# taz.de -- Deutsche Bildungslandschaft: Politik interpretiert Bildungsbericht … | |
> Den Kultusministern passen die schlechten Zeugnisse weiterhin nicht: Sie | |
> bezeichnen das Benennen der Probleme als Grenzüberschreitung. | |
Bild: Wie fallen diese Kinder im Bildungsbericht wohl aus? | |
BERLIN dpa/taz | Der Hauptkritiker fehlte bei der Präsentation des neuen | |
Nationalen Bildungsberichts in der Runde der Kultusminister. Bayerns | |
Bildungsminister Ludwig Spaenle (CSU), der die Wissenschaftler wegen ihrer | |
Warnung vor dem Betreuungsgeld so heftig gerügt und von einer Art | |
Grenzüberschreitung gesprochen hatte, ließ sich entschuldigen. Den Part des | |
scharfen Kritikers musste sein Amtschef Peter Müller übernehmen. | |
Bevor die Journalisten dann zur öffentlichen Präsentation zugelassen | |
wurden, diskutierten die Minister hinter verschlossenen Türen zusammen mit | |
den Wissenschaftlern fast eine Stunde lang die Frage, was diese in einen | |
offiziellen Bildungsbericht von Bund und Ländern schreiben dürfen – und was | |
nicht: Probleme aufzeigen: Ja. Empfehlungen abgeben: Nein. So sieht es | |
allerdings auch der Vertrag von Bund und Ländern vor, der schon 2005 über | |
den alle zwei Jahre erscheinenden Bildungsbericht geschlossen wurde. | |
Dabei demonstrierten in der bisweilen heftigen Debatte unter den | |
Kultusministern die Vertreter der ostdeutschen Länder, wie man souverän mit | |
Aussagen der Wissenschaft umgehen kann. | |
Der kritische Hinweis im Bildungsbericht auf die vielen Gründungen privater | |
Grundschulen im Osten in den vergangenen Jahren und die damit verbundene | |
Grundgesetzproblematik, die ihren Ursprung bereits in der Weimarer | |
Reichsverfassung hat, gefiel den betroffenen Ostministern zwar nicht. Doch | |
deswegen stelle man nicht gleich die gesamte Arbeit der Bildungsforscher | |
infrage, merkte der Brandenburger Vertreter an. | |
## Finger in die Wunde | |
Dabei sind die Grenzen zwischen dem Aufzeigen von Fakten, dem Einordnen in | |
Gesamtzusammenhänge und dem Benennen von Herausforderungen in vielen | |
Gutachten und wissenschaftlichen Berichten fließend. Ist es schon eine | |
politische Aussage, wenn die Autoren des Bildungsberichts nicht nur die | |
steigenden Abiturienten- und Studienanfängerzahlen als Erfolg herausstellen | |
– sondern zugleich auch auf die immer noch mangelnde Akzeptanz der neuen | |
Bachelor-Abschlüsse bei den jungen Menschen verweisen? | |
Oder wenn sie gleich den Finger in die große Wunde des deutschen | |
Bildungssystems legen, dass auch zehn Jahre nach dem Pisa-Schock noch immer | |
fast 20 Prozent der 15-Jährigen nicht richtig lesen und Texte verstehen | |
können? Oder dass nach wie vor die soziale Herkunft in Deutschland über | |
Bildungserfolg entscheidet? | |
In der Tat kommt das heikle Wort Betreuungsgeld nur in einem, aber eben | |
brisanten Satz des Bildungsberichtes vor. Gewarnt wird, dass der Staat | |
angesichts der noch nicht vollendeten Aufgabe Kita-Ausbau sich nicht mit | |
neuen Leistungen wie dem Betreuungsgeld finanziell übernehmen soll. Nicht | |
zuletzt steht ja auch im frühkindlichen Bereich noch die Mammutaufgabe | |
Inklusion bevor – die Öffnung von Kitas und Kindergärten für Kinder mit | |
Handikaps – so wie es die UN-Konvention nicht nur von Schulen verlangt. | |
