# taz.de -- Justizaufbau im Kosovo: Die Vollstrecker von Vushtrri | |
> Die EU steckt mit ihrem Programm Eulex viel Geld und Personal in die | |
> kosovarische Justiz. Aber rechtstaatliche Prinzipien und die Realität | |
> kollidieren häufig. | |
Bild: Die Republik Kosovo erklärte sich vor vier Jahren für unabhängig. | |
BERLIN taz | Den Herd haben die Männer mit den Handschuhen in eine Decke | |
gewickelt, es dampft noch aus dem Schlot des Holzofens, als sie ihn über | |
die Türschwelle wuchten. Zu viert tragen sie ihn die Stufen vor dem Haus | |
herunter, vorbei an den zwei Polizisten und dem Mann mit dem buschigen, | |
grauen Schnurrbart, der die stählerne Gartentür geöffnet hatte. | |
Es ist sein Zuhause, das gerade zwangsgeräumt wird. Der flache Steinbau, | |
der sich zwischen die halbfertigen, ziegelroten Neubauten am Stadtrand von | |
Vushtrri duckt, diesem kleinen Ort mitten in Kosovo. | |
Bis zu diesem Moment lebte in dem Häuschen eine Familie: Vater, Mutter, | |
sieben Kinder. Die Jüngste ist gerade fünf Jahre alt. Sie rennt über den | |
Rasen, an den Füßen rote Gummisandalen. Der Vater blickt ihr einen Moment | |
lang nach. Dann trottet er in Richtung der Haustür, sein Kopf ist ein wenig | |
nach vorn gesunken, die Hände vergräbt er in den Taschen der schweren, | |
braunen Lederjacke. | |
„Wir hatten eine Wohnung im Norden von Mitrovica“, sagt er mit rauer | |
Stimme. Dort leben vor allem Kosovo-Serben, er selbst ist Kosovo-Albaner | |
und der Konflikt zwischen den Volksgruppen ist noch immer nicht befriedet. | |
„Wir können nicht zurück“, sagt der Mann. „Nach dem Krieg ist uns nichts | |
geblieben.“ | |
## Keinen Dollar pro Tag | |
Dreizehn Jahre sind vergangen, seit Nato-Bomber der Herrschaft des | |
Milosevic-Regimes ein Ende setzten. Vor vier Jahren erklärte sich die | |
Republik Kosovo für unabhängig. 91 UNO-Länder erkennen das Land an, | |
darunter die USA, Deutschland und die meisten EU-Länder. | |
Der Nachbar Serbien betrachtet Kosovo noch immer als Provinz. Im Klima der | |
Unsicherheit gedeihen Korruption und Kriminalität – und immer mehr | |
Kosovaren rutschen in die Armut. Etwa jeder Zehnte lebt von weniger als | |
einem Dollar am Tag, mehr als die Hälfte der Menschen hat keine Arbeit. | |
Um das zu ändern, hat die internationale Gemeinschaft Milliarden in Kosovo | |
investiert. Das jüngste Großprojekt heißt Eulex: Mehr als 400 Justizbeamte | |
hat die Europäische Union ins Land geschickt, rund 1.200 Polizisten und 100 | |
Zöllner. Eulex ist der größte zivile Einsatz in der Geschichte des | |
Staatenbundes, er kostet die Mitgliedsländer etwa eine halbe Million Euro | |
pro Tag. Die Mission soll aus Kosovo einen funktionierenden Staat machen, | |
mit einer verlässlichen Polizei, fairen Gerichten und einer effizienten | |
Verwaltung. | |
Am 14. Juni geht die Mission in ihr fünftes Jahr. Doch in den Wirren des | |
Nachkriegslandes stoßen die Europäer auf eine Vielzahl von Schwierigkeiten | |
– und oftmals kollidieren die Prinzipien der Internationalen mit dem | |
alltäglichen Leben der Menschen. | |
So wie im Fall des kleinen Hauses in Vushtrri. Während die Männer mit den | |
Handschuhen die Zimmer ausräumen, sitzt Agron Beka auf dem Beifahrersitz | |
eines kantigen Landrovers, der in der Einfahrt geparkt hat. Beka ist der | |
Chef des Räumungskommandos, er leitet eine Vollstreckungseinheit der | |
„Kosovo Property Agency“ (KPA). „Wir sorgen dafür, dass Menschen ihr | |
Grundstück, ihr Haus oder ihr Geschäft zurückbekommen, das sie im Krieg | |
verloren haben.“ | |
Die Behörde ist ein Musterbeispiel für die internationale Zusammenarbeit: | |
