| # taz.de -- Religiöse Riten in der Praxis: Beschneidungen und andere Traumata | |
| > Der irakische Schriftsteller Najem Wali war zwölf, als er in seiner | |
| > Heimat Amara unters Messer kam. Für die taz erinnert er sich, wie das | |
| > damals vor sich ging. | |
| Bild: Worüber viele nicht offen reden wollen/können/dürfen/sollen. | |
| Immer, wenn ich von Beschneidung höre, kommen mir drei Geschichten in den | |
| Sinn. Die erste ist vielleicht eine Mischung aus Kitsch und Folklore, die | |
| zweite eine der puren Grausamkeit, während die dritte die Verstümmlung | |
| einer Seele darstellt. | |
| Ich erinnere mich noch an den Laden und seinen Besitzer. „Barbiersalon | |
| Qâsim“, so stand auf einem Holzschild am Eingang des Ladens. Ich kannte | |
| Qâsim schon als Kind. Qâsim war ein Mann in den Sechzigern. Man erzählte, | |
| dass er als Erster einen Barbiersalon im Ort eröffnet hatte, nachdem er die | |
| Kontrollen durch die Polizei und die örtlichen Ordnungsbeamten satt hatte. | |
| Jahrelang hatte er sein Barbiergeschäft auf der Straße betrieben, auf einer | |
| Bank in der Nähe des Flusses oder auf einem Stuhl in einem Café. Seine | |
| Kunden – die meisten waren Greise – saßen an der freien Luft, wo sie oft | |
| von Jugendlichen gestört wurden. | |
| Als man anfing über Hygiene und alles, was an Vorsichtsmaßnahmen damit | |
| einherging, zu sprechen, musste er sich neue Geräte anschaffen und einen | |
| Laden suchen. Nicht zuletzt unter dem Druck seiner Frau entschloss sich | |
| Qâsim, ein kleines unmöbliertes Geschäft am Eingang zum Sûq zu mieten, an | |
| der Straße, die zur Schule führte. | |
| Er kaufte einen gewöhnlichen Sessel (ohne verstellbare Rückenlehne) und | |
| stellte ihn vor eine Wand, an der ein Spiegel mittlerer Größe angebracht | |
| war. Davor brachte er ein Tischchen an, auf dem er seine Geräte ablegte – | |
| seine alten Utensilien, unter denen sich natürlich auch ein Fläschchen | |
| Kölnischwasser befand, dessen Duft bis auf die Straße drang. Das Sofa, auf | |
| dem seine Kunden und pensionierten Freunde Platz nahmen, hatte er von zu | |
| Hause mitgebracht. | |
| Bei all meinen Besuchen in dem Salon, sei es um meine Haare von ihm | |
| schneiden zu lassen, oder um meinen Großvater dorthin zu begleiten, weil | |
| der Salon für ihn ein Treffpunkt war, hatte ich gemischte Gefühle. | |
| Einerseits ein angenehmes, andererseits ein beängstigendes Gefühl. | |
| Angenehm, weil ich es schön fand, dorthin zu gehen, um meine ersten Zuhörer | |
| zu begeistern. Denn die alten Leute, die dort zum Plaudern saßen, | |
| entdeckten früh meine Lust zu erzählen. Dorthin zu gehen, bedeutete für | |
| mich eine Gelegenheit, meine Erzählungskünste auszuprobieren, Geschichten | |
| zu erzählen, die in der Mehrzahl von mir erfunden wurden, was bei den | |
| Greisen erstaunlicherweise auf Aufmerksamkeit stieß, ja ihnen sogar Freude | |
| bereitete. | |
| Andererseits hatte ich immer Angst, dass mir passieren würde, was zwei | |
| meiner Onkel väterlicherseits passiert ist. Sie starben kurz nach ihrer | |
| Beschneidung. Und bei wem? Bei Qâsim. | |
