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# taz.de -- Kinderchirurg zu Beschneidungs-Urteil: „Beschneider reiben sich d…
> Das Kölner Beschneidungsurteil sei gefährlich, meint Kinderchirurg Hikmet
> Ulus. Laien würden den Eingriff auf Küchentischen und in Kellern
> durchführen.
Bild: Ein Junge wird beschnitten: Das Kölner Landgericht hat die Zirkumzision …
taz: Herr Ulus, für gläubige Juden und Muslime ist die Vorhaut ein Teil
ihres Körpers, der entfernt gehört. Was ist die Vorhaut für Sie als
Mediziner?
Hikmet Ulus: Die Vorhaut ist ein Organ, welches vor Tausenden von Jahren
für die Männer notwendig war. Die meisten Menschen lebten draußen unter
unhygienischen Bedingungen und brauchten einen Penisschutz. In unserer
Gesellschaft ist die Vorhaut nicht mehr notwendig, denn durch Wärme und
Hitze bietet diese Stelle einen optimalen Ort für bakterielle Ansammlungen.
Also brauchen Männer keine Vorhaut?
Nein, brauchen sie nicht. Deswegen wird die Vorhaut weltweit entfernt,
nicht nur aus religiösen Gründen. So sind in den USA bis zu 70 Prozent der
Männer beschnitten, aus ästhetischen und hygienischen Gründen. Sogar
US-Präsident Barack Obama empfiehlt die Beschneidung, genauso wie die
Weltgesundheitsorganisation. Denn beschnittene Männer sind weniger anfällig
für HIV und Prostatakrebs. Frauen, die mit beschnittenen Männern schlafen,
bekommen seltener Gebärmuttermundkrebs.
Bernd Tillig, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Neugeborenenchirurgie im
Berliner Vivantes Klinkum Neukölln, sieht das anders: Zahlreiche Studien
würden belegen, dass sich dieser Eingriff eben nicht mit gesundheitlichen
Gründen rechtfertigen lasse.
Der Kollege vertritt eine Minderheitsmeinung. Wie gesagt, nicht ohne Grund
werden in den USA fast 70 Prozent der Männer beschnitten. Wäre dies nicht
sinnvoll, würde doch kein Arzt dort diesen Eingriff vornehmen und ein
Rechtsrisiko eingehen. In den USA wurde vor einigen Jahren eine Studie an
20.000 beschnittenen Männern durchgeführt, das Ergebnis ist eindeutig: Die
Zirkumzision bringt nur Vorteile.
Wie viele Jungen beschneiden Sie pro Woche?
Bei bis zu 20 Jungen – aus medizinischen und nicht medizinischen Gründen –
muss ich pro Woche die Vorhaut entfernen.
Vergangene Woche hat das Kölner Landgericht religiös bedingte
Beschneidungen als „rechtswidrige Körperverletzung“ bewertet, die das
Selbstbestimmungsrecht der Kinder verletzten. Was halten Sie von diesem
Urteil?
Es ist ein Angriff gegen die Religionsfreiheit und eine Rückentwicklung.
Wir türkischen Mediziner haben jahrelang für die religiös begründete
Beschneidung gekämpft, und jetzt dieses Urteil.
Ist die Beschneidung von kleinen Jungen für Sie als Kinderchirurg denn
ausschließlich eine religiöse Pflicht, die Sie nicht hinterfragen? Oder
spüren Sie auch einen inneren Konflikt, weil die Kinder ungefragt einem
operativen Eingriff ausgesetzt werden?
Es handelt sich ganz klar um eine religiöse Pflicht, die ich als Muslim und
als Arzt auch für richtig befinde. Trotzdem beschneide ich muslimische
Kinder nicht, wenn diese unter einem Jahr sind und religiöse Gründe die
Eltern zu diesem Eingriff bewegen. Ich halte das für ethisch kaum
vertretbar.
Wie sieht es bei jüdischen Kindern aus? Die sollen nach religiösen Vorgaben
am achten Tag nach der Geburt beschnitten werden.
Selbstverständlich respektiere ich das, aber ich behandle auch diese Kinder
erst, wenn sie das erste Lebensjahr vollendet haben. Ich muss diese
Eingriffe auch vor mir selbst rechtfertigen können.
Bei Muslimen gibt es keine religiös vorgeschriebene Altersbegrenzung für
eine Vorhautentfernung. Warum warten die Eltern nicht einfach, bis ihre
Kinder allein entscheiden können?
Je länger man wartet, desto schmerzhafter wird es. Außerdem sind nicht
beschnittene Jungen aus den betroffenen Kulturkreisen Mobbing ausgesetzt.
