseitigen | |
Verteidigung - ernst meinen. | |
Wie wirkt sich diese Modernisierung des Arsenals aus, wenn die USA | |
versucht, anderswo eine nukleare Proliferation zu verhindern? | |
Es untergräbt unsere moralische Autorität in dieser ganzen Frage. | |
20 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
## TAGS | |
Friedensbewegung | |
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