| Früher hatte Qâsim nicht nur das Barbiergeschäft betrieben, sondern auch | |
| Knabenbeschneidungen vorgenommen. Er war besonders stolz darauf, die | |
| meisten Männer, die später einen Rang in der Gesellschaft oder in der | |
| Verwaltung eroberten, beschnitten zu haben. | |
| Auch rühmte er sich dessen bei jeder Gelegenheit vor seinen | |
| Rentner-Freunden, die seinen Laden immer mehr zu einem Ort der politischen | |
| Diskussion machten, obwohl er ein Pappschild aufgehängt hat, auf dem in | |
| krakeliger Schrift politische Gespräche verboten wurden. | |
| Klar, weder meine Großeltern, noch jemand anderer sprach von Qâsims Schuld | |
| am Tod meiner Onkel. Man sagte, sie seien an Entzündungen gestorben, sie | |
| hätten Fieber gehabt und schließlich war dies der Wille Gottes und nicht | |
| etwa die unhygienischen Bedingungen ihrer Beschneidung, oder die nicht | |
| desinfizierten, ja primitiven Geräte. Ich war noch nicht beschnitten, als | |
| mein Großvater mich zum „Barbiersalon Qâsim“ mitnahm und hatte Angst, dass | |
| ich zur Beschneidung bei ihm lande. Damals wusste ich nicht, dass er dies | |
| gar nicht mehr betreiben durfte. | |
| ## Eine Folter für Gott | |
| Am Abend, an dem mein Vater mich zu dem berühmtesten Chirurgen der Stadt | |
| brachte, teilte er mir in diesem Moment mit, dass ich beschnitten würde und | |
| dieses Ereignis nicht aufgeschoben werden könne. Ich war schon zwölf Jahre | |
| alt, und mein Vater hatte lange gewartet, dass ich einen Bruder haben | |
| würde, mit dem ich feierlich gemeinsam beschnitten würde. Stattdessen kamen | |
| hinter mir drei Mädchen zur Welt. Najem ist alt geworden, sagte man zu | |
| meinem Vater. | |
| Ich wusste, dass ich früher oder später beschnitten werden musste, aber | |
| trotzdem war ich überrascht und bedauerte den drohenden Verlust meiner | |
| Vorhaut, mit der ich vor meinen Freunden angegeben hatte. Ich fühlte mich | |
| anders, und auf dieses Privileg wollte ich nicht verzichten. Aber ich | |
| musste beschnitten werden. Es gab keinen Ausweg. | |
| An jenem Abend fragte ich meinen Vater, ob der Arzt mich betäuben würde, | |
| und er antwortete, dass dies selbstverständlich sei. Doch der Arzt betäubte | |
| mich nicht. Ich erinnerte mich noch heute an die Szene: Als ich auf dem | |
| Bett lag, ergriff mein Vater mich bei den Armen, ein Kumpel meines Vater | |
| bei den Beinen, und dann begann auch schon die Schere des Arztes an meiner | |
| Vorhaut herumzuschnippeln. Die Küsse meines Vaters waren der einzige Trost. | |
| Aber nein, es war keine Beschneidung, es war meine erste Begegnung mit der | |
| Folter. Ich habe geschrien, aber vergeblich. Mein Schrei ging in den Tränen | |
| unter, die mir über das Gesicht liefen. | |
| Und dann sah ich ihn: An der herabbaumelnden Kette des Arztes sah ich einen | |
| ans Kreuz genagelten Christus hängen. Mein Schmerz ließ nach, als ich an | |
| die Nägel dachte, die den gekreuzigten Körper vor mir durchbohrten, denn | |
| ich spürte nur einen einzigen Nagel, der meinen Penis zerfetzte. Plötzlich | |
| wurde mir bewusst, dass der Mann Sûrîn Salîbâ war, der bekannteste | |
| christliche Chirurg der Stadt. War Sûrîn ein Judas? Oder sah Sûrîn einen | |
