# taz.de -- Proteste in Spanien: „Wir sind noch nicht ganz unten“ | |
> Jon Aguirre hat die Bewegung der „Empörten“ mitinitiiert. Er sagt: Ihr | |
> wichtigster Erfolg sei, dass die Menschen den Krisenfolgen nicht mehr | |
> allein gegenüber stünden. | |
Bild: Sich totstellen – ob es das bringt? Protest gegen Banken in Barcelona. | |
taz: Als am 15. Mai 2011 erstmals die „Empörten“ auf die Straße gingen, | |
hätten Sie da gedacht, dass Spanien ein Jahr später am Abgrund steht? | |
Jon Aguirre: Nein. Wir dachten damals, dass wir uns in der schlimmsten Lage | |
befinden, die man sich vorstellen kann. Die damalige sozialistische | |
Regierung hatte das Rentenalter hochgesetzt, Sozialleistungen und Löhne im | |
öffentlichen Dienst gekürzt. Heute wissen wir, das war nur der Anfang. | |
Seither geht es ununterbrochen bergab. Das liegt nicht zuletzt an der | |
hochgradig neoliberalen Politik, mit der auf die Krise reagiert wird. Es | |
ist traurig, aber wir sind bei Weitem noch nicht ganz unten angekommen. | |
Scheidet Spanien aus dem Euro aus? | |
Keine Ahnung. Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler. | |
Andersherum: Ist es wünschenswert, dass Spanien im Euro bleibt? | |
Dazu gibt es unterschiedliche Analysen. Was allerdings klar ist, die | |
Rahmenbedingungen, die Maastricht und Lissabon für den Euro stecken, | |
begünstigen im höchsten Maße die Spekulation. Die Europäische Zentralbank | |
kommt ihren Aufgaben nicht nach. Statt Geld an die Staaten zu verleihen, | |
gibt sie Billionenbeträge zu günstigen Bedingungen an private Banken. | |
Diese spekulieren dann und verleihen dieses Geld für 6, 10 oder 20 Prozent | |
weiter, je nach Land und Risikozuschlag. Deutschland besteht auf diesem | |
Modell für die EZB und fährt gut damit. Berlin nimmt Staatsanleihen für 0 | |
Prozent auf. Doch die Frage ist längst nicht mehr, ob es Deutschland gut | |
und Spanien schlecht geht. Wir befinden uns in einer globalisierten Welt. | |
Das ganze System steckt in der Krise. Es ist nicht mehr tragbar. | |
Was heißt das? | |
Angesichts der Finanzkrise redet niemand mehr von der ökologischen Krise | |
und von der Energiekrise. Wir haben die Grenzen des Planeten längst | |
überschritten. Die Art, wie wir leben und konsumieren, ist nicht zu halten. | |
Spanien verbraucht in nur drei Monaten seine biologische Kapazität eines | |
ganzen Jahres. Wir können so nicht weitermachen. Das ist die eigentliche | |
Krise. | |
Glauben Sie, dass die Wahl von François Hollande etwas ändern wird? | |
Er gibt viele Absichtserklärungen ab. Wir werden sehen, was daraus wird. | |
Ich persönlich habe jedes Vertrauen in die Sozialdemokratie verloren und | |
glaube, dass radikalere Ansätze nötig sind. Wir brauchen neue Strukturen. | |
Sie denken dabei sicher an horizontale Bewegungen wie die der „Empörten“ | |
(15-M) in Spanien. Die Bewegung 15-M mobilisiert viele, aber Konkretes hat | |
sie nicht erreicht? | |
Alle fragen immer: Was habt ihr erreicht? Dabei wird das Wichtigste gerne | |
übersehen. Die Bewegung hat einen Prozess ausgelöst. Es sind unzählige | |
kleine Initiativen entstanden, die untereinander vernetzt sind. Die | |
Menschen stehen den Problemen nicht mehr alleine gegenüber. Egal wo sie | |
leben, gibt es Versammlungen, an die sie sich wenden können, die sie | |
unterstützen. Wir sind keine vereinzelten Individuen mehr. Wir sind eine | |
