# taz.de -- Gefährdete Sprachen im Netz: Alter Wortschatz in neuen Medien | |
> Google startet eine Plattform für gefährdete Sprachen. Das Projekt wird | |
> von Sprachwissenschaftlern getragen. Kritiker zweifeln am Nutzen. | |
Bild: Viele indigene Sprachen sind gefährdet – da hilft Feste feiern und red… | |
BERLIN taz | Schonmal ein Wort Koro gehört, etwas auf Navajo über die | |
Lippen gebracht oder einen Film auf Western Huasteca Nahuatl gesehen? Falls | |
nicht, können Sprachinteressierte diese Versäumnisse möglicherweise bald | |
mit dem neuen [1][Endangered Languages-Project] nachholen. | |
Mit der Webseite, die auf Technologien der Google-Stiftung basiert, möchten | |
die Universität Eastern Michigan und die Universität Hawaii in Manoa eine | |
Plattform und ein Sprachrohr für gefährdete Sprachen weltweit bieten. Denn | |
sie fürchten, dass mehr als die Häfte der etwa 7.000 weltweit existierenden | |
Sprachen im Jahr 2100 nicht mehr gesprochen werden. | |
Einige Experten bezweifeln jedoch, dass die Online-Plattform diese Tendenz | |
abmildern kann – und fragen sich, was Google damit zu schaffen hat. Auf der | |
Webseite werden insgesamt 3054 Sprachen vorgestellt, die weltweit nur | |
wenige tausend Menschen sprechen. | |
Während mit Sorbisch, Obersorbisch oder West-Jiddisch auch einige Sprachen | |
innerhalb Deutschlands als gefährdet angeführt werden, lokalisiert das | |
Projekt die meisten stark gefährdeten Sprachen an der Westküste Nord- und | |
Südamerikas und in Südasien. Bisher gibt es, auf der Grundlage des so | |
genannten [2][Catalogue of Endangered Languages] der beiden | |
Trägeruniversitäten, nur jeweils einige Basisdaten zu den Sprachen: Wo | |
sprechen wie viele Menschen die Sprache und zu welcher Sprachgruppe gehört | |
sie? | |
## „Die Plattform birgt viel Potenzial“ | |
Für einige gibt es auch Beispiele, etwa einen Filmtrailer auf [3][Seri], | |
einem indigenen Dialekt, den dem Projekt zufolge nur 500 Menschen im | |
äußersten Nord-Westen Mexicos sprechen. Beispieldateien, welche die | |
Sprachen auf diese Weise erfahrbar machen, sind jedoch rar. | |
„Um mit der Plattform dazu beizutragen, die Sprachen zu erhalten, werden | |
einige Videos nicht reichen“, sagt Paul Trilsbeek, Leiter des | |
Sprachenarchives am niederländischen Max Planck Institut für | |
Sprachpsychologie. Das MPI beteiligt sich im Planungskomitee des Projekts, | |
hat also eher mit der Strategie als mit dem konkreten Inhalt zu tun. | |
Doch wie der sich entwickelt, wird entscheidend für den Nutzen des | |
Endangered Language Project sein. In den kommenden Monaten sollen sowohl | |
Privatpersonen als auch Wissenschaftler aus aller Welt die Seite | |
[4][bestücken]: Mit wissenschaftlichen Papern, Sprachdokumentationen in | |
Text, Bild und Ton und Fallstudien, womöglich über den Dialekt im eigenen | |
Dorf. | |
„Die Plattform birgt viel Potenzial, jetzt sind die Nutzer daran, es zu | |
nutzen“, sagt Trilsbeek. Er rechtfertigt die Kooperation mit Google vor | |
allem damit, dass das Internetunternehmen sehr bekannt ist und somit | |
„endlich mehr Menschen vom Sprachensterben erfahren und das Problem auch | |
beachten.“ | |
## Mangelndes Selbstwertgefühl der Native Speaker | |
In Googles Bekanntheit sieht Trilsbeek auch den eigentlichen Nutzen für | |
diejenigen, deren Muttersprache bedroht ist. Ausgerechnet sie können | |
nämlich nur begrenzt am Endangered Language Project teilnehmen – für viele | |
Menschen in lateinamerikanischen und asiatischen Dörfern sei es ohne | |
regelmäßigen Internetzugang nicht möglich, an der Plattform mitzuarbeiten. | |
„Aber sie werden mitbekommen, dass ihre Sprache auf einer großen Webseite | |
präsent ist, was das Selbstwertgefühl enorm steigert“, sagt Trilsbeek. Das | |
Gefühl, dass die eigene Sprache nichts wert ist, beschreiben Experten neben | |
Landflucht als einen der Hauptgründe fürs Sprachensterben. | |
Auch Nikolaus Himmelmann, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für | |
