| # taz.de -- Rebellion der Tuareg: „Wir wollen unseren eigenen Staat“ | |
| > Der Staat Azawad, den Rebellen in Mali ausgerufen haben, begeistert | |
| > geflohene Tuareg in Burkina Faso. Nicht aber die Nachbarn. Ein Besuch bei | |
| > Tuareg-Flüchtlingen. | |
| Bild: Kämpfer der Nationalen Bewegung zur Befreiung Azawads. | |
| FERREIRO, BURKINA FASO taz | Mohamed Ag Altegal dit Samba hört es nicht | |
| gern, wenn man über den Norden Malis spricht. „Der Norden Malis? Azawad | |
| heißt unser Staat“, sagt der hagere Mann mit dem grauen Bart nachdrücklich | |
| und streckt seinen Rücken. Gesehen hat er Azawad noch nicht: Der Staat | |
| wurde am 6. April von Malis Tuareg-Rebellenarmee Nationale Bewegung zur | |
| Befreiung Azawads (MNLA) ausgerufen. Mohamed lebt seit Ende Januar im | |
| Nachbarland Burkina Faso, wohin sich laut UNO mittlerweile gut 61.000 | |
| Malier geflüchtet haben. | |
| Im Flüchtlingscamp von Ferrerio hat sich Mohamed Ag Altegal dit Samba mit | |
| seiner Familie eingerichtet. Chef des Camps ist er – und somit | |
| privilegiert. Anders als die übrigen Flüchtlinge lebt er nicht in einem der | |
| so typischen Tuareg-Zelte, sondern hat ein kleines Haus zugeteilt bekommen. | |
| In der Regenzeit, die unmittelbar bevorsteht, wird es ihm ein wertvoller | |
| Schutz sein. | |
| Ganz gleich, ob Mitarbeiter einer Hilfsorganisation oder geflohener Tuareg: | |
| Jeder, der neu in Ferrerio ist, muss das kleine Haus von Mohamed Ag Altegal | |
| dit Samba betreten und sich bei ihm vorstellen. Er will wissen, wer gerade | |
| im Camp ist. Deshalb ist das kleine Haus brechend voll. | |
| In zwei Zimmern sind auf dem Boden Matratzen ausgelegt, Männer quetschen | |
| sich darauf. Lautstark diskutieren sie auf Tamashek, der Sprache der | |
| Tuareg. Eines, da ist Mohamed Ag Altegal dit Samba sich sicher, würde die | |
| Menschen hier vereinen: „Wir alle wollen Azawad, unseren eigenen Staat.“ | |
| ## Flucht aus Timbuktu | |
| Für diesen Tuareg-Staat will er auch von Burkina Faso aus kämpfen. Mohamed | |
| Ag Altegal dit Samba stammt aus Timbuktu, jener, wie er schwärmt, | |
| historischen Stadt, die so reich an Traditionen ist. Dass die MNLA am 6. | |
| April Azawad ausrufen würde, konnte er ja nicht erahnen, als er Ende Januar | |
| ins Nachbarland aufbrach. Damals kämpften die malischen Regierungstruppen | |
| noch gegen die MNLA. Wie der Kampf ausgehen würde, war völlig offen. Aber | |
| das Klima für Tuareg wurde immer ungemütlicher. Deshalb packte Mohamed Ag | |
| Altegal dit Samba Hab und Gut zusammen, nahm Familie und Vieh und floh. | |
| Sieben Wochen später überschlugen sich die Ereignisse: Am 22. März rief | |
| eine Gruppe von Soldaten in Malis Hauptstadt Bamako einen Staatsstreich aus | |
| und versprach gleichzeitig, sie wolle den Krieg im Norden beenden. Für | |
| kurze Zeit gab es ein wenig Hoffnung, eine einvernehmliche Lösung zu | |
| finden. Dann kam die Sezessionserklärung der Rebellen. In Malis Hauptstadt | |
| kam Empörung auf, die Einheit des Landes stand auf dem Spiel. | |
| Jetzt zuckt Mohamed Ag Altegal dit Samba mit den Schultern. Wie seine | |
| Lösung aussieht, nämlich die Anerkennung des unabhängigen Tuareg-Staates, | |
| das weiß er zwar, gleichzeitig aber auch, dass das international nicht | |
| akzeptiert wird. | |
| Der Lagerchef hat sich auf eine der Matratzen gesetzt und schüttelt mehrere | |
| Hände. Dann wiederholt er das Gesagte noch einmal auf Tamashek, und die | |
| Männer um ihn herum nicken zustimmend. Neben ihm wird Mahmud Ag Abdulahi | |
