# taz.de -- Berliner Rentner besetzen Villa: Senioren-Occupy | |
> Rebellen aus der Stillen Straße: Weil ihr Freizeitclub geschlossen wurde, | |
> halten zwanzig Berliner Rentner ihre Villa besetzt. Der grüne Stadtrat | |
> ist vom Widerstand überrascht. | |
Bild: Eine „ernstzunehmende Kraft“: Seit dem 29. Juni halten Rentner den Se… | |
BERLIN taz | Da, wo Margret Pollack bis vor einer Woche noch Bridge | |
spielte, oben im Dachzimmer der alten Villa, steht jetzt ihr | |
Zahnputzbecher. In der Ecke eine Klappliege mit Pollacks Schlafsack, eine | |
kleine Tasche. Das war’s an Besetzerproviant. Der Bezirk hätte das wissen | |
können, sagt die frühere OP-Schwester. | |
Seit vier Jahren besucht Pollack die Villa, den Seniorenfreizeittreff | |
„Stille Straße“, ist dort Mitglied der Gymnastikgruppe. Die 67-Jährige | |
lächelt keck, umklammert ein Glas Apfelsaft. „Wir haben ja lange genug | |
gesagt, dass wir besetzen, wenn man uns schließt.“ | |
Die Pankower Bezirksspitze hörte nicht auf Pollack und ihre Rentnerfreunde, | |
und so beschlossen SPD, Grüne und Piraten im März die Schließung der | |
„Stillen Straße“. Man habe kein Geld, das Haus soll verkauft werden. Jetzt | |
ist Pollack Besetzerin. | |
Für Berlin, reich an Besetzerhistorie, ist das eine Premiere. Rund zwanzig | |
Rentner, fast alles Damen zwischen 67 und 82 Jahren, die ein Haus, ihren | |
Seniorentreff, besetzen – das hat es auch in der Hauptstadt noch nicht | |
gegeben. Ganz überraschend kommt es dennoch nicht, denn Ruheständler | |
mischten zuletzt auch beim Protest gegen Fluglärm oder hohe Mieten rege mit | |
– und das mit Erfolg. | |
## „Hände weg!“ | |
Das Epizentrum des nun radikalsten Seniorenwiderstands liegt in einer | |
Villengegend im Nordosten Berlins. Alte Residenzen der DDR-Elite, | |
Botschaften, ein kameraüberwachter Tennisplatz. Vögel zwitschern, kaum ein | |
Auto verirrt sich hierher. Seit Freitag ist das anders. Seitdem hängt am | |
Zaun der Nummer 10 ein Transparent: „Dieses Haus ist besetzt.“ Und: „Hän… | |
weg!“ Seit der Besetzung reißt der Strom der Neugierigen nicht ab. | |
In der grau verputzten Villa laufen die Rentner das knarzende Parkett hoch | |
und runter, vorbei an Pressspankommoden und selbstgemalten | |
Blumen-Aquarellen. Journalisten laufen hinterher, Kameras filmen | |
Häkeldecken im Canasta-Raum oder die Veranda hinterm Haus, mit Blick auf | |
Birn- und Apfelbäume. Immer wieder kritzeln Besetzer Termine in den | |
Protestplaner neben der Küche. Mittwoch, 16 Uhr Anwälte-Besuch, 17 Uhr | |
Chorprobe. | |
Keine fünf Minuten, ohne dass das Telefon klingelt. Regelmäßig treten | |
Unterstützer durch die offene Haustür. Ob man helfen könne? Einige bringen | |
Erdbeeren, andere Eier oder Schokolade. In der Küche schnippelt ein | |
rundlicher Mann der Linkspartei Gemüse für eine Linsensuppe. Mit dem Haus | |
habe er nichts zu tun, sagt er. Das Kochen aber sei sein Beitrag für die | |
„tolle Aktion“. „Man muss sich nicht jeden Scheiß gefallen lassen.“ Ein | |
72-jähriger Besetzer verabschiedet zwei Gäste. „Danke, empfehlen Sie uns | |
weiter!“ | |
Zwischen all dem steht Doris Syrbe, fasst sich an den Kopf, bläst die | |
Wangen auf. „Ufff“, entfährt es ihr, dann gibt sie das nächste Interview. | |