bedrohte Sprachen, beschreibt das mangelnde Selbstwertgefühl indigener | |
Stämme als großes Problem. „Das Internet spielt in dem Kampf, Sprachen zu | |
erhalten, eine wichtige Rolle“, sagt Himmelmann. Im Web präsente Sprachen | |
seien für die jeweiligen Sprecher nicht nur ein wichtiger Zugang zur Welt. | |
„Sie sind auch eine Manifestation der eigenen Identität“, sagt Himmelmann. | |
Doch wie einige andere Wissenschaftler ist Himmelmann skeptisch gegenüber | |
dem Endangered Language Project. Als die Initiatoren der Universitäten | |
Eastern Michigan und Hawaii im vergangenen Jahr ihre mittlerweile 30 | |
wissenschaftlichen Kooperationspartner zusammensuchten, sprachen sie auch | |
Himmelmann an. Doch der Professor für allgemeine Sprachwissenschaft an der | |
Universität Köln störte sich an einer Bedingung des Sponsors, der | |
Google-Stiftung: Die Wissenschaftler sollten zwar Geld für ihre Daten | |
erhalten, aber dafür nicht über die Vertragsinhalte mitbestimmen oder reden | |
dürfen. „So eine Verschwiegenheitserklärung ist für Wissenschaftler | |
eigentlich nicht akzeptabel, es ist nicht absehbar, was Google mit den | |
Daten noch vorhat“, sagt Himmelmann. Er verzichtete. | |
## Moderne Kommunikation mit alten Sprachen | |
Auf Anfragen, wie viel Geld es in das Backend der Plattform gesteckt hat | |
und über welche Vertragsdetails die Partner stillschweigen sollen, | |
antwortete Google nicht. Recht aussagekräftigt ist jedoch, dass Dateien | |
möglichst nur mithilfe von Google-Produkten wie Youtube, Picasa oder | |
GoogleDocs hochgeladen werden sollen. Himmelmann schätzt, dass auch unter | |
den Kooperationspartnern einige Institute sind, die eher wirtschaftliche | |
Interessen an dem Projekt haben. Denn es gebe längst Projekte, die | |
Werkzeuge des Internets und auch der sozialen Medien nutzen, um bedrohte | |
Sprachen zu schützen – die gelte es zu unterstützen. | |
Zum Beispiel [5][Phil Cash Cash]. Der Nordamerikaner ist Linguist an der | |
Universität Arizona und, noch viel wichtiger, Mitglied des indigenen | |
Stammes Nuumiipuu. Cash Cash schätzt, dass nur noch 25 Menschen Nez Perce, | |
die Muttersprache seines Stammes, flüssig sprechen. Der Wissenschaftler | |
kämpft dagegen an, dass dies einfach so weiter geht, mit wissenschaftlicher | |
Arbeit und simpleren Methoden: So gestaltet Cas Cash etwa einige Posts auf | |
seinem [6][//plus.google.com/100794758144785222072/posts:Google+-Account] | |
zweisprachig, auf Englisch und auf Nez Perce. | |
Wohl wissend, dass die meisten Indigenen mittlerweile über Smartphones im | |
Netz surfen und stark in sozialen Netzwerken aktiv sind. „Wenn Menschen | |
moderne Kommunikationswege wie Mails oder Soziale Netzwerke nutzen, und | |
sehen, dass ihre alte Sprache dort präsent ist, belebt das den Dialekt | |
ungemein“, sagt Cash Cash. | |
Auch er bedient sich also an Googles Infrastruktur. Doch im Gegensatz zum | |
Großvorhaben Endangered Language Project läuft das ohne Geheimverträge und | |
interaktiv. „Nur Sprachvideos einzustellen und zu dokumentieren ist eher | |
eine Musealisierung der Sprache“, kommentiert Himmelmann von der | |
Gesellschaft für bedrohte Sprachen die bisherigen Aktivitäten des | |
Endangered Language Project. Die Plattform bietet mit einem | |
Diskussionsforum und Querverweisen auf Facebook und Twitter die | |
Möglichkeiten zur Kommunikation. Diese müssten nun auch bald genutzt | |
werden, meint Himmelmann: „Den Sprachen hilft die Plattform nur, wenn die | |
Leute dort kommunizieren.“ | |
22 Jun 2012 | |
## LINKS | |
[1] http://www.endangeredlanguages.com/#/3/43.300/-2.104 | |
[2] http://www.endangeredlanguages.com/assets/information_catalogue_endangered_… | |
[3] http://www.endangeredlanguages.com/lang/5846/samples/3812 | |
[4] http://www.endangeredlanguages.com/knowledgesharing | |
[5] http://www.youtube.com/watch?v=KNMK0ZVZqIc | |
[6] http://https | |
## AUTOREN | |
Karen Grass | |
## TAGS | |
Linguistik | |
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