| laut. „Ein eigener Staat ist unser Recht“, ruft er und fängt an, sich in | |
| Rage zu reden. Er schimpft über die Regierung in Bamako und vor allem | |
| darüber, dass niemand Azawad anerkennen will. Der Mann, der neben ihm | |
| sitzt, sagt ihm, er soll erst einmal den Chef ausreden lassen. | |
| ## Immer wieder gab es Massaker | |
| Dessen Augen fangen an zu leuchten. So nah wie jetzt seien die Tuareg noch | |
| nie an ihrem eigenen Staat gewesen. Dabei habe man immer wieder dafür | |
| gekämpft. Doch beide Rebellionen ab den Jahren 1990 und 2006 scheiterten an | |
| der damals viel zu mächtigen Regierungsarmee. | |
| Er zählt auf, was den Tuareg während der beiden Rebellionen, aber auch in | |
| den Jahrzehnten zuvor widerfahren ist. Massaker gegen sie habe es immer | |
| wieder gegeben. Die Regierung im fernen Bamako hat sie nie ernst genommen. | |
| „Wir sind so müde gewesen. All das hat uns geschwächt.“ Endlich habe sich | |
| das umgekehrt. | |
| Was Mohamed Ag Altegal dit Samba verschweigt: Es gibt keine einzige Zahl, | |
| die belegt, dass die Mehrheit der Tuareg Malis tatsächlich ihren eigenen | |
| Staat will. Niemand hat die knapp 1,5 Millionen Menschen, die in der Region | |
| leben, je befragt. „Bis es so weit ist, könnte ich mir vorstellen, ein | |
| Referendum zu machen“, gibt er dann zähneknirschend zu und ist gleichzeitig | |
| sicher: „Das gewinnen wir natürlich.“ Unterstützung für das große Ziel | |
| würden die Tuareg sogar von anderen ethnischen Gruppen erhalten, da ist er | |
| sicher. | |
| Die sind in den vergangenen Monaten jedoch völlig in Vergessenheit geraten. | |
| Der Norden Malis wird oft einfach als Land der Tuareg bezeichnet. Dabei | |
| leben beispielsweise entlang des Flusses Niger seit Jahrhunderten die | |
| Songhai. Weitere ethnische Gruppen bezeichnen die Region ebenso als ihre | |
| Heimat. Dass sie ebenfalls einen eigenen Staat wollten, ist nie bekannt | |
| geworden. Die Tuareg wiederum leben nicht nur in Mali, sondern auch in | |
| Niger sowie in Teilen Algeriens und auch in Burkina Faso. | |
| Kultur, Traditionen, Sprache und die Fähigkeit, in der Wüste zu überleben – | |
| das verbinde natürlich die Malier und die Burkiner, sagt Ahaya Ag Erless. | |
| Er gehört zu Burkina Fasos einheimischen Tuareg, ist gut 40 Kilometer | |
| südlich von Ferrerio groß geworden. Seine Eltern leben heute noch in einem | |
| kleinen Dorf, das auf keiner Landkarte zu finden ist. Ahaya Ag Erless | |
| selbst ist nach Gorom-Gorom gegangen, die letzte Stadt vor der Grenze nach | |
| Niger und Mali. Nördlich von Gorom-Gorom gibt es nur noch Piste und viel | |
| Sand. | |
| ## Ahaya Ag Erless ist zufrieden | |
| Gorom-Gorom hat einen Markt, kleine Läden, eine Post und sogar eine | |
| Handvoll Hotels. Am Stadtrand hat Ahaya Ag Erless ein kleines Haus mit zwei | |
| Zimmern gebaut, in dem der 46-Jährige mit seiner Familie lebt. Die jüngste | |
| Tochter, er zeigt stolz auf das kleine Mädchen, fängt gerade an zu laufen. | |
| Vor der Haustür scharren Hühner im Sand. Ein paar schwarz-weiß gescheckte | |
| Ziegen suchen den Boden nach Essbarem ab. Eine Katze schläft im Schatten. | |
| Ahaya Ag Erless ist zufrieden mit dem Leben, das er hier führen kann. Sein | |
| fester Job als Nachtwächter hilft ihm dabei. Reich würde er damit nicht. | |
| „Aber ich habe ein geregeltes Einkommen für meine Familie.“ | |
| Dass er Tuareg ist, verrät Ahaya Ag Erless nur auf Nachfrage. Er würde zwar | |
| mit seiner Frau und den Kindern, seinen Freunden und Verwandten Tamashek | |
| sprechen, sich in der Wüste zu Hause fühlen, die Gegend, in der er groß | |