Syrbe, 72 Jahre, rotgefärbe Locken, blauer Lidschatten, ist Vorsitzende des | |
Seniorenvereins. Gut 300 Rentner gehören dazu. Sie treffen sich hier zu | |
Brettspielen, Gymnastik oder Sprachkursen. Jetzt ist Syrbe die Wortführerin | |
der Besetzer. | |
## Internationale Unterstützung | |
Natürlich haben einige Angst gehabt, sagt Syrbe. „Aber die Besetzung war | |
goldrichtig. Mehr Unterstützung hatten wir noch nie.“ Man merkt, wie ihr | |
der Trubel zusetzt. Syrbe wirkt gehetzt – aber nicht unglücklich. Auch die | |
anderen strahlen, wenn sie Besuchern von ihrem Coup berichten. Sie genießen | |
ihre neue Rolle: Besetzer statt Canasta-Truppe. Ein Abenteuer. | |
Sie haben den Bezirk unter Druck gesetzt, nur indem sie blieben. Jetzt | |
besuchen Bundestagsabgeordnete die Senioren, Politinitiativen bejubeln ihre | |
Chuzpe. Junge Mietenaktivisten brachten Matratzen und Decken vorbei. Eine | |
autonome Wagenburg übermittelte Solidaritätsgrüße. Im Haus füllt sich ein | |
gelbes Unterstützerbuch. „Bleibt stark!“ „Kämpft weiter!“ Selbst zwei | |
Touristen aus Rotterdam haben sich hierher durchgeschlagen und eingetragen. | |
Im Bezirksamt, ein Dreietagenneubau, lässt Jens-Holger Kirchner lange | |
Pausen entstehen, bevor er antwortet. Der grüne Vizebezirksbürgermeister | |
weiß um seine Lage. Wie, bitte, soll man eine Gruppe Großmütter räumen, | |
ohne am Ende als Verlierer dazustehen? „Der Protest überrascht uns nicht“, | |
sagt Kirchner. „Die Art und Weise schon.“ Der 52-Jährige berlinert etwas, | |
war früher Tischler, heute trägt er meist Jackett und Hemd. Seit sechs | |
Jahren ist Kirchner Bezirksrat für Stadtentwicklung, die letzten Monate | |
hielten ihn auch die Senioren aus der Stillen Straße auf Trab. „An der | |
Haltung des Bezirks hat sich nichts geändert“, sagt Kirchner. Die Polizei | |
lasse man erst mal außen vor. | |
2,5 Millionen Euro, sagt Kirchner, so viel würde die Sanierung kosten, | |
Brandschutz, Barrierefreiheit. „Das haben wir einfach nicht.“ Zudem habe | |
man allen Seniorengruppen Ausweichorte angeboten. Keiner müsse zu Hause | |
bleiben. Plötzlich wird der Grüne energisch. Jetzt mal ehrlich, was solle | |
sein Bezirk denn machen? Seit Jahren bekomme man immer weniger Geld vom | |
Land. Mehrere Millionen Euro habe man zuletzt wieder sparen müssen, habe | |
noch Bibliotheken und Kultureinrichtungen von der Streichliste gerettet, | |
ein Bezirksamt verkauft und Straßenbaugelder in Schulen gesteckt. „Das ist | |
hier die Realität.“ | |
## Kämpfen bis zum Schluss | |
In der Stillen Straße schütteln sie die Köpfe. „Alles vorgeschoben“, sag… | |
die Rentner. Überall werde Geld verschleudert, kritisiert Doris Syrbe. | |
Allein die geplatzte Eröffnung des Berliner Großflughafens koste 500 | |
Millionen Euro. „Nur für die Alten ist nichts da?“ Ute Kölbel, 72 Jahre u… | |
Sportlehrerin im Klub, berichtet, ihr habe der Bezirk andere Räume | |
angeboten. „Harte Fliesenböden, keine Umziehräume, alles mit Tischen | |
zugestellt, irrsinnig.“ Syrbe macht ein ernstes Gesicht, hebt die linke | |
Augenbraue. Der Seniorentreff sei eine gewachsene Gemeinschaft. „Die werden | |
wir nicht kampflos auseinanderreißen lassen.“ | |