Durchgängig ist im Bericht die Sorge über eine soziale Teilung bei der | |
Kita-Betreuung der unter Dreijährigen. Durch Anreize für die Eltern sollten | |
nicht gerade die Kinder vom Kita-Besuch abgehalten werden, die | |
frühkindliche Bildung und Sprachübungen besonders nötig haben. Fazit: Mehr | |
Kinder aus bildungsfernen Schichten sollen in die Kita – und nicht weniger. | |
## Macht der Fakten | |
Das Verhältnis zwischen Politik und beratender Wissenschaft war immer schon | |
ambivalent – auch weil die Politik die Deutungshoheit nicht so leicht aus | |
der Hand geben will. 1963, bei Einsetzung des Sachverständigenrates zur | |
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wurde sogar im Gesetz | |
festgelegt, dass die Wissenschaftler zwar Zahlen und Fakten liefern, aber | |
keine Empfehlungen abgeben sollen. Doch selbstverständlich reichern heute | |
die Wirtschaftsweisen ihre Gutachten stets mit Empfehlungen an. | |
Der Leiter der Bildungsbericht-Autorengruppe, Horst Weishaupt, gilt als ein | |
ruhiger und besonnener Wissenschaftler, nicht als Alarmist. „Wir wollen | |
nicht der Politik vorschreiben, was richtig ist. Wir setzen auf die Macht | |
und Kraft der Fakten“, sagen Weishaupt wie auch sein Mitautor Thomas | |
Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut. Der Sozialwissenschaftler Martin | |
Baethge ergänzt: „Die Politik muss die Entscheidungen legitimieren, nicht | |
die Wissenschaft.“ Baethge, ein Mann klarer Aussagen, sieht durch die | |
bayerischen Aufgeregtheiten ums Betreuungsgeld den Freiheitsspielraum der | |
Forschung nicht infrage gestellt. | |
Dabei hatte es Eingriffe der Bildungspolitik in Gutachten oder | |
Stellungnahmen der Wissenschaft schon häufig gegeben. So erinnert sich | |
mancher in der KMK daran, wie 2003 auf Druck von Annette Schavan – damals | |
CDU-Kultusministerin in Baden-Württemberg – ganze Passagen und Warnungen | |
vor einer akademischen Fachkräftelücke wieder aus einem ersten | |
Länderbildungsbericht gestrichen wurden. Die Entwicklung hat der | |
Bildungsforschung längst recht gegeben. Noch heute kursieren in der Szene | |
etwa ein halbes Dutzend unzensierter Exemplare. | |
Oder der Fall Andreas Schleicher: Einige Kultusminister hätten den gern als | |
„Mister Miesmacher“ titulierten Pariser OECD-Bildungskoordinator und | |
Pisa-Erfinder wegen seiner beharrlichen Kritik am deutschen Bildungssystem | |
am liebsten Einreiseverbot erteilt, heißt es spöttelnd in der | |
Kultusministerszene. Und aus der Hochschulforschung hört man in jüngster | |
Zeit häufiger Klagen, dass nicht genehme HIS-Ergebnisse in offiziellen | |
Pressemitteilungen umgedeutet werden. | |
## Schwerpunkt im Lebenslauf | |
Für den Bildungsbericht 2012 hätten die Wissenschaftler am liebsten das | |
Thema Inklusion wegen seiner beharrlichen Kritik am deutschen | |
Bildungssystem zum Schwerpunkt gemacht. Doch weil die Länder sich bei der | |
Umsetzung der UN-Konvention schwertun, soll das Thema Inklusion erst im | |
Jahr 2014 folgen. | |
Stattdessen gab es diesmal den Schwerpunkt „Kulturell/musisch-ästhetische | |
Bildung im Lebenslauf“. Den nahmen die Kultusminister wohlwollend zur | |
Kenntnis – da gab’s ja auch lauter Nachrichten in Moll. | |
27 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Karl-Heinz Reith | |
## TAGS | |
Schule | |
Pisa | |
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