Sie können sich in der Heimat ihrer Eltern nicht ausziehen, sie werden
diskriminiert und sozial ausgegrenzt. Für einen 15-jährigen Jungen ist das
eine Qual.
Eine Beschneidung ist ein operativer Vorgang, der immer Risiken birgt.
Diese könnten sich aber vermeiden lassen …
Diese Frage stellt sich nicht. Denn für Gläubige muss eine Beschneidung
sein. Ich bin kein strenger Verfechter von Beschneidungen. Aber sollte
diese Praxis verboten werden, dann werden die Eltern zu Laien gehen, zu
Hinterhofbeschneidern, die keine medizinische Ausbildung haben und die
Vorhaut auf dem Küchentisch oder in Kellerräumen entfernen. Es sind keine
Anästhesisten und Pflegeschwestern dabei, die Zustände katastrophal, und
die Folgen können fürchterlich sein.
Welche Konsequenzen könnten möglicherweise auftreten?
Es gibt Jungen, die können nach solch einem Eingriff nicht mehr urinieren
oder haben einen strangulierten Penis. Deswegen brauchen wir rasch
Rechtssicherheit. Sonst werden illegale Praktiken gefördert, wir Mediziner
müssen dann die Fehler korrigieren – auf Kosten der Krankenkassen.
Ist der Schnitt am Gemächt aber nicht tatsächlich ein tiefer Eingriff in
die Freiheit und die Selbstbestimmung des Individuums?
Entschuldigen Sie bitte, die Taufe überlassen Sie doch auch nicht Ihrem
Kind.
Da wird auch nicht operiert.
Wir sollten uns nicht auf die Operation konzentrieren, sondern diese als
Bestandteil des Glaubens sehen, der auch noch medizinische Vorteile mit
sich bringt.
Können Muslime und Juden die Beschneidung nicht einfach zeitlich
verschieben und es bei einem symbolischen Ritus belassen, beispielsweise
einem kleinen Stich?
Diese Tradition ist tausende Jahre alt, sie gibt es in allen
Weltreligionen. Auch Jesus Christus war beschnitten. Für Juden und Christen
ist es ein Gottesbefehl, für Muslime ist es eine Empfehlung des Propheten,
die auch als Gesetz gilt.
Aber Sie werden doch zugeben, dass etwas nicht richtig sein muss, nur weil
es schon immer so war. Und sollte Gott überhaupt eine Rolle spielen bei
medizinischen Eingriffen?
Ich nehme keine Beschneidungen als medizinische Kassenleistungen vor, das
wäre auch verboten. Es ist ja keine Krankheit, die ich behandele. Die
Eltern müssen für den Privateingriff zwischen 150 und 900 Euro zahlen.
Dennoch: Ist diese Tradition überhaupt noch zeitgemäß?
Gegenfrage: Wie zeitgemäß ist es, ein kleines Kind an den Füßen
festzuhalten und mit dem Kopf ins Wasser zu halten? Wie zeitgemäß sind
Kirchensteuern? Ich respektiere all dies, ich akzeptiere den Glauben so,
wie er ist.
Wenn Sie sagen, der Glaube sei, wie er sei, dann könnte man für Traditionen
auch so argumentieren. Heißt das dann, dass auch weibliche Beschneidungen
zu rechtfertigen sind?
Diese Frage kann man keinem Arzt oder Gläubigen stellen, sie ist eine
Unverschämtheit. Denn weibliche Beschneidungen haben absolut nichts mit dem
Islam oder Glauben im Allgemeinen zu tun. Es geht nur darum, Frauen zu
unterdrücken und männliche Macht auszuüben. Deswegen werden diese Frauen
verstümmelt.
2008 rieten die Ärzte Hans-Georg Dietz, Maximilian Stehr und der Jurist
Holm Putzke von Beschneidungen ohne medizinische Notwendigkeit ab. Das
Entfernen der Vorhaut sei „eine Verletzung der körperlichen
Unversehrtheit“, bei der sich der Operateur wegen Körperverletzung strafbar
machen könne …
Wir können nicht in dieser Form über einen Glauben diskutieren. Ein Glaube
ist so, wie er ist. Ich als Muslim weiß, dass die Beschneidung ein Muss
ist. Wenn so argumentiert wird, frage ich mich, was mit dem Ohrlochstechen
bei Kindern ist. Ist das auch eine Körperverletzung?
Werden Sie nach dem Kölner Urteil mit den Beschneidungen aufhören?
Bis keine Rechtssicherheit herrscht, werde ich keine Behandlungen wegen
religiöser Motive vornehmen. Ich habe schon vereinbarte Termine abgesagt.
Hunderte von Beschneidern in Deutschland reiben sich jetzt vor Freude die
Hände.
3 Jul 2012
## AUTOREN
Cigdem Akyol
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