# taz.de -- Waffenkontrolle in den USA: Es kann jeden treffen | |
> Colin Goddard überlebte einen Amoklauf. Seine eigene Geschichte machte | |
> ihn zum Gegner von Schusswaffen. Heute ist er Aktivist – mit gemäßigten | |
> Forderungen. | |
Bild: Fünf Jahre nach dem Amoklauf: Mahnwache in Blacksburg am 16. April 2012. | |
Colin Goddard könnte Soldat sein. Er hat den durchtrainierten Körper. Die | |
wie aus der Zeit gefallene Ritterlichkeit. Die aufrechte Haltung. Den | |
kantigen Haarschnitt. Und die Tätigkeit: Er kämpft von Berufs wegen. | |
Aber der 26-Jährige steht auf der zivilen Seite der Front. Seine Munition | |
sind Worte und seine eigene Geschichte: die drei Kugeln in seinem Körper. | |
Die Einschuss- und Austrittsstelle der vierten, die ihn an der Schulter | |
traf. Und seine Entdeckungen in der Politik seines Landes. | |
„Es kann jeden treffen“, sagt Colin Goddard: „überall und jederzeit“. … | |
seinem Fall geschah es beim Französischunterricht von Jocelyne | |
Couture-Nowak. An einem Montagmorgen sterben im Kugelhagel in der | |
Universität Virginia Tech 32 Mitstudenten und Lehrer. Der 33. Tote ist der | |
Schütze Seung-Hui Cho. Der 23-Jährige begeht Selbstmord wenige Schritte von | |
dem Pult entfernt, unter dem der schwer verletzte Colin Goddard liegt. | |
Fünf Jahre später steht Colin Goddard im schwarzen Anzug und mit gelber | |
Krawatte vor einem Hörsaal in der George-Washington-Universität der | |
US-Hauptstadt. Er hält eine Kerze in den abgedunkelten Raum: „für meine | |
Französischlehrerin“. Neben ihm stehen mehrere Dutzend Angehörige von | |
Erschossenen. Jeder mit einer Kerze. „Für meinen Sohn Daniel“, sagt Tom | |
Mauser aus Columbine in Colorado. „Für meinen Sohn Patrick“, sagt Jeannette | |
Richardson aus Newport News in Virginia. | |
## Kleine Minderheit | |
Die Angehörigen kommen aus allen Teilen der USA. Wenn sie sich treffen, | |
trösten sie sich. Und suchen nach Auswegen aus dem Schusswaffendilemma, sie | |
sind alle für mehr Kontrolle. Aber eine kleine Minderheit in einem Land, in | |
dem „Waffentragen“ und „Freiheit“ für viele wie Synonyme klingen. | |
An diesem Abend haben die Angehörigen gemeinsam den Dokumentarfilm „Living | |
for 32“ angeschaut. Darin erzählt Colin Goddard über die Schießerei an der | |
Virginia Tech und beweist beim Kauf halbautomatischer Schusswaffen, der mit | |
verdeckter Kamera gefilmt wurde, dass es praktisch keine Kontrolle gibt. | |
In der letzten Zeit mussten die Befürworter von mehr Schusswaffenkontrolle | |
zahlreiche Niederlagen einstecken. Darunter die Entscheidung des Obersten | |
Gerichtshofes von 2010, das Recht auf Waffentragen auch auf Städte | |
auszudehnen, deren Bürgermeister es eingeschränkt hatten. In diesem | |
Frühsommer liegen dem Kongress zwei neue Gesetzentwürfe mit zwei neuen | |
Vorstößen der Schusswaffenfreunde vor. „S 2188“ und „S 2213“ beinhalt… | |
Prinzip der „Gegenseitigkeit“. | |
Wenn die Gesetze durchkommen, gilt künftig eine in einem beliebigen | |
Bundesstaat ausgestellte Erlaubnis zum Tragen von versteckten Waffen | |
US-weit. Die besonders lasche Waffenkontrolle in Staaten wie Arizona ließe | |
sich damit landesweit ausdehnen. Auch im Wahlkampf mischt die vier | |
Millionen Mitglieder starke National Rifle Association (NRA) wieder mit. | |
Sie hat alle Kandidaten aufgefordert, sich im Wahlkampf zu dem Grundrecht | |
auf Waffentragen zu bekennen. | |