Ihre Vorgängerin wurde nach dem Krieg von den Vereinten Nationen aufgebaut, | |
mittlerweile haben die Kosovaren übernommen. Doch die Entscheidungen | |
treffen nach wie vor Eulex-Gesandte: Eine Kommission aus einem | |
kosovarischen und zwei europäischen Juristen ist für alle Ansprüche auf | |
Wohnungen, Häuser und Land zuständig. Eine Art Ersatzgericht, das die | |
kosovarische Justiz zumindest von der Last alter Fälle befreien soll. | |
## Ende der Diskussion | |
Beka ist der Mann für die letzte Konsequenz, der ausführende Arm der jungen | |
Justiz. Er blättert in einer braunen Akte auf seinem Schoß, auf der Suche | |
nach einer Erklärung für das, was im Häuschen nebenan geschieht. „Der | |
Besitzer des Hauses ist Serbe, er lebt nicht mehr in Kosovo“, sagt er. In | |
so einem Fall übernimmt die KPA die Verwaltung – die Organisation muss dann | |
auch dafür sorgen, dass die Mieter regelmäßig zahlen. | |
Die Wohnungen sind billig, nach dem Krieg standen sie oft jahrelang leer. | |
„Trotzdem können sich das viele nicht leisten“, sagt Beka und tippt auf ein | |
Blatt in der Akte: Die Familie hatte seit Monaten keine Miete gezahlt. 15 | |
Tage wurde sie von Bekas Büro kontaktiert. „Wenn wir kommen, gibt es keine | |
Diskussionen mehr.“ | |
Das Haus in Vushtrri ist kein Einzelfall: Als sich Kosovo von Serbien | |
lossagte, verschwand auch die gesamte Administration. Mit ihr gingen | |
Besitzurkunden, Grundbücher und Kaufverträge verloren. Ländereien, Häuser | |
und Fabriken mussten nach dem Krieg praktisch neu verteilt werden. | |
## Das Leben ging weiter | |
Kathinka Hewitt kennt die Schwierigkeiten, die dabei auftauchen: Die | |
deutsche Juristin arbeitet seit rund zweieinhalb Jahren für Eulex in | |
Kosovo. „Wir haben etwa 2.500 Fälle, in denen sich mehrere Parteien um | |
Besitz und Eigentum streiten“, sagt sie. Manchmal geht es dabei um ein | |
Grundstück, ein Haus, manchmal auch um eine Tankstelle, einen Wohnblock | |
oder ein ganzes Einkaufszentrum. Während die Justiz stillstand, ging das | |
Leben weiter: „Da wurde ein Stück Land illegal besetzt, zwei, dreimal | |
weiterverkauft und jetzt hat jemand sein Haus darauf gebaut. Die Existenz | |
einer ganzen Familie kann daran hängen. Da gibt es keine leichten | |
Entscheidungen“, sagt Hewitt. | |
Sie hat ihr Büro im dritten Stock der KPA-Zentrale, eines Bürohauses in | |
Prishtina. Der Raum ist winzig: zwei Schreibtische, Bürostühle, ein | |
Aktenschrank, in einem Regal steht ein kleiner EU-Wimpel. Hewitt sitzt vor | |
einem Flachbildschirm, eine blonde Frau Ende dreißig. Seit sie für die | |
Kommission arbeitet, lebt sie mit Mann und drei Kindern in Kosovo. | |
Jeden Monat gehen etwa tausend der braunen Aktenordner über ihren | |
Schreibtisch. „Die meisten Ansprüche werden von Serben geltend gemacht, die | |
nach dem Krieg Kosovo verlassen haben“, sagt Hewitt. Die Eulex-Gesandten | |
sollen sicherstellen, dass der andauernde Konflikt zwischen den ethnischen | |
Gruppen der Gerechtigkeit nicht im Weg steht. | |
Etwa 90 Prozent der Kosovaren sind albanischer Abstammung. Die serbische | |
Minderheit hat sich in Enklaven zurückgezogen. In weiten Teilen des Landes | |
funktioniert das friedliche Miteinander weitgehend. Im Norden, in der Nähe | |
der serbischen Grenze, ist das noch immer anders: Die Menschen dort lehnen | |
die Unabhängigkeit Kosovos ab und boykottieren Polizei und Justiz. | |
„Für die einfacheren Fälle haben wir mittlerweile ein sehr effizientes | |
System“, sagt Hewitt. Wenn jemand ein verlassenes Stück Land für sich | |
beansprucht und einen Beweis vorlegen kann, prüfen Hewitt und ihre Kollegen | |