Als in den letzten zwei Jahren Berliner gegen Fluglärm rebellierten, | |
befragten Sozialwissenschaftler der Universität Göttingen die | |
Demonstranten: Über 70 Prozent von ihnen waren älter als 45 Jahren, jeder | |
fünfte war Rentner. Fast alle sagten, sie seien gut situiert, gebildet und | |
Stadträndler. Wie jetzt in Pankow. Auch das Berliner Volksbegehren gegen | |
hohe Wasserpreise wurde vielfach von Ruheständlern getragen. Und in | |
Kreuzberg, am Kottbusser Tor, harren Anwohner nun seit fünf Wochen in einem | |
Camp gegen steigende Mieten aus, darunter nicht wenige Senioren. | |
Neu ist der Widerstand der Alten nicht in Berlin. Eher schon sein Erfolg, | |
der den der Studenten und Autonomen bisweilen überflügelt. Nach den | |
Fluglärm-Demos wurden fast alle Flugrouten in Schönefeld noch einmal | |
geändert. Das Wasser-Volksbegehren wurde das erste erfolgreiche überhaupt | |
in der Stadt. | |
Auch die Truppe in der Stillen Straße ist kampferprobt. Die Senioren | |
protestierten im Bezirksparlament, führten im April eine Demonstration | |
gegen Sozialkürzungen an. Vielleicht hilft ihnen auch ihre Vergangenheit. | |
Fast alle Besetzer kommen aus der DDR. Die verordnete bekanntlich die | |
emanzipierte, politische Frau. Aber auch das Verordnete wirkt nach. Und | |
gewiss kein Zufall, dass sich als erste Partei die Linke solidarisierte. | |
## Das Haus nie alleine lassen | |
Vor drei Jahren mussten die Pankower Alten schon einmal um ihr Haus | |
kämpfen. Auch damals fehlte Geld, auch damals machten die Rentner Rabatz. | |
Am Ende blieb das Haus offen. Und die Sozialstadträtin, Lioba | |
Zürn-Kasztantowicz, sagte, es sei immer ihr Anliegen gewesen, die gute | |
Arbeit der Ehrenamtlichen zu erhalten. Heute verweist Zürn-Kasztantowicz | |
wieder auf das fehlende Geld. Sie müsse an alle im Bezirk denken, sagt die | |
59-Jährige, seit Jahrzehnten Sozialdemokratin. „Nicht an die, die am | |
meisten Trubel machen.“ | |
Zürn-Kasztantowicz hat die Senior-Besetzer für Dienstag ins Bezirksamt | |
eingeladen. Die lehnen ab. „Wer weiß, was dann mit dem Haus passieren | |
würde“, argwöhnt eine 73-jährige, frühere Kita-Chefin. Stattdessen haben | |
die Rentner die Bezirksspitze in die Stille Straße eingeladen. Zum Freitag, | |
dem einwöchigen Jubiläum der Besetzung. | |
Es sind die Senioren, die jetzt die Agenda bestimmen. Man werde bleiben, | |
bis das Haus gerettet sei, sagen sie. Man habe Zeit. Wenn es nicht anders | |
geht, werde sie sich auch von der Polizei forttragen lassen, sagt | |
Sportlehrerin Kölbel. Die Senioren, sagt Jens-Holger Kirchner, der Grüne, | |
seien im Bezirk „eine ernstzunehmende Kraft“. Das habe man schon länger | |
gewusst. | |
Doris Syrbe, die Besetzerin, quittiert solche Aussagen mit leichtem | |
Lächeln. Die Alten, sagt sie, seien eben nicht mehr wie vor dreißig Jahren. | |
„Stricken und hinterm Herd, das war mal.“ Politisch, betont die 72-Jährige, | |
sei man schon immer. Nur hätten bisher Trillerpfeifen und Demos gereicht. | |
Nun müsse man eben besetzen. „Also besetzen wir.“ | |
5 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Konrad Litschko | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Hausbesetzung | |
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