| Judas in meiner Vorhaut? | |
| Ich fand viele Jahre keine Antwort auf diese Fragen, aber eine Gewissheit | |
| überwältigte mich an jenem Abend: Um Gott zu gefallen, musste ich gequält | |
| werden – auf der Liege in Doktor Sûrîns Praxis. | |
| Das war für mich der Moment, in dem die Religionen einander zu ähneln | |
| begannen, und es fiel mir ab da zunehmend schwerer, sie | |
| auseinanderzuhalten. Alles hatte sich unter meinen Schenkeln gesammelt und | |
| sie besudelt. In jenem Moment wurde mir bewusst, dass jede Macht auf Angst | |
| und Folter basiert, und als Sûrîn meine Vorhaut durchtrennte, kappte er | |
| meinen Bezug zu allen Religionen und zu jeder Art von Macht. | |
| ## Die „wahre“ Geschichte | |
| Alle haben sich gewundert, als sie hörten, dass unser Freund „K“ diesmal | |
| gezielt eine Frau aus Ägypten geheiratet hat. Keiner wusste den Grund, ich | |
| eingeschlossen, bis ich „K“ in London traf. Es war spät nachts, als er mir | |
| seine Geschichte erzählte, „die wahre“, wie er mir versicherte. | |
| Ich kann mich weder an die Zahl der Gläser Whisky, die wir getrunken haben, | |
| genau erinnern noch an die Zahl der Zigaretten, die wir geraucht haben, | |
| besonders er. Aber ich kann mich sehr gut an seine Worte erinnern, an den | |
| Schmerz, der auf seinem Gesicht zu sehen war, während er mir seine „wahre“ | |
| Geschichte erzählte. | |
| Ich kannte „K“ seit meiner Jugend, seit der Universitätszeit in Bagdad. Er | |
| hatte zweimal geheiratet. Das erste Mal im Irak. Das zweite Mal in seinem | |
| Londoner Exil. Seine erste Frau, die Irakerin, blieb nicht lange bei ihm. | |
| Nach einem Jahr „glücklicher“ Ehe nach außen, aber „der Hölle“ in de… | |
| Wänden, ließ sie sich scheiden. Seine zweite Frau, die Engländerin, lief | |
| ihm ebenfalls weg. Erst nach zwei Jahren – immerhin. Bei beiden Scheidungen | |
| war Sex der Grund. | |
| „K“ hatte immer Probleme beim Sex. Er konnte mit keiner Frau richtig | |
| schlafen. Der Sexualakt verwandelte sich für ihn stets in ein | |
| Höllenszenario. Immer, wenn er es wieder versuchte, ist er gescheitert. Er | |
| ist noch später beschnitten worden als ich, erst mit 13 Jahren. Zwei Jahre | |
| musste er nachbehandelt werden. Ein Stück der Vorhaut ist zurückgeblieben. | |
| Er musste erneut beschnitten werden, zweimal. Danach war die Wunde | |
| entzündet. Er litt auch beim Urinieren, ein Brennen hat ihn sein Leben lang | |
| begleitet. Es ist diese Angst, die wie ein Graveur seine Marke hinterließ, | |
| in seiner verstümmelten Seele. | |
| Und es ist diese Angst, die bei ihm zu einer Art Kastration geführt hat. | |
| Dabei sprach „K“ nie von sich selbst. Er sprach natürlich im Namen von | |
| vielen beschnittenen Männern. Viele, die spät beschnitten worden sind, | |
| leiden unter dem gleichen Gefühl. Sie fühlen sich wie kastriert, weil sie | |
| mit eigenen Augen sehen mussten, wie man ihre männliche Zone verletzt, ja | |
| verstümmelt. Es ist ein nicht zu überwindendes Trauma bei vielen, über das | |
| sie nicht offen reden wollen/können/dürfen/sollen. | |
| So diktiert es ihnen auf jeden Fall die herrschende Doppelmoral der | |