Gemeinschaft, die längst international vernetzt ist. Die Menschen ändern | |
ihre Verhaltensmuster, die Art, wie sie leben, wie sie Probleme angehen. | |
Ist die Bewegung noch horizontal? | |
Mehr denn je. Das ist allerdings ein sehr schwieriger Lernprozess. Die | |
hierarchischen Strukturen aus Jahrhunderten hinter sich zu lassen, eine | |
neue Art der Politik zu entwickeln ist nicht leicht. Keiner kann sagen, was | |
letztlich herauskommt. Aber es gibt Prinzipien wie die Horizontalität, die | |
für die Menschen unumstößlich sind. | |
Ist die Entscheidung, sich horizontal zu vernetzen, angesichts der Krise | |
überhaupt richtig? | |
Uns wird immer wieder vorgeworfen, wir seien schlecht organisiert. Wer uns | |
das vorwirft, redet von Strukturen aus dem vergangenen Jahrhundert. Wir | |
befinden uns im 21. Jahrhundert. Die soziale und wirtschaftliche Dynamik | |
ist eine andere. Es geht darum, Strukturen der Zukunft zu schaffen. Die | |
Bewegung 15-M spiegelt dies wider. | |
Okay. Es entstand ein breites Netzwerk. Aber gleichzeitig hat die Rechte in | |
Spanien die Wahlen mit absoluter Mehrheit gewonnen. Die Krisenpolitik wird | |
immer härter. | |
Das ist Teil des Prozesses. Wir haben in nur einem Jahr eine solide | |
Netzstruktur geschaffen, mit der wir uns gegenseitig unterstützen. Diese | |
Strukturen stehen für neue Regeln, neue Verhaltensmuster, wie es sie bisher | |
nicht gab. Das ist das Wesentliche. Wir dürfen uns nicht von ihrem Zeitplan | |
beeinflussen lassen. Wir müssen unsere eigene Dynamik, unseren eigenen | |
Zeitplan entwickeln, eigene Ziele stecken. Ich trete doch nicht gegen einen | |
gedopten Hochleistungssportler an. | |
Es ist immer wieder von der Spanish revolution die Rede. Ein großes Wort. | |
Wir stehen vor einer neuen Epoche. Die Revolutionen haben sich immer durch | |
drei Schritte ausgezeichnet: technologischer Wandel, sozialer Wandel, und | |
schließlich politischer Wandel. Die politischen Strukturen sind die | |
konservativsten. Sie haben schließlich die Macht in der Hand. Bei der | |
Französischen Revolution war es die Erfindung der Buchdrucks durch | |
Gutenberg. | |
Es gingen Jahrhunderte ins Land, bis dies eine illustrierte Klasse zur | |
Folge hatte, die das politische System stürzte. Bei der Oktoberrevolution | |
war es die Dampfmaschine und die industrielle Revolution. Das führte zu | |
einer Veränderung der Produktionsverhältnisse. Schließlich kam der Umsturz | |
in Russland. In anderen Ländern entstand die Sozialdemokratie. | |
Was heißt das für heute? | |
Der technologische Wandel der neuen Epoche ist das Internet. Es ist eine | |
revolutionäre Erfindung, die die Art, wie wir uns zueinander in Beziehung | |
setzen, verändert. Gleichzeitig erleben wir einen sozialen Wandel. Die | |
herkömmliche Familie gibt es so nicht mehr. Der Vater ist nicht mehr der | |
Bezugspunkt. Es gibt Alleinerziehende beiderlei Geschlechts, homosexuelle | |
Paare mit Kindern, Patchworkfamilien und so weiter. | |
Die alte, patriarchalische, hierarchische Struktur als Modell steckt in der | |
Krise. Dieser soziale Wandel wird nach und nach einen politischen Wandel | |
hervorbringen. Wie der letztendlich aussieht, weiß keiner. Aber er ist | |
unausweichlich. | |
3 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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