lediglich die Dokumente. Dann bündeln sie ähnliche Ansprüche – auf diese | |
Weise kann eine Entscheidung genügen, um einige tausend Fälle zu | |
bearbeiten. | |
Mehr als 23.000 Ansprüche hat die Kommission in den vergangenen fünf Jahren | |
entschieden. Würde es in dem Tempo weitergehen, könnte sie Ende des | |
nächsten Jahres ihre Arbeit beenden. Dann wären die rund 42.000 Fälle | |
abgearbeitet, die bis zum Jahr 2007 bei der KPA gemeldet wurden. Um alles, | |
was danach kam, müssen sich die Gerichte kümmern. Die KPA soll eine | |
Übergangslösung bleiben. | |
Doch viele Fälle sind mit der Entscheidung der Kommission längst nicht | |
gelöst. Dann beginnt die Arbeit für Agron Beka. „Solange ein Fall nicht | |
vollstreckt wird, ist eine Entscheidung nichts weiter als Papier“, sagt er. | |
Besonders in Nordkosovo ist die Situation schwierig: Dort hat die | |
kosovarische Polizei keine Macht, Schuttberge blockieren die Straßen zur | |
serbischen Grenze. Erst vor wenigen Wochen wurde ein deutscher Soldat | |
angeschossen, bei dem Versuch, eine Barrikade zu räumen. | |
## Einflussreiche Veteranen | |
Aber auch im überwiegend von Albanern bewohnten Süden des Landes ist die | |
KPA zu einer Gratwanderung gezwungen. Immer wieder landen Fälle bei Bekas | |
Team, in denen ehemalige Kämpfer der kosovarischen Rebellenarmee UCK | |
Wohnungen besetzt halten – von vertriebenen Serben. | |
„Viele erzählen, dass ihnen während des Krieges von ihren Generälen eine | |
Wohnung versprochen wurde – und nach dem Ende des Konflikts haben sie sich | |
eben eine genommen“, sagt Beka. Auch in diesen Fällen sind Räumungen | |
unmöglich: Die Veteranen sehen sich im Recht und verteidigen ihr neues | |
Zuhause – mit Hilfe alter Verbindungen und manchmal auch mit der Waffe in | |
der Hand. | |
Der Chef der Vollstreckungseinheit schaut aus dem Fenster des Jeeps. Vor | |
dem stählernen Gartentor in Vushtrri türmen sich mittlerweile Möbel, | |
Kochgeschirr und Säcke mit Kleidung. „Am schlimmsten ist die Armut“, sagt | |
Beka. „Nach meiner ersten Räumung hatte ich mir geschworen: nie wieder. Ich | |
habe geheult und der Familie mein ganzes Geld gegeben.“ Beka musste vor | |
dreizehn Jahren selbst fliehen, am 16. April 1999 verließ er das Land, | |
gemeinsam mit seinen Brüdern. Sie blieben zwei Monate in Italien. | |
Als er zurückkam, war sein Elternhaus bis auf die Grundmauern | |
niedergebrannt. „Wer das war, weiß ich nicht. Inzwischen ist es mir egal. | |
Wir haben eben von vorne begonnen“, sagt er und fügt dann etwas ärgerlich | |
hinzu: „Wer sich über eine Räumung beschwert, kommt immer mit den gleichen | |
Erklärungen: die Serben, der Krieg, die Ungerechtigkeit. Im Jahr 2012 ist | |
das nicht mehr angemessen.“ | |
Ganz so will er das dann doch nicht stehen lassen, im Angesicht der Familie | |
in Vushtrri. „Natürlich sind das arme Menschen“, sagt er. Die Eltern | |
arbeitslos, die Kinder klein. 90 Euro Sozialhilfe erhält eine Großfamilie | |
im Kosovo, knapp die Hälfte des Durchschnittseinkommens eines Arbeiters. | |
„Aber vielleicht sitzt der Mensch auf der anderen Seite auch in einem | |
Flüchtlingslager.“ | |
Was wird jetzt aus der Familie? Beka räuspert sich, lehnt sich im Autositz | |
zurück. „Wahrscheinlich tragen sie heute Abend ihre Sachen wieder ins | |
Haus.“ | |
Die Recherchen zu dem Artikel wurden durch ein Stipendium der | |
Otto-Brenner-Stiftung (OBS) finanziert und von der Journalistenvereinigung | |
„Netzwerk Recherche“ betreut. | |
13 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Urs Spindler | |
## TAGS | |
Kosovo | |
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