| Religion, seien sie Muslims, seien sie Juden. Deshalb reden sie weder über | |
| dieses Erlebnis noch über Sexualität. Früher musste man vier Frauen | |
| heiraten, um zu beweisen, dass man ein richtiger Mann ist. Heute entdeckte | |
| man die Waffe als Ersatz für seine kastrierte Sexualität. Gewalt und | |
| Sexualität gehören zusammen. | |
| Putin hat einmal den muslimischen tschetschenischen Kämpfern mit der | |
| Beschneidung ihrer Glieder, ihres ganzen Glieds, gedroht, als Strafe! „Wir | |
| haben die besten Chirurgen, die ihre Penisse abschneiden würden“, sagte er | |
| in einer im Fernsehen übertragen Pressekonferenz nach einer | |
| Bombenexplosion. Auf der anderen Seite denken Selbstmordattentäter an die | |
| 77 Jungfrauen im Paradies. | |
| „K“ gehörte aber nicht zu dieser Sorte von Macho-Angebern. Er suchte nach | |
| einer „richtigen“ Lösung: Er dachte, eine ägyptische Frau zu heiraten, | |
| würde seinem Problem ein Ende bereiten. Ägyptische Frauen werden oft | |
| beschnitten, auch wenn hier das Wort Beschneidung nicht unbedingt zutrifft. | |
| Man muss eher sagen: Ägyptische Frauen werden verstümmelt. Und je mehr man | |
| in den Süden fährt, desto grausamer wird die Verstümmelung. | |
| In Südsudan, in Somalien oder in Äthiopien erleben die Mädchen sehr früh | |
| diesen grausamen Eingriff. Dies zeigt auch, dass Beschneidung nicht nur mit | |
| Religion zu tun hat, bei den Frauen zumindest. Denn selbst christliche | |
| Frauen werden in Ägypten beschnitten. | |
| Was die Beschneidung von Jungs betrifft, so gibt es keine Stelle im Koran, | |
| die dies empfiehlt. Ich weiß nicht, wie es bei den Juden ist. Interessant | |
| ist aber, dass auch dies eine von vielen Gemeinsamkeiten der beiden | |
| verfeindeten Religionen ist, wie etwa das Verbot von Schweinefleisch, oder | |
| – bei den Orthodoxen – die Heirat mehrerer Frauen oder das Tragen eines | |
| Kopftuches. Es sind Rituale, die zu alten Zeiten gehören, durch die die | |
| Religionen über Menschen Macht gewinnen. | |
| Im „wahren“ Leben ist aber alles anders. Mein Freund „K“, der dachte, e… | |
| Lösung gefunden zu haben, bekam ein neues Problem, die Verstümmlung der | |
| Genitalien seiner Frau. „Stell es dir vor“, sagte er mir, „du siehst | |
| jemanden ohne Nase oder mit drei Ohren.“ Es hat eine Weile gedauert, bis er | |
| sich an die neue Lage gewöhnt hatte. Auf meine Frage, wie es denn | |
| weitergehen werde, antwortete er, „Wir sind durch ein Verbrechen vereint“, | |
| deshalb müsse die Ehe halten. | |
| Ich weiß nicht, welche Auswirkung das Urteil des Kölners Gerichts haben | |
| wird, aber ich weiß, dass die Religionen mit Klauen und Zähnen kämpfen | |
| werden, um weiter ihre Grausamkeiten an den Menschen auszuüben. Es geht für | |
| sie um ihre Macht. Letztendlich ist es ihnen egal, welche Verstümmlung sie | |
| in den Seelen von Millionen von Menschen hinterlassen, und es spielt keine | |
| Rolle, ob die Menschen dies freiwillig über sich ergehen lassen oder nicht. | |
| Die Macht der Religionen wird weiter regieren. | |
| 3 Jul 2012 | |
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