| geworden ist, heute noch genauso gut kennen wie früher. Ständig darüber | |
| reden und alle Welt wissen lassen, dass er Tuareg sei, möchte er aber | |
| nicht. „Ich bin ja auch Burkiner.“ | |
| Nur einmal sagt er „wir“, als er über die Tuareg in Burkina Faso spricht. | |
| „Wir sind da anders.“ Die Tuareg aus Mali würden ja unbedingt ihren eigenen | |
| Staat wollen. Ihm hingegen sei diese Idee völlig fremd. | |
| „Hat sich mal irgendjemand überhaupt darüber Gedanken gemacht, wie sich | |
| dieser Staat finanzieren soll?“, fragt Ahaya Ag Erless und zuckt mit den | |
| Schultern. Entlang des Niger-Flusses sei es zwar möglich, Landwirtschaft zu | |
| betreiben. „Aber das reicht doch alles nicht. Wenn man solche Forderungen | |
| hat, muss man doch auch überlegen, ob sie sich praktisch umsetzen lassen.“ | |
| Ahaya Ag Erless war nie in Mali. Auch Flüchtlinge aus dem Nachbarland, von | |
| denen ein paar auch in Gorom-Gorom untergekommen sein sollen, hat er nicht | |
| getroffen. Ahaya Ag Erless hat offensichtlich wenig Mitleid mit ihnen. | |
| „Seien wir doch mal ehrlich: Die Malier sind mit ihrer Forderung schon ein | |
| bisschen verrückt.“ | |
| ## „Ich bin Ex-Malier“ | |
| Malier! Wenn Mossa Ag Inzoma das gehört hätte. Er ist zu Besuch bei den | |
| Tuareg-Flüchtlingen in Ferrerio und stellt sich vor. „Ich bin Ex-Malier“, | |
| sagt er. „Jetzt bin ich Azawadier.“ Das Wort geht ihm leicht über die | |
| Lippen. Mossa Ag Inzoma sitzt in der Mitte eines Tuareg-Zeltes und raucht | |
| Marlboro Light. 20 Männer etwa haben sich um ihn geschart. Er ist ein | |
| seltener Gast, der hier seine Familie besucht. Man bringt ihm fast ein | |
| bisschen Ehrfurcht entgegen, lebt er doch in Gossi, also in Azawad. Gossi | |
| liegt zwei Stunden von Gao entfernt, der größten Stadt der Region. | |
| „Die Lage ist einigermaßen ruhig und beruhigt sich weiter, seitdem die MNLA | |
| das Gebiet übernommen hat“, erzählt er. Offensichtlich will er versuchen, | |
| den einen oder anderen Flüchtling zur Rückkehr zu bewegen. Andere Menschen, | |
| die im Norden festsitzen, bewerten die Situation anders. Die | |
| Versorgungssituation sei prekär, das Gefühl von Unsicherheit groß. | |
| Dass die MNLA irgendetwas damit zu tun habe, weist Mossa Ag Inzoma weit von | |
| sich. „Viele Flüchtlinge wollen deshalb nicht zurück, weil sie noch immer | |
| an die Regierungstruppen denken. Als diese die MNLA bekämpften, haben sie | |
| keinen Unterschied gemacht, ob jemand bewaffnet ist oder nicht.“ Er | |
| zeichnet ein düsteres Bild der Zeit, bevor die MNLA den Norden eroberte. | |
| Auf seine MNLA will er nichts kommen lassen. Denn sie kämpft für die | |
| Tuareg, also für die gute Sache. | |
| Für den Neu-Azawadier heißt das: „Wir bilden unseren eigenen Tuareg-Staat.�… | |
| Im Zelt ist es still. Die Männer, die um ihn herum sitzen, lauschen | |
| andächtig. Als er über den Sudan spricht, nicken zwei zustimmend. Die | |
| Teilung des einstmals größten afrikanischen Flächenstaates im vergangenen | |
| Jahr, als Südsudan unabhängig wurde, gilt als großes Vorbild. Es brauchte | |
| dafür 20 Jahre Bürgerkrieg, sechs Jahre Übergangszeit und ein kompliziertes | |
| Referendum. | |
| International gibt es keine Bereitschaft, dieses Modell auf Azawad zu | |
| übertragen. Das versteht Mossa Ag Inzoma nicht. Er verspricht: „Wenn es | |
| sein muss, dann kämpfen wir weiter für Azawad – für unser Azawad. Es ist | |
| unser Staat.“ | |
| 25 May 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Gänsler | |
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