„Das ist Amerika“, seufzt Tom Mauser. Sein Sohn war 15, als er 1999 an der | |
Schule in Columbine erschossen wurde. Seither hat der Vater ein paar kleine | |
Fortschritte und viele Rückschläge in der Waffenkontrolle erlebt. Doch in | |
diesem Frühsommer hat er das Gefühl, dass die öffentliche Meinung ein wenig | |
in Bewegung gerät. Anlass ist erneut ein Todesfall: Die Erschießung des | |
schwarzen Teenagers Trayvon Martin durch einen privaten Wachmann in Zivil | |
in Florida. Die Schüsse auf den unbewaffneten Teenager haben eine | |
landesweite Debatte über das „Recht auf Selbstverteidigung“ ausgelöst. | |
Gegenwärtig gilt es in 26 Bundesstaaten – die mächtige NRA möchte es auf | |
die gesamten USA ausdehnen. | |
## Mühsame Konfrontation | |
Für Colin Goddard ist die Zeremonie im Hörsaal ein Termin von vielen. Er | |
ist jetzt hauptberuflich Aktivist in der Gruppe „Brady-Kampagne gegen | |
Schusswaffengewalt“. Am Morgen nach der Zeremonie wird er mit anderen | |
Angehörigen in den Kongress gehen. Einzelbesuche bei Abgeordneten machen, | |
um sie für mehr Waffenkontrolle zu sensibilisieren. Bei solchen | |
Gelegenheiten spricht er viel von seiner persönlichen Geschichte. Und | |
versucht die Politiker zu überzeugen, dass es auch in ländlichen Regionen | |
und Kleinstädten Wähler gibt, die mehr Waffenkontrolle wünschen. | |
Aber Colin Goddard weiß natürlich, dass die Abgeordneten von Demokraten und | |
Republikanern auch Besuche der Schusswaffenlobby erhalten. „Es ist eine | |
mühsame Konfrontation“, sagt er: „Schusswaffenopfer gegen | |
Schusswaffenindustrie“. | |
Im Kongress trifft er auch die kalifornische Demokratin Dianne Feinstein. | |
Die Senatorin sagt der Gruppe, dass sie statt des Durchwinkens auf einer | |
ordentlichen Abstimmung über die Gesetze „S 2188“ und „S 2213“ bestehen | |
werde. Die Angehörigen nehmen das als gutes Zeichen. Aber Colin Goddard | |
weiß auch, dass für langfristige politische Erfolge mehr als eine kleine | |
Minderheit nötig ist: „Eine Veränderung gibt es erst, wenn sich jene, die | |
nicht Opfer geworden sind, entrüsten.“ | |
## Der Neuling in der Politik | |
Der Überlebende Colin Goddard ist noch neu in der Politik. Aber die Grenzen | |
des in Washington Möglichen hat er erkannt. Er und die Gruppe | |
„Brady-Kampagne“ verlangen kein Verbot des privaten Schusswaffenbesitzes: | |
„Damit hätten wir sofort die Hälfte der Bevölkerung gegen uns.“ Sondern | |
lediglich einen „Backgroundcheck“ bei jedem Schusswaffenverkauf. Eine | |
Anfrage bei den Behörden. Eine Überprüfung, ob der Käufer psychisch stabil | |
ist und keine Vorstrafe hat. Wer den vierfach angeschossenen Colin Goddard | |
fragt, warum er so zaghaft ist, hört diese Antwort: „Schusswaffen sind | |
nicht das Problem. Sie dürfen nur nicht in die falschen Hände geraten.“ | |
Der 16. April 2007 hat ihn aus seiner Unschuld heraus katapultiert. Er | |
nennt es einen „lebensverändernden Moment“. Vor den Schüssen hat er nach | |
seinem Weg gesucht. War eine Weile im militärischen Teil der Virginia Tech | |
eingeschrieben. Wollte Astronaut werden. Und ist in den zivilen Teil der | |
Universität gewechselt, als ihm klar wurde, dass seine nächste Station ein | |
Krieg sein würde – entweder der Irak oder Afghanistan. | |
## Die Banalität des Schicksals | |
Nach den Schüssen in Blacksburg erfährt Colin Goddard von der Banalität | |
seines Schicksals: von den mehr als 30.000 Menschen, die in einem | |
durchschnittlichen Jahr in den USA durch Schusswaffen ums Leben kommen – | |
davon knapp 10.000 ermordet. Von den 250 bis 300 Millionen Schusswaffen in | |
privater Hand. Von den 5.000 jährlichen „Gun-Shows“, bei denen Schusswaffen | |
oft ohne jede behördliche Kontrolle verkauft werden. | |
Und von jenen Bundesstaaten, die nicht einmal eine Lizenz für das | |
Waffentragen verlangen, geschweige denn eine obligatorische | |
Schießausbildung. Er erfährt auch, dass der Schütze Cho seine beiden | |
halbautomatischen Pistolen Glock 19 und Walther P22 ganz legal erwarb – | |
obwohl seine Depressionen und Angstzustände den Behörden bekannt waren. | |
„Es hat mich umgeworfen“, sagt der Überlebende an einem warmen | |
Frühsommertag in Washington: „Wie die meisten Amerikaner war ich überzeugt, | |
dass solche Dinge bei uns geklärt sind.“ Colin Goddard ist mit positivem | |
Denken aufgewachsen. Seine Eltern sind Entwicklungshelfer. Sie haben ihre | |
Kinder in Somalia, in Bangladesch und in Indonesien großgezogen. Am 11. | |
September 2001 lebt die Familie in Ägypten. | |
Nach den Schüssen trainiert Colin Goddard hart, um körperlich schnell | |
wieder in Form zu kommen. Und redet, was seine Seele hergibt. Anders als | |
andere schussverletzte Kommilitonen, die sich zu ihren Eltern zurückziehen, | |
geht er direkt nach dem dem Krankenhaus wieder auf den Campus: „Dort konnte | |
ich reden. Reden. Reden. Alle wollten wissen, wie es mir geht.“ Ein paar | |
Monate später reist er zu einem lang geplanten Praktikum nach Madagaskar: | |
„Nachdem es wochenlang um nichts anderes als die Schießerei ging, war ich | |
plötzlich an einem Ort, wo niemand davon wusste.“ Dann macht er seinen | |
Abschluss in Internationalen Beziehungen an der Universität, an der er | |
beinahe ermordet worden wäre. | |
## „Sie kapieren es nicht“ | |
Alle drei Entscheidungen helfen Colin Goddard, zu neuen Kräften zu kommen. | |
Er weiß, dass alles viel schwieriger wäre, wenn er im Rollstuhl säße. | |
Längst spielt er wieder Fußball und Volleyball. Hat eine Freundin. | |
Beherzigt den Rat seiner Mutter: „Mach die Welt zu einem besseren Ort. Und | |
versuch, davon zu leben.“ Er nennt sich „glücklich“. Colin Goddard lebt | |
jetzt in der US-Hauptstadt. Und hat vor, noch einige Zeit für lückenlose | |
Backgroundchecks zu kämpfen. „Wenn wir das schaffen, können wir vielleicht | |
die jährlichen Opferzahlen von 30.000 auf 20.000 senken.“ | |
Anschließend will er eine „neue Lebensentscheidung“ fällen. Vielleicht | |
wieder ins Ausland gehen. Und den Rest anderen überlassen. Der Waffenhandel | |
über die Grenze nach Mexiko? „Das ist nicht mehr mein Kampf“. | |
Wenn Colin Goddard bei seinen Diskussionen Studenten hört, die bewaffnet in | |
die Universität gehen wollen, würde er am liebsten alles hinschmeißen. „Sie | |
kapieren es einfach nicht. Wenn mehr Schusswaffen auch mehr Sicherheit | |
brächten, wäre dies das sicherste Land überhaupt“, sagt er. Und, dass er in | |
seinem Seminarraum an der Virginia Tech der Einzige war, der es geschafft | |
hat, unter dem Pult die Notrufnummer zu wählen. Und dass die Statistiken | |
zeigen, dass nicht einmal Polizisten, die regelmäßig Schießübungen machen, | |
völlig treffsicher sind. Und dass ein Student im Französischkurs sich | |
darauf konzentrieren sollte, Französisch zu lernen